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10

Jo durchwanderte ihr Haus.

Sie hatte die Mädchen fortgeschickt, denn es war ein Feiertag; Glocken warben von allen Türmen.

Schon seit dem Morgen hatte Jo das Gefühl, daß dieser Tag etwas Besonderes von ihr verlangen würde. Sie war davon erwacht, daß ihr Herz gleichsam ein Rufzeichen bekommen hatte – einen feinen, summenden Schlag, dem sie lange betroffen nachhorchen mußte. Sie kannte diesen zarten Alarm ihres Herzens. Es rief ein Mensch nach ihr, ein Mensch, der sie brauchte. Welche Ferne suchte ihre Nähe, suchte Gemeinschaft mit ihr?

Sie ging durch ihr Haus, das sie ›Glück‹ genannt hatte, als bespräche sie sich mit einem Verbündeten. Sie streichelte die guten Mauern und das wesennahe Holz in einem immer neuen, guten Besitzergreifen. Sie sang mit leiser Stimme vor sich hin, von seligem Alleinsein ganz umsponnen.

Als sie in die Diele kam, schlug das Telefon an. Sie nahm den Hörer. Vermittelnder Eifer sagte:

»Sie werden aus Wien verlangt.«

Und Josys Stimme prallte gegen ihr Ohr:

»Ich will Frau Mannegold sprechen.«

»Hier bin ich, Josy.«

»Du –!«

Das Herz der Frau setzte aus. Sie schloß die Augen. Sie dachte: Dunkelstes Wort der menschlichen Sprache: Du –: Stärkste Beschwörung … Was will dieses ›Du –!‹ von mir? Hat das mich geweckt?

»Jo, hörst du –?«

»Ja … Grüß dich Gott, Josy!«

»Bist du allein, du –? Jo –! Bist du allein?«

»Natürlich, Josy!«

»Das ist durchaus nicht natürlich –«

»Was willst du, Josy?«

»Was ich will, lieber Gott … Ich möchte bei dir sein … Ich möchte zu dir kommen … Darf ich das?«

»Natürlich, Josy!«

»Verdammt mit deinem ›natürlich‹ –! Warum sprichst du nicht, Jo?«

»Ich warte auf das, was du mir sagen willst …«

»Sagen … ich habe dir nichts zu sagen, Jo, – nichts, was du nicht schon wüßtest …«

»Warum willst du dann kommen?«

»Ich möchte dir etwas zeigen … Etwas für Tilly … Ich habe es hier gekauft. Es soll sehr alt sein. Ich verstehe nichts davon. Darf ich's dir bringen und zeigen?«

»Natürlich, Josy!«

Er murmelte etwas, das beklemmende Ähnlichkeit mit einem Fluch hatte. Jo lächelte behutsam vor sich hin.

»Dann bin ich morgen bei dir. Ich komme im Flugzeug.«

»Gut, Josy.«

Pause. Summen. Eine ferne Stimme sagte erinnernd:

»Drei Minuten …«

»Ich spreche weiter. – Jo, bist du anders als sonst?«

»Wieso denn anders?«

»Ich weiß nicht … Du bist so – fern –«

»Ich bin wie immer, Josy …«

»Hm … Ist es dir recht, daß ich komme?«

»Natürlich, Josy!«

»Sag mal etwas anderes, Jo!« Und nach einem Schweigen: »Ich bilde mir ein, ich kann dich atmen hören … Lächelst du, Jo?«

»Ja, Josy … Ich freue mich, daß du kommst …«

»Sag das noch einmal!«

»Hast du mich nicht verstanden?«

»Doch … Danke! … Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!«

Sie legte das Telefon zurück. Der Strom war unterbrochen. Doch unhörbar war er noch da und erfüllte den Raum. Jo sah vor sich hin. ›War ich anders als sonst? Nein. Aber Josy war anders. Was ist mit Josy? Da schwingt eine neue Saite … Ich muß mich rüsten für Josy, der morgen kommt. Was aber will das Heute noch von mir?‹

Als sie den Weg durch ihr Haus fortsetzen wollte, war die Melodie verloren, die sie gesungen hatte, und sie konnte sie nicht wiederfinden. Der Tag war verändert. Er hatte ein neues Gesicht.

Aufhorchend hob sie den Kopf.

Ein Mensch kam durch den Garten auf das Haus zu gelaufen. Er lief wie ein junger Sturm. Jo kannte ihn nicht. Sie sah ihm durch die Tür zum Garten entgegen.

