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4

Regen war gefallen, und Sonne war gekommen, aber Jo hatte gemeint, es würde bald wieder regnen. Denn die Nebel stiegen als schneeweiße dampfende Säulen aus den triefenden Wäldern, die in der Sonne glitzerten wie mit Goldstaub überschüttet, und aus den Betten der drei schäumenden Achen zog feinster Dunst mit ruhelosem Winde bergan.

Mochte es regnen – was fragte Tilly danach? Sie mußte diese Nacht aus sich vertreiben, diese höllische Nacht, die ohne Ende, ohne Ende gewesen war. Sie mußte laufen, laufen – gleichgültig wohin, gleichgültig, wie weit – nur die eigenen Schritte hören, um das andere nicht zu hören, das ständig in ihrem Schädel rannte: der Spuk dieser Nacht ohne Ende, der irrsinnige Rhythmus ihrer Gedanken, der Totentanz der Worte, die Jo und sie gewechselt hatten – und dazwischen, wie ein verfluchter, an die beiden halblauten Frauenstimmen gekoppelter Pendelschlag: das Auf und Ab, das Hin und Her von Josys Schritten in der Kammer über ihren Köpfen.

Gott, diese Nacht, diese Nacht … Wie weit mußte ein Mensch laufen, um diese Nacht hinter sich zu lassen?!

Tilly Ebenezer hatte einen mühseligen Atem. Unter dem sommerbunten Kopftuch, das Jo ihr geliehen hatte und das sie fremd und sehr lieblich machte, glühte ihr Gesicht und blieb doch blaß. Dünne, scharfe Blitze stachen in ihren Lungen. Aber sie konnte nicht innehalten. Und das Erinnern lief in ihrem Kopfe mit.

Wie hatte sie in sich hineingeweint, die Zähne in ihren Arm verbissen, zusammengekrümmt auf ihrem improvisierten Bett. Aber Jo war nicht gekommen, sie zu trösten. Jo lag still in ihren kühlen Kissen und atmete friedlich. Der Regen rauschte und machte die Stunden zwischen Mitternacht und Hahnenschrei zu einer undurchdringlichen Finsternis.

Schlief Jo?

Der Mann über ihnen schlief nicht, und sie, seine Frau, schlief nicht. Es war, als träfe jeder Tritt seiner Füße ihr Herz, als müßte sie den Laut dieser Schritte in ihren Ohren tragen bis ans Ende aller Tage.

»Jo …«

»Hm …?«

»Was habt ihr so lange miteinander zu sprechen gehabt, du und Josy?«

Oh – diese elende, diese jämmerliche Frage, die wie ein vergifteter Bissen immer wieder hochquoll in ihrem Halse, bis sie endlich heraus und durch das dunkle Zimmer sprang …

Wie lange Jo zur Antwort brauchte! So lange, wie Frauen niemals brauchen, wenn sie sich Lügen aussinnen, sondern nur, wenn sie die Wahrheit sagen wollen.

»Willst du das wirklich wissen, Tillychen?«

»Sonst würde ich dich ja nicht fragen.«

»Ach Tillychen, wir fragen fast niemals, was wir gern wissen, sondern was wir gern hören wollen …«

»Ich will aber wissen.«

Eine Pause. Die große Wahrheitspause. Und dann:

»Er hat zu mir gesagt: ›Jo, werde meine Frau!‹ …«

Warum hatte sie gefragt? Sie hatte es ja gewußt. Hatte es, wie ihr nun klar war, eigentlich immer gewußt. Aber das rettete sie nicht davor, die Bestätigung der Tatsache als einen tobsüchtigen Schmerz zu verspüren.

Jo …

Jo und Josy …

Ach die Qual des zufälligen Gleichklangs, der wie eine ewige, innige Liebkosung war …

Aber nun mußte sie ja wohl weitergehen, den Kalvarienberg des Wahrheitsuchens hinauf.

»Und du? Was hast du ihm geantwortet?«

Diesmal kam die Antwort schnell wie Vogelflug.

»Daß ich's mir überlegen würde, Tillychen …«

Eine Frau setzte sich auf im Bett und sah in ein dunkles Zimmer.