Was für ein seltsamer Zorn stob da zu ihr her! Was für Erbitterung und was für ein schwerer Entschluß! Eine sechzehnjährige Not mit blaßbraunem Gesicht, mit Augen voll traurigem Haß und verratenem Munde – mit einem Munde, den man gezwungen hatte, ein Gift zu trinken, das ihn für immer verzerrte –, das flog auf das Haus zu und nahm die Treppe vom Garten mit einem einzigen Sprung und stand atmend da, den Raum mit sonnegeblendeten Augen durchsuchend.

Jo sagte freundlich:

»Sie wollen gewiß zu mir …«

Er fuhr herum. Dieser fliegende Atem war nicht sofort zu bändigen; auch der härteste Wille konnte das junge gehetzte Herz nicht hindern, wie toll in der Kehle zu schlagen. Und es schien, als schlüge dieses gehetzte Herz auch in den Augen des Jungen, als er zu sprechen begann.

»Ja«, stammelte er, »zu Ihnen …« und fügte schluckend hinzu, in einem Ton, als sei damit alles erklärt: »Ich bin Peter Hünemann …«

»Wer ich bin, werden Sie wissen«, sagte Jo. »Bitte, nehmen Sie Platz!«

Er schüttelte den Kopf so heftig, daß die starken blonden Haare ihm in die Augen fielen. Er strich sie fort.

»Ja«, sagte er. »Ich weiß, wer Sie sind! Und weil ich es weiß, werde ich von Ihnen und in Ihrem Hause bestimmt keinen Stuhl annehmen!«

Jos feine Brauen wölbten sich ein wenig.

»Warum nicht?« fragte sie mit ihrer stillsten Stimme. »Aber Sie sollten jetzt lieber nicht sprechen. Wie alt sind Sie?«

Überrumpelt antwortete ihr ein wohlerzogener Junge:

»Ich werde sechzehn …«

»Dann darf ich Sie noch Peter nennen, nicht wahr? – Sie sollten nicht sprechen, Peter, solange Ihr Herz so schlägt, daß ich seine Schläge an dem Hemd über Ihrer Brust zählen kann. Ich möchte nur, daß Sie mir eine Frage beantworten: Wer hat Sie zu mir geschickt?«

»Mich hat niemand geschickt –«

»Das ist eine große und ritterliche Lüge, und ich glaube Ihnen nicht. Mit sechzehn Jahren erstürmt man nicht das Haus einer Frau, die man nicht kennt, um ihr böse und beleidigende Dinge zu sagen – und das haben Sie doch vor, nicht wahr? Sie sollen sie mir auch sagen, ich will sie hören. Aber ich will wissen, in wessen Namen Sie sprechen, junger Peter. Wer hat Sie zu mir geschickt?«

Die hilflosen, haßvollen Augen des Jungen sahen sie an. Er zitterte vom Kopf bis zu den Füßen.

»Die Mutter – meine Mutter … der Sie den Vater gestohlen haben …!« Und, an der Doppeldeutigkeit der Worte sich verwirrend, fügte er hinzu: »... den Mann …!« Aber er schien diese armen zwei Silben nur mit einem Schauder aussprechen zu können.

»Wer ist Ihr Vater?« fragte Jo aufmerksam.

Die Knabenstimme antwortete schneidend und hohnvoll:

»Professor Dr. Andreas Hünemann … Sie scheinen den Namen nicht zu kennen, gnädige Frau …«

»Ich habe ihn eben zum ersten Male gehört.«

Der Mund des Knaben – ›was haben sie nur mit deinem Munde gemacht, mein armes Kind!‹ dachte Jo – verzog sich zur Grimasse.

»Sehr glaubhaft, gnädige Frau! Sehr glaubhaft, daß Sie nicht einmal den Namen eines Mannes kennen, der zu jeder Tages- und Nachtzeit in Ihrem Hause aus und ein geht, als gehöre er dazu – mit dem sogar Ihr Hund so vertraut ist, daß er ihm nachläuft und auf der Straße von Herrn Hünemann zurückgeschickt werden muß, damit er Sie und ihn nicht kompromittiert!«

Jo, friedlich im Stuhl am Fenster sitzend, schüttelte den Kopf.

»Was für ein antediluvianischer Ausdruck, Peter … Sie leben nicht in Berlin, wie? – Das hab' ich mir gleich gedacht … Kommen Sie, lassen Sie uns in Ruhe miteinander reden! Glauben Sie mir, junger Peter: Spion sein ist kein glückbringender Beruf –, man blamiert sich zu leicht damit, und er ist auch nicht sonderlich ehrenvoll im Privatgebrauch –«

Das Knabenantlitz überzog sich mit einer so krankhaften Blässe, daß Jo verstummte.

»Lieber ein Spion sein«, sagte er, an dem Worte würgend, »als das, was mein Vater ist …«

Jo sah ihn an. Auf ihrem nachdenklichen Gesicht erlosch das Lächeln und machte dem Kummer Platz.

»Sie hassen Ihren Vater«, sagte sie leise.

Er schwieg; aber unter seinen Augen, die man seit langem um den gesunden Schlaf seiner sechzehn Jahre gebracht hatte, zuckten die Nerven und Muskeln und die blaßbraune Haut.

»Finden Sie das nicht ein bißchen altmodisch, Peter?« fragte Jo, mit äußerster Vorsicht sprechend. »›Vaterhaß großkariert‹ ist eigentlich nicht mehr modern … Man trägt jetzt entweder ›Armer alter Mann!‹ in gedämpften Farben oder ›Hallo, alter Herr!‹ in etwas lebhafteren Mustern …«

»Sie höhnen!« sagte der verratene Mund. »Wie billig!«

»Ich höhne durchaus nicht, Peter. Ich schwatze nur, damit Sie ruhiger werden und wieder zu Atem kommen …«

»Ich brauche nicht so viel Atem, gnädige Frau, um Ihnen zu sagen, was gesagt werden muß! Vielleicht nehmen Sie mich nicht ernst, weil ich so jung bin –«

»Im Gegenteil, Peter. Ich nehme nur junge Menschen ernst. Das sind die einzigen, die es verdienen.«

»Wenn das Ihre Überzeugung ist, warum lügen Sie mich an und behaupten, Sie kennten den Namen meines Vaters nicht?!«

»Warum glauben Sie mir nicht, Peter, wenn ich Ihnen sage, ich habe ihn heute zum ersten Male gehört?«

»Hat er Ihnen vielleicht einen falschen Namen genannt?«

»Nicht einmal das –«

»Und Sie haben ihn auch nicht gefragt, wie er heißt?«

»Warum hätte ich das tun sollen, Peter?«

Sie wartete auf eine Entgegnung. Sie wartete lange. Zu dem ratlos schweigenden, unüberzeugten Knabengesicht, dessen Augen über sie wegschauten, fuhr sie mit sanfter Stimme zu sprechen fort:

»Wenn ein Mensch, den Sie nicht kennen, schutzlos in strömendem Regen vor Ihrer Tür steht – und damit, junger Peter, fing es an! –, fragen Sie ihn dann erst nach seinem Namen, bevor Sie ihn unter Ihr Dach rufen?«

Peter Hünemann schwieg.

»Und wenn der Mensch, den Sie nicht kennen, dem Rufe folgt, an Ihrem Kaminfeuer sitzt, sich trocknet und wärmt und seinen Namen nicht nennt –, aus keinem anderen Grunde, wie's Ihnen scheinen will, als um die seltene, ganz ungewohnte Kostbarkeit der Stille um sich her nicht zu zerbrechen –, würden Sie sich dann verpflichtet fühlen, den Inquisitor zu spielen und Ihrem schweigsamen Gast den Paß abzufordern?«

Peter Hünemann fuhr sich mit der Faust über die Stirn.

»Nein«, murmelte er. »Die Schuld liegt natürlich an ihm. Sie konnten nicht wissen, daß er verheiratet ist.«

»Das hätte mich auch nicht gestört, junger Peter, und außerdem: ich wußte es nicht, aber ich habe es mir gedacht. So bis auf den letzten Knochen zermalmt und zermahlen sehen nur verheiratete Männer aus.«

»Geht das vielleicht gegen meine Mutter?«

»Nein, noch nicht. Vorläufig nur gegen das System, auf das sie sich stützt und das Menschen heimlich zu fremden Türen treibt und sie zwingt, sich ein wenig Glück als Diebsgut zu stehlen …«

»Meine Mutter ist auch nicht glücklich –«

»Das kann ich mir denken. Aber ich vermute, sie gehört zu den Frauen, die ich die silbernen nenne …«