»Du willst mir meinen Mann wegnehmen –?! Wo du selbst noch nicht einmal geschieden bist –?!«

Sie hörte die eigene Stimme verkniffen und säuerlich, in einer sie selber peinigenden Spießbürgerlichkeit. Jetzt bin ich Tante Emma, dachte sie verzweifelt. Sie sah sich selbst, ganz außerhalb ihres Jammers, wie eine schlechte Fotografie von Tante Emma, sehr aufrecht auf einem steifen Stuhle sitzend, mit bösartig verklemmten Schenkeln und Knien. Die Gesetzestafel der Familie. Tante Emma, die fünf Kinder von zwei Männern hatte und doch als alte Jungfer sterben würde. Josy haßte Tante Emma und ihre saure Stimme.

Jos Stimme fragte wie ein sanfter Gong:

»Hast du ihn denn noch, deinen Mann?«

Was sollte sie für eine Antwort geben? Während über ihren Köpfen unablässig das Auf und Ab, das Hin und Her von Josys Schritten in die Nacht hinein klagte – sie verklagte …

»Hörst du ihn, Tillychen? – Ja, jetzt hörst du ihn! Aber wie lange warst du taub? Er hat dich angebetet mit der ganzen kritiklosen Überschätzung des Ewigweiblichen, das den Amerikaner idiotisiert. Es soll noch Negerstämme geben, die ihr Gold und Elfenbein für Glasperlen und Schnaps hintauschen. Schlau, wie die Schlauheit der Familie dich erzogen hat, bist du unnahbar für ihn geblieben bis zur gesetzlichen Unterschrift: eine kleine, nicht sehr deutliche, nicht sehr gnädige Gottheit in einer Silberwolke. Und dann ist der menschliche und männliche Hunger eines Taifuns über dich hergestürzt. Der Durst eines gläubigen Giganten, der seine Göttin mit diesem verschmachteten Besitzergreifen tausendgliedrig umrankte. Und was fand er, Tillychen? Einen nassen Schwamm, wo er nach einer Quelle lechzte. Rationiertes Brot mit Kleiezusatz, wo er den Apfelbaum der Hesperiden suchte. Hast du nun das Recht, zu fordern: Durste, weil ich dürr bin? Hungere, weil ich karg bin? Nein, Tillychen. Das hieße die weibliche Anmaßung denn doch zu weit treiben!«

»Ich fordere nichts mehr, Jo! Ich fordere nichts! Ich will ihn nur nicht ganz verlieren –!«

Ja, so hatte sie betteln können in dieser grausigen Nacht, die von dem Auf und Ab, dem Hin und Her der Schritte über ihr in blutige Sekunden zerschnitten wurde.

»Ich will ihn ja auch nicht für immer haben, Tillychen. Nur für sechs Wochen oder höchstens ein Vierteljahr. Aber in diesen knapp hundert Tagen würde ein glücklicher Mann auf der Welt sein. O ja, das weiß ich! Ein ganz primitiv glücklicher Mann. Solch einer, der sich im Lift vor Ungeduld in den Stockwerken verzählt und die Wohnungsklingel demoliert, obwohl er den Drücker in der Tasche hat. Solch einer, der schon beim Öffnen schreit: Wo ist meine Frau –?! Oder, in unserem Falle: Wo ist meine Geliebte –?! Gott im Himmel allein weiß, worauf er in der nächsten Minute verfallen wird, dieser große, durchstürmte Junge … Aber einige Dialoge höre ich voraus:

»Jo, wollen wir heut abend bummeln gehn?!«

»Ich hab' mir den ganzen Tag lang nichts anderes gewünscht, als heut mit dir bummeln zu gehn!«

»Ho, fein! Mach dich schön – mach dich bildschön für mich –!«

Damit tobt er ab ins Badezimmer. Oder:

»Jo, ich möchte die Wohnung auf den Kopf stellen! Wir wollen einen Apachenkeller aus unserer Wohnung machen!«

»Nichts leichter als das! Bunte Fetzen um die Lampen, bunte Fetzen um uns selbst, das Grammophon auf den Tango gestimmt, du weißt schon – auf den Tanz, bei dem sich die Tänzer gegenseitig auf die Seelen treten – Kirschen in Kognak, Zigarettenrauch – Cook liefert seine Apachenkeller am Montparnasse nicht um ein Jota echter!«

Oder:

»Jo, ich bin so müde! So müde wie ein kleiner Junge, der sich verlaufen hat! Komm, tröste mich! Nimm mich in deine guten Arme, Jo …«