»... silberne Frauen …?«

»Ja –: Frauen, die reden. Im Gegensatz zu den goldenen Frauen, die schweigen. Es gibt auch silbervergoldete: ich, beispielsweise, bin, glaube ich, eine davon; aber das gehört nicht hierher … Die silbernen Frauen brauchen nie ganz zu verzweifeln; ihnen gab ein Gott – oder ein Teufel – zu sagen, was sie leiden. Und davon machen sie meistens ausgiebig Gebrauch. Die Luft um sie her summt von dem Wörtchen Ich. Sie wird ganz undurchsichtig durch all seine mannigfaltigen Verwandlungsformen. Die Wände dröhnen davon –, die Erde, die Welt scheinen nur noch aus Ich, Meiner, Mir, Mich zu bestehen. Der liebe Gott selber hat in seinem großen Universum keinen Platz mehr neben dem Wörtchen Ich. Haben Sie mal einen Oktopus gesehen?«

»Ja – im Aquarium …«

»Nun sehen Sie – das Wörtchen Ich ist ein Oktopus, so groß wie Europa und Asien zusammengenommen. Woran Sie auch denken, wovon Sie auch sprechen – aus dem unvermutbarsten Winkel ringelt es seine scheußlichen Saugnäpfe auf Sie zu. Es senkt sich als wolkiger Lappen über Sie, ist ein greulicher Vorhang zwischen Ihnen und allem, woran Sie sich freuen könnten, wenn Ich nicht wäre –«

»Wollen Sie meine Mutter vielleicht mit einem Oktopus vergleichen, gnädige Frau?«

»Aber Peter! – Finden Sie irgendwelche Ähnlichkeiten?«

»Natürlich nicht …«

»Nun, um so besser. Möchten Sie sich nun nicht doch endlich setzen, Peter? Ich weiß, ich weiß, Sie sind sehr böse auf mich, und es ist kein Friede zwischen uns. Aber wenn ich Ihnen verspreche, daß ich es keinesfalls als Zeichen der Schwäche oder gar der Versöhnung auffassen werde, wenn Sie von mir in meinem Hause einen Stuhl annehmen –, wollen Sie es dann tun?«

Er rührte sich nicht. Er sah hilflos gequält aus. Jo wappnete ihr Herz gegen sich und ihn.

»Hat Ihre Mutter es Ihnen verboten, Peter?«

Die Stirn voll Falten, nahm er den nächsten Stuhl. Seine mageren braunen Hände umkrampften sich.

»Sie wissen doch gar nichts von Mutter«, sagte er mit einer gewissen umschaltenden Plötzlichkeit. »Warum nehmen Sie gegen sie Partei? Ist es wahr, daß Frauen gegeneinander nicht gerecht sein können?«

»Oh, was das betrifft, junger Peter –, das liegt wohl daran, daß wir Frauen alle zur gleichen Verschwörergilde gehören und uns gegenseitig durchschauen wie Glas. Frau A wird nie begreifen, daß Mann X so dumm ist, Frau B auf den Leim zu gehen – den, nebenbei bemerkt, Frau A in ihrer weiblichen Alchimistenküche nicht um ein Jota anders kochen würde. Aber das Thema ist heikel, ich glaube, wir lassen es lieber … Und mein Parteinehmen, Peter – ist das so schwer zu verstehen? Wer hat denn im Regen vor meiner Tür gestanden – Ihr Vater oder Ihre Mutter?«

»Freilich, mein Vater – aber Sie wissen auch nicht, daß wir auf Mutters Kosten gereist sind, gnädige Frau, und daß Vater seinen Urlaub nicht hier verbringen könnte, wo es ihm anscheinend so gut gefällt, wenn Mutter nicht alles bezahlte …«

»Das ist allerdings schlimm …«

»Sie sagen das so, als sei es schlimm für Vater –«

»Sie sind sehr feinhörig, Peter.«

»Und Sie sind sehr ungerecht – ja, verzeihen Sie, gnädige Frau, Sie sind sehr ungerecht!«

»Sind Sie gerecht, Peter?«

Der Kopf des Jungen fiel in seine Hände.

»Ich weiß es nicht, mein Gott – ich weiß nur, daß Vater alle fünf Minuten zu Ihnen läuft und sich durch Sie gegen Mutter aufhetzen läßt!«

»Einen Augenblick, Peter!« sagte Jo. »Ich habe Sie heute schon einmal bitten müssen, mir etwas Unglaubwürdiges zu glauben: da handelte es sich um den Namen Ihres Vaters. Jetzt handelt es sich darum, daß ich bis zu dieser Minute nicht mehr als zwei Worte zu ihm gesprochen habe. Halten Sie es für möglich, Peter, daß ich Ihren Vater gegen seine Frau aufhetzen konnte, indem ich, ohne auch nur seine Hand zu berühren – ohne überhaupt jemals seine Hand berührt zu haben –, ›Gute Nacht!‹ zu ihm sagte?«

Die Augen des Jungen richteten sich auf die Frau und blieben auf ihr liegen. Diese überwachen, geröteten Augen, in denen die Gier nach Erkenntnis brannte, wurden zu einer fast körperlich fühlbaren, brennenden Last, gegen die sich die Frau vielleicht unmutig gewehrt hätte, wenn es nicht dennoch die unwissenden und hilfesuchenden Augen eines Knaben – wenn es nicht die Augen Peter Hünemanns gewesen waren.

Sie schob ihr Lächeln zwischen sich und ihn.

»Halten Sie das für möglich, junger Peter?«

»Ja!« sagte der Sechzehnjährige trotzig und atemlos. Es war, als zerbisse er ein Schluchzen zwischen seinen Zähnen. »Seit ich weiß, wie es klingt, wenn Sie ›junger Peter‹ sagen, seitdem halte ich das für sehr gut möglich! Aber haben Sie überhaupt Worte nötig, um zu erreichen, was Sie wollen? Sie sind ja so viel mächtiger als Mutter! Um so viel großmütiger sollten Sie auch sein! Was sucht mein Vater eigentlich bei Ihnen –?!«

»Vielleicht ein bißchen Ruhe, Peter.«

»Dies können Sie mir nicht erzählen, gnädige Frau! Nein, nein! Was er in Ihrem Hause findet, muß etwas ganz Besonderes und über alle Maßen Herrliches sein, denn seitdem – seitdem ist es, als wäre er für die Stimme, für das Schreien meiner Mutter nicht mehr zu erreichen … – in seinem Gesicht ist seitdem etwas, das mich verrückt macht –«

»Kind – Kind!«

»Was Kind –! Ich bin kein Kind mehr –!« schrie er zornig. »Ich habe meinen Vater aus Ihrem Hause kommen sehen, neulich, am Morgen – Sie standen an der Tür –, Sie haben ihm nachgesehen … Ich wußte bisher nicht, daß eine Frau einem Manne so nachsehen kann, von dem sie nicht einmal den Namen weiß … und Sie haben gelächelt … Ich glaube, meine Mutter hat niemals in ihrem Leben so gelächelt wie Sie an dem Morgen … Und die Sonne lag auf Ihrem Haar … Ach Gott … Meine Mutter hat mir so oft ihre grauen Haare gezeigt – sie hat so verzweifelt trauriges, graues Haar … Aber«, sagte er bitter genug, »meine Mutter schleicht sich auch nicht wie ein Dieb in fremde Häuser, um Glück zu stehlen, das ihr nicht zukommt –«

»Und doch hat sie gestohlen«, sagte Jo.

Das Gesicht Peter Hünemanns wurde aschenfarben.

»Meine Mutter –!«

»Ja!« Die Frau und der Knabe maßen sich mit Blicken, die funkelten, und das Blut, das aus seinen Wangen weggesunken war, schien ihr in die Augen zu steigen. »Sie hat zum mindesten ihrem Manne etwas gestohlen, das ihm vielleicht mehr wert als sein Leben war –«

»Was –?«

»Seinen Sohn!«

Peter Hünemann lachte böse.

»Jetzt haben Sie sich verrechnet, gnädige Frau! Wenn meine Mutter nicht wäre, würde ich überhaupt nicht bei meinem Vater sein!«

»Natürlich nicht – sie hat Sie ja geboren!«

»Sie hat mich nicht geboren! Ich bin nicht ihr leibliches Kind! Ich bin, da Sie sich so lebhaft für das Schicksal der Hünemanns zu interessieren scheinen, der Sohn meines Vaters und irgendeines Mädels – einer fremden Frau Niemand, die im Kindbett starb –, und sie, die Frau meines Vaters, erfuhr es durch Zufall, ging hin und holte mich aus dem Waisenhaus –«

»Ihr armer, armer Vater!« sagte Jo.

Er stockte. Er starrte sie an, in tiefer Verwirrung heftig errötend.

»Ich begreife nicht –«, stammelte er.