»Hat mein kleiner Junge sich verlaufen? Du lieber Gott! Ist mein kleiner Junge so müde, so müde … Wie alt ist er denn in der großen, bösen Welt? Noch keine sechs Jahre alt! Noch klein genug für Mutters Schoß und Arme … Soll ich ihm eine Geschichte erzählen, meinem kleinen Jungen?«

»Ach ja!«

»Eine Geschichte zum Einschlafen oder eine zum Munterwerden?«

Mal so, mal so … Oder:

»Jo, du mußt mir einen Rat geben. Ihr Frauen habt einen so feinen Tierinstinkt zum Ausgleich für die mangelnden Gehirngramme …«

Dann sitzen zwei sich gegenüber und halten Rat miteinander, und die Verantwortung des Lebens liegt auf vier Schultern leichter als auf zweien. Und eine freier atmende Stimme sagt: »Kamerad …« Das ist für die Frau der Pour le mérite und sehr, sehr kostbar … Ja, so würden wir leben, Josy und ich … sechs Wochen lang oder ein Vierteljahr … solange du ihn mir eben leihen würdest, Tillychen …«

Eine Frau saß aufrecht im Bett und sah in ein dunkles Zimmer. Sie gab keine Antwort. Sie weinte auch nicht. Tief in ihr jammerte eine Stimme: Ich will das tun! Ich will das sein! Ich –! Ich –! Aber das wurde nicht laut.

Aus der Mitternacht klang Jos Stimme, dieser sanfte Gong:

Liebe der Frau ist, zu allem bereit sein.

Und wenn sie das nicht kann?

Dann bleibt ihr immer noch eins: zu gönnen.

»Ißt du gern Austern? – Nein. Dir graust davor. Aber Josy ißt sie mit Leidenschaft. Ich sehe noch dein angewidertes Gesicht, als du ihm das letztemal dabei zusahst. Als wäre er aus Neu-Guinea und fräße einen Missionar. Warum träufelst du ihm Chinin auf einen Leckerbissen – nur, weil du seinen Genuß nicht zu teilen vermagst? Ich nenne das eine schäbige Gesinnung. Teile oder gönne! Beglücke oder gib frei!«

»Freigeben –!« Riesengroß fuhr Tante Emmas Abbild in die Höhe. »Damit er zu den Straßenhuren lauft –!«

Sie brach in ein wütendes Schluchzen aus und biß sich in die Hände.

Jo holte ein wenig tiefer Atem als sonst. Sie sprach mit umzäunter Stimme.

»Erstens läuft er auch so zu den Straßenhuren, um bei diesem appetitlichen Ausdruck zu bleiben – und erzählt dir, daß er bis drei Uhr nachts Konferenzen und Vorstandssitzungen hat, was du glauben kannst oder bezweifeln. Und zweitens: was hast du gegen Straßenhuren? Sie geben dem Manne, was er von ihnen erwartet, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wie viele der sanktionierten Bettgenossinnen dürfen das von sich behaupten?«

»Warum sprichst du für den Mann und nur für den Mann? Warum hast du Verständnis für ihn und nur für ihn?«

»Weil ich ihn liebe, Tillychen.«

»Josy –?«

»Nicht Josy! Auch Josy! Den Mann. – Verdient er nicht all unsere Liebe, unsere staunende Bewunderung und unsere zärtlichste Ritterlichkeit, dieses rätselhafte Geschöpf Mann, das nach vieltausendjährigen und, seien wir ehrlich, recht deprimierenden Erfahrungen noch immer an das Weib zu glauben vermag? Verdient er nicht dein Mitleid und behutsamstes Feingefühl, dieser große, verwirrte, von hundert Sehnsüchten gepeitschte Mann Josy, der sich vor dir, einer kleinen, kargen Gans vom Kurfürstendamm, zur Lüge erniedrigen muß, nur weil du ohne Großmut bist?«

»Du warst nie eifersüchtig, Jo …?«

»Eifersüchtig –! Eifersucht ist das Reservat von Leuten mit Minderwertigkeitskomplexen. Bist du eifersüchtig auf ein Restaurant, das andere Spezialitäten hat als deine Küche? Bist du eifersüchtig, wenn sich dein Mann bei Larue an einem Gericht delektiert, für das dir die Gewürze fehlen?! Häng dich auf mit deiner Eifersucht. Wenn ich du wäre, ich würde mit Grazie, Takt und Tücke die Bekanntschaft des Mädels machen, bei dem sich Josy zur Zeit am liebsten von dir erholt, würde sie zum Tee einladen, mir ein bezauberndes Kleid anziehen und nach Josy telefonieren –«