»Aber ich«, sagte Jo. Sie stand auf und ging durch das Zimmer. »O ja – nun begreife ich alles!« sagte sie. Sie blieb von dem Knaben abgewendet stehen und sah sich auch nicht um, als sie nach einem langen Schweigen fast bittend sagte: »Gehen Sie, junger Peter!«

Ein Stuhl wurde weggerückt. Eine Kehle schluckte. Eine kämpfende Stimme fragte sehr verstört:

»Wollen Sie, daß ich gehe, weil Sie – weil Sie auf meinen Vater warten, gnädige Frau?«

»Ich warte nicht auf deinen Vater, Peter – auf Ihren Vater, verzeihen Sie! … und wenn ich Ihnen jetzt sage: Gehen Sie! – so geschieht es nur, weil ich Ihnen gegenüber in der Sache Hünemann contra Hünemann ganz loyal sein möchte und nicht mehr lange dazu imstande bin!«

»Warum nicht?« fragte der Sechzehnjährige.

»Weil in mir langsam eine Wut aufsteigt gegen die Frau, die Sie zu mir geschickt hat und die Sie Mutter nennen!«

»Sie haben doch meine Mutter niemals gesehen!«

»Nein – aber Ihren Vater, und das genügt mir!«

»Lieben Sie meinen Vater –?!«

»Du großer Gott –!!«

»Also warum –? Warum –?«

Jo gab keine Antwort.

Die zitternde Hand des Jungen durchsträubte sein Haar.

»Warum sagen erwachsene Menschen immer nur halbe Worte? Immer hört man sie hinter geschlossenen Türen in Nebenzimmern reden, und manchmal reißt jemand die Tür auf, und dann schreit einer irgendein Wort, ein dunkles Wort, einen Satz, von dem man nicht loskommt … Und wenn man dann fragt, dann heißt es: ›Das verstehst du nicht!‹ – Wir verstehen schon! Man zwingt uns ja früh genug dazu! Wir wollen nichts sehen und hören von all dem Dreck und müssen doch – und schließlich denken wir: alles, was schön ist im Leben, das ist gelogen, und nur das Gemeine ist wahr … Ist das wirklich so?«

Jo wandte sich um.

»Warum fragen Sie nicht Ihre Mutter? – Warum fragen Sie mich?«

Er drehte den Kopf hin und her. Das sechzehnjährige Gesicht stand brennend in seinem Blute. Aber da war kein Ausweg, den Augen Jos zu entkommen.

»Wie soll ein Mensch mir helfen«, sagte er rauh, »der sich selbst nicht zu helfen weiß – der die Nächte hindurch an meinem Bett sitzt und weint und sich und sein Leben verwünscht … Neulich war ich so müde, daß ich über ihrem Gerede … über ihrem Reden fast eingeschlafen wäre. Da klagte sie, das sei nun der Dank für ihre Barmherzigkeit …«

»Ja, ja!« nickte Jo erbittert. »Wenn Sie doppelt so alt sind, Peter, werden Sie wissen: neunundneunzig Prozent aller sogenannten Barmherzigkeit hat der Teufel erfunden … Man soll keine seelischen Schulden machen, Peter! Seelische Gläubiger haben eine besondere Art von Infamie: sie geben dem Schuldner nur in ganz seltenen Fällen die Möglichkeit, das Kapital an sie zurückzuzahlen – und wo Menschenseele Schuldnerin einer Menschenseele ist, da muß man ein Vanderbilt des Herzens sein, um die geforderten Zinsen aufbringen zu können.«

»Was hat diese Theorie, sie mag falsch oder richtig sein, mit meiner Mutter zu tun?«

»Viel, Peter … alles! Die Frau, die Sie Mutter nennen, hat Ihren Vater gezwungen, sich bei ihr in untragbare seelische Schulden zu stürzen, und nun geht er zugrunde am Wucher der weiblichen Großmut und Barmherzigkeit. Oh, man kann auch quittierte Rechnungen einrahmen und an die Wand hängen; Schlafzimmer sind dafür ein besonders geeigneter Ort! Addieren Sie selbst die Summen, junger Peter: eine fremde Frau, eine heimliche Liebe zu ihr, ein Kind dieser heimlichen Liebe zu einer fremden Frau –«

»Hat irgendwer meinen Vater gezwungen, die eigene Frau zu betrügen?«

»Das weiß ich nicht, Peter, und würde mir nie anmaßen, darüber zu urteilen; aber eins weiß ich gewiß: Fleisch und Brot stehlen nur die Hungrigen, nicht die Satten – außer es handelt sich um Kleptomanie.«

»Gibt es Kleptomanen der Liebe?«

»Sicherlich, Peter! Don Juan war einer von ihnen und jeder aus seinem Blute, die großen Irrfahrer der Liebe, die ewigen Sucher. Aber Ihr Vater gehört gewiß nicht dazu. Der hat wohl nur einmal gestohlen – vor sechzehn Jahren, wahrscheinlich im Hungerdelirium des Herzens, im Durstdelirium der Sinne –, und dafür ist er lebenslänglich ins Zuchthaus gekommen.«

Er wurde blaß vor Zorn.