»Du bist un–«

»Ja ich weiß, ich bin unmöglich, Tillychen. Aber, Herrgott, mit dem Möglichen kommt man nicht mehr weiter in dieser ausgeleierten Welt, in der alle Schrauben wackeln. Stelle dir vor: Josy tritt in dein Zimmer – in dein Zimmer, das voll Blumen ist. Vielleicht bemerkt er sie nicht; aber sie geben Atmosphäre. Dein Privat-Zoo. Der Samowar. Zwei lächelnde, hübsch angezogene, verträgliche Frauen. Ein paar Leckereien, die du persönlich nicht ausstehen kannst, die du aber eigens für Josy zubereitet hast – was manchmal eine zärtlichere und angebrachtere Liebkosung ist als ein Kuß – und die du ihm reizvoll servierst. Man kann nicht wissen – vielleicht trifft ihn der Schlag vor Überraschung – aber vielleicht …«

»Jo, ich bitte dich – ich bitte dich, Jo –!«

Jo seufzte. Und dann, wie ein verzichtendes Achselzucken:

»Ich weiß schon, Tillychen. Du bist eben gänzlich humorlos …«

»Ich bin nur unglücklich, Jo.«

»Das ist Josy auch.«

»Und voller Sehnsucht.«

»Das ist Josy auch.«

»Nach dir.«

»Nach Glück.«

»Das ist dasselbe, Jo …«

Auf und ab und hin und her die Schritte über ihren Köpfen.

Tilly fühlte, wie sich ihr Gesicht verzerrte. Wie ihre Stimme heiser wurde vor Qual.

»Warum gehst du nicht hinauf zu ihm, Jo?«

»Sei nicht geschmacklos, Tillychen.«

Und dann hatten sie nicht mehr gesprochen.

Eine Frau saß aufrecht im zerwühlten Bett und sah in ein dunkles Zimmer, in dem sich langsam, langsam, zeitlupenhaft die Schwärze der Regennacht zum Grau des Nebelmorgens wandelte.

Auf und ab und hin und her die Mannsschritte über ihrem Kopfe.

Als es hell wurde, verstummten die Mannsschritte. Am Fenster waren sie stehengeblieben. An dem kleinen, umblühten Fenster, vor dem der Nebel hing. Und tasteten sich müde wieder weg, als hätten sie auch dort vergebens gesucht und angefragt. Dann rückte ein Stuhl …

Und nun ging sie hier, zwischen Sonne und Wolkenschatten, lief und lief, steinigen Weg unter viel zu dünnen Schuhen. Und die Schritte, die ihre Nacht in tausend Fetzen zerrissen hatten, liefen mit ihr und zerfetzten ihr den Tag …

»Wo ist Tilly?« fragte Josy Ebenezer unter der Haustür. Er war so groß wie nur je, aber sein Mörtelgesicht schien um ein Drittel schmaler geworden.

»Siehst du!« sagte Jo, die unter den Ulmen saß und mit flinken Fingern kleine schwere Purpurtrauben von Johannisbeeren streifte. »Wenn ein Mann am Nachmittag um vier Uhr merkt, daß ihm die Frau seit acht Uhr morgens abgeht, dann ist der Fall noch längst nicht hoffnungslos.«

Er kam, blieb stehen, setzte sich zögernd, weil unaufgefordert, nahe von ihr, die ganz in Beerenduft und Sonne saß und von Bienen umsummt war, denen sie nicht wehrte.

»Kannst du überhaupt noch anders zu mir sprechen als in Spott?« fragte er erbittert.

»Das hängt von dir ab, Josy.«

Er sah einer Biene zu, die von der Schläfe Jos zu ihrem Munde taumelte und endlich ihr in den Schoß fiel, eine winzige Flocke berauschtes Gold. Er wandte die Augen ab.

»Wo ist Tilly?« wiederholte er und fuhr sich mit der Handfläche über die Stirn. Sein ganzes Gesicht war feucht und von einer gleichsam unterschichtigen Kälte gemartert. Nur seine Augen und sein Mund waren trocken und zehrten sich auf in einer beizenden Glut.