»Was Sie Zuchthaus zu nennen belieben, gnädige Frau«, sagte er mit schwankender Stimme, »hat weder Handschellen für meinen Vater, noch unübersteigbare Mauern, noch Starkstrom in den Türgriffen. Warum bleibt er bei meiner Mutter? – Aus Pflichtgefühl? – Ich glaube, wenn er sie ganz verlassen würde, das wäre für sie auch nicht schlimmer und schwerer zu tragen, als was er ihr früher angetan hat und noch antut! Warum also bleibt er?!«

Jo lächelte traurig.

»Weil er Sie liebt, Sie Kind!«

Aus dem Munde Peter Hünemanns kam ein Laut, wie ein Mensch ihn ausstößt, der im Traume stürzt und stürzend aufwacht. Hohn, der sich selbst verletzte, laut spottender Widerspruch suchten nach starken Worten, die Worte der Frau zu entwerten; aber sie fanden sie nicht, und die Lider des Sechzehnjährigen zitterten plötzlich wie unter einer jähen und nicht zu ertragenden Blendung.

»Mich –?« murmelte er, und tiefste Betroffenheit flüchtete sich in kopfschüttelnde Ironie. »Ich habe ihm bei Gott keinen Grund dazu gegeben!«

»Wenn Sie einmal erfahrener sind in der Grammatik der Liebe, Peter«, sagte Jo, und nie hatte ihre Stimme sanfter geklungen, »dann werden Sie wissen, daß die beste Liebe immer ›trotz‹ liebt und fast niemals ›wegen‹ … Das Zuchthaus der Liebe, in dem Ihr Vater wohnt, hat Wände, die mit alten Schuldverschreibungen tapeziert sind, und die Luft darin ist wie Giftgas durch Klagen und Vorwürfe. Wer Ihren Vater kennt – doch es kennt ihn kaum jemand, er ist ja so einsam! –, der kann nicht begreifen, warum der Mann nicht schon längst aus dieser Lemurenwohnung geflüchtet ist. Ich weiß es, Peter! Soll ich es Ihnen sagen? In dieser Wohnung gibt es ein Zimmer, darin wächst ein Kind heran. Seine Mutter ist tot. Aber einmal war sie heißes und zärtliches Leben, war ein Lachen, ein Weinen, ein Trösten – war immer Glück. Wenn sie wüßte, die tote Frau, daß das Kind ihrer Liebe ausersehen wurde, seinem Vater ein nie verstummender Vorwurf zu sein, sie würde an diesem Kummer noch einmal sterben. Hoffen wir, daß sie es nicht weiß, Peter – wie?«

Er schwieg, die Zähne in die Lippen gegraben.

»Der Mann, der Ihr Vater ist, würde es niemals wagen, in das Zimmer einzudringen, in dem sein Junge heranwächst. Aber wenn er daran vorübergeht, streichelt er heimlich die Tür. Manchmal bleibt er auch stehen, wenn er sicher zu sein hofft, daß man ihn nicht überrascht, und horcht auf die Stimme des Jungen, der eigentlich sein ist und den man ihm jeden Tag ein Stück mehr entfremdet – wollten Sie etwas sagen, Peter?«

Kopfschütteln.

»Solange der Junge gesund war, ging alles ganz gut. Aber als er krank wurde, kamen grausige Tage und Nächte. Da wich der Mann, der Ihr Vater ist, nicht von der Tür, hinter der sein geliebter Junge im Fieber lag. Er wurde immer mehr zum Schatten an dieser Tür; aber ganz verjagen ließ er sich nicht. Das Fieber seines Jungen kochte ihm in den Adern. Er war eine Glocke und der Schmerz der Klöppel darin; der schwang hin und her, daß die Glocke zu springen drohte. Der Arzt – die Ärzte machten ein ernstes Gesicht. Eine Frauenstimme jammerte: ›Nun hat man den Jungen mit soviel Selbstverleugnung und Schmerzen großgezogen!‹ Den Schatten an der Tür hörte und sah niemand. Vielleicht hörte und sah ihn Gott, denn der Junge wurde gesund. Doch die Süßigkeit der Genesung vertrieb den Schatten des Vaters von seiner Tür. Der Widerschein des ersten, noch müden Lächelns fiel auf alle Gesichter, außer auf das seine … War es so, Peter?«