»Um Tilly brauchen wir uns nicht zu sorgen. Ich hab' ihr den Hansl nachgeschickt.«

»Wer ist das?«

»Mein Fischer.«

»Ein Fischer – so …«

Durch Josys Gehirn schwamm eine nebelhafte Erinnerung. Ein gleißend buntes, von Negermusik synkopisiertes Lokal – ein erotisch-kulinarischer Ramschladen, wie Jo es nannte, eng vor Menschen, die sich, gut gekleidet, viel Schminke, viel Schmuck, viel Geschwätz, um kleine Tische preßten, übersegelt von silbernen Platten in Kellnerhänden. Tilly – hübsch, albern, wichtig- und blasierttuerisch zugleich, ließ sich von einem diskret lächelnden Viertelgott in Frack und schwarzer Binde zu einem Bassin führen, in dem zwischen sanft rotierenden Regenbogenstrahlen und Wänden aus Opalglas Schleie und Forellen dumm ins Schicksal glotzten. Der Viertelgott im Frack nahm ein kleines Netz zur Hand und fischte die Beute von Tillys Appetitslaune, auf die sie mit spitzem, rotlackiertem Nagel wies, geschickt und ihr Sachverständnis preisend, aus der aufgeschreckten Schar der andern. Und als die kleine Frau zu ihrem Tisch zurückschlüpfte, vor Mondänheit kaum die Lider lüpfend, hatte Jo sie empfangen: »Na, Tillychen? Kommst du dir nun vor wie die selige Salome?«

Tilly hatte mit ihrem hübschen, törichten Munde gelächelt. Aber Jo war ernst geblieben.

»Dieses Verfahren, auf Kälber ausgedehnt«, sagte sie und legte ihre Serviette zusammen, »wäre das Ende des Wiener Schnitzels.«

Worauf das Gespräch für anderthalb Minuten unter Lähmungserscheinungen gelitten hatte.

Jo betrachtete den Mann, ohne ihre flinke Arbeit zu unterbrechen.

»Du siehst elend aus, Josy …«

Er gab keine Antwort.

»Glaubst du nicht, daß ein Spaziergang dir sehr gut tun würde?«

Alle Ecken und Kanten seines Gesichts gaben Signale der Ungeduld. Seine Hand wischte etwas Unsichtbares von der Bildfläche.

»Ich bin zu einem Entschluß gekommen«, sagte er im selben Ton, mit dem er schwierige Vertragsgegner unter den Tisch zu jagen pflegte. »Ich werde Tilly bitten, sich von mir scheiden zu lassen.«

Zart und zärtlich rhythmisiert fielen die purpurnen Perlen unablässig aus den bienenumschwärmten Fingern Jos.

»Tu das, Josy – wenn du willst, daß auch wir für immer geschiedene Leute sind.«

Er zermahlte irgend etwas zwischen den gewalttätigen Kiefern. Ein Stöhnen oder einen Fluch. Oder beides. Seine geröteten Augen trotzten sie an.

»Warum willst du mir eine – Wohltat, eine – Rettung versagen, die du für dich selbst beansprucht hast, Jo?«

»Ich bin eine Frau, Josy, und du bist ein Mann.«

»Willst du damit sagen: Wenn eine Frau aus einer Ehe, die nicht mehr zu ertragen ist, davonlauft, dann hat sie recht, und wenn ein Mann das gleiche tut, dann ist er ein Lump –?«

»Es kommt hier nicht auf den Menschen an, der davonläuft, Josy, sondern auf den, der zurückbleibt.«

Er hob die Hand zum Schädel.

»Das verstehe ich nicht … mein Gott …«

Jo war mit ihrer Arbeit fertig geworden. Sie trug die Schüssel mit den Beeren ins Haus. Eine kleine unruhige Wolke von summendem Golde schwebte noch um ihren Platz und zerteilte sich aufschwebend zu winzigen Punkten im Blau. Jo kam zurück, ging zum Brunnen und spülte sich den Purpursaft der Beeren von den Fingern. Sie ließ das lebendige Wasser lange in die Höhlung ihrer Hände laufen, und es war, als pflegte sie Zwiesprache mit dem unerschöpflichen Quellwasser. Sie hielt ihre Hände und die blanken braunen Arme hoch in die Sonne, und wie sie so mit geschlossenen Augen und erhobenem Gesicht in Wind und Sonne stand, war auch dies eine Zwiesprache mit Wind und Sonne.