Schweigen. Dann:

»Ich weiß es nicht. Kann sein …«

»Ich möchte«, sagte die sanfte Stimme der Frau, »daß Sie darüber nachdenken, junger Peter, ob es so war …«

Peter Hünemann irrte in der Diele hin und her, die um ihn immer enger zu werden schien. Sein Mund klaffte offen, als fehle ihm die Luft zum Atmen. Große Tropfen standen auf seiner Stirn. Er wischte sie ab. Der ganze Mensch wurde von einem inneren Zittern durchschüttert.

Jo stand am Fenster und sah in den Garten hinaus.

»Wenn mein Vater mich so sehr liebt, wie Sie sagen, gnädige Frau«, sprach endlich die heisere Stimme des Sechzehnjährigen weit hinter ihr im Raum, »dann könnte er doch vielleicht um meinetwillen der Mutter das Opfer bringen und nicht mehr zu Ihnen gehen … er könnte dann doch vielleicht darauf verzichten … wenn es auch sicher sehr schwer ist, gnädige Frau … wenn ich auch selbst nicht weiß, wie er es aushalten sollte …«

Jo wandte ihr stilles Gesicht in den Raum zurück.

»Sie können Ihren Vater gleich darum bitten, Peter«, sagte sie. »Er ist schon im Garten, er ist auf dem Wege hierher. Ich bin sicher, wenn Sie zu ihm sagen: ›Um meinetwillen, Vater, geh mit mir weg von hier und komm nie wieder!‹ – dann wird er es tun …«

Es war, als würde der Körper des Knaben auf die Tür zugeschleudert. Doch mitten im Weg blieb er stehen. Die Frau trat neben ihn. Sie legte die Hand mit einem sanften, vorwärtstreibenden Druck auf seine Schulter.

»Gehen Sie, junger Peter«, sagte sie.

Aber er ging nicht. Er starrte auf seinen Vater, der, ein Mensch voll Frieden, mit lichterfülltem Gesicht, nicht zögernd noch eilend durch Sonne und Schatten ging.

Gemessenen Schrittes, aber mit freundlichem Wedeln kam ihm Hüter entgegen und schob den verständigen Kopf in die Hand des Mannes, der ihn begrüßte, als sei er dankbar, ein Wesen getroffen zu haben, mit dem er Liebe um Liebe tauschen konnte.

Er hob den Kopf, als er zu dem Haus hinaufsah. Auf seinem erlösten Gesicht lag eine fast anbetende Liebe. Er konnte die Menschen, die im Dämmer des Raumes standen, nicht gewahr werden, denn zwischen ihnen und ihm war zuviel Sonne. Er empfing nur das Bild des Hauses in seinen Augen, aber es schien ihm vollauf zu genügen. Er liebte es, grüßte es und wandte sich ruhevoll ab. Von Hüter begleitet, ging er weiter auf dem sanften Weg, der zur Höhe führte und auf dem er gestanden hatte, als Jo ihn zum erstenmal sah.

»Worauf warten Sie, junger Peter?« fragte die Frau. Ihre Hand lag noch immer auf der Schulter des Knaben, der, vorgebeugt stehend, am ganzen Körper bebend, die Fäuste geballt, dem Vater nachsah, bis er seinen Blicken entschwunden war.

Mit einem rasenden Ruck befreite er seine Schulter. Er zerbiß sich die Lippen. Er starrte auf die Frau. Seine Augen funkelten in wütenden Tränen. Er schüttelte sie ab. Doch das Schluchzen hielt ihn gepackt und durchstürmte ihn, daß er sich bog wie ein ganz junger Baum.

»Ich halte das nicht mehr aus –!« sagte er zwischen den Zähnen. »Ich halte das nicht mehr aus –! Ich werde verrückt –!«

Er sah in die Augen Jos und sah sie in Tränen stehen. Seine jungen Hände griffen blind in die Luft.

»Ach lieber, lieber Gott!« sagte Jo ganz leise.

Dann streckte sie die Arme aus und fing das Chaos dieser schluchzenden sechzehn Jahre an ihrem lieben Frauenherzen auf.


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