Der Mann glotzte zu ihr hin mit dem dumpfen, fast gesichtslosen Schädel eines Troglodyten.

Sie wandte sich zu ihm, kam zu ihm, bis sie ihm so nahe war, daß er den Atem anhielt.

»Ich will versuchen, dir alles klarzumachen«, sagte sie. »Auch mich, Josy … Komm … Wir setzen uns zusammen in den Schatten, wo er am grünsten ist … Das Moos hier ist so ruhespendend wie ein sehr gutes Gewissen. Ich stelle meine Füße auf den Weg. Und du legst dich wie ein müder kleiner Junge, der den ersten Ferientag durchtollt hat, lang auf den Rücken und bettest deinen Kopf in meine Hände …«

Er stand eine Weile neben ihr mit hängenden Armen und geballten Fäusten. Dann ließ er sich fallen. Sein Kopf fiel, sich einwühlend, in ihren Schoß. Seine Finger krampften sich mit weißen Knöcheln um gewolltes Nichts, aber sein Mund drängte sich in lautlosem Lechzen dahin, wo Jos Herz schlug.

Sie ließ ihn gewähren. Er sah ihre Blässe nicht und nicht die Tapferkeit ihres Lächelns. Sie streichelte sehr langsam sein Haar und seine Schläfe, die unter seinem Blutschlag platzen wollte.

»So … so …«, flüsterte sie, und ihre Arme schlossen sich über ihm und wiegten ihn leise. »Mein kleiner Junge … solch ein glühender Kopf … solch ein armes, zerschaufeltes Gesicht … Das muß anders werden, Josy … Und das wird auch anders werden … Aber erst mußt du hören lernen, was mein Herz zu dir sagt … erst mußt du mein Herz verstehen lernen …«

Anfangs schien sein Hirn nicht aufzufassen, was sie flüsterte. Nur der Laut ihrer Stimme, Instrument der Zärtlichkeit, sank in ihn ein wie Tautropfen in ausgedörrte Erde. Dann kam ein Sinn dazu. Der wollte begriffen sein. Der Krampf, der seinen riesenhaften Körper zusammenbog, ließ nach, und alle seine Glieder schienen aufzuhorchen.

Jo schwieg. Sekunden vergingen und wurden Minuten. Der Mund des Mannes trennte sich zögernd vom Herzen der Frau. Sein Ohr löste ihn ab. Jo schwieg. Der Kopf und die Schultern des Mannes, die in ihrem Schoß, in ihren Armen lagen, wurden schwerer und immer schwerer, wie die eines Gestorbenen. Jo schwieg. Und endlich richtete der Mann sich auf. Das vollzog sich langsam und war so endgültig wie ein letzter Verzicht. Nun saß er neben der Frau, die Füße wie sie auf den Weg gestellt, die Hände zwischen den Knien baumelnd.

»Ich glaube, ich habe dich verstanden, Jo«, brachte er mit einiger Mühe zwischen den Zähnen heraus. »Ich glaube – ich habe dich verstanden … Nicht einfach, dich zu verstehen, aber … Verdammt, Jo, du hast – wunderliche Methoden, um dich begreiflich zu machen.« Er wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht, auf dem die Mörtelblässe von roten Furchen durchrissen war. Dann sah er Jo an und lächelte mühsam. »Keine Frau außer dir dürfte es wagen, mit einer Liebkosung zu sagen: ›Mann, ich liebe dich nicht!‹ Den Kopf eines Mannes an ihr Herz zu legen, damit er endlich begreift: die Frau, deren Herz so ruhig schlägt unter seinen bestürmenden Küssen, die liebt ihn nicht, nein, und sie wird ihn niemals lieben … Stimmt das, Jo?«

Sie nickte stumm.

»Nun, Jo, geh weiter in deiner Lektion.«

Er faltete die Hände zwischen seinen Knien und senkte den Nacken, als sei er bereit, eine Last zu empfangen. Auch die Frau hatte die Hände gefaltet, aber ihr Gesicht war zu den grüngolden funkelnden Blättern der Ulme über ihnen aufgehoben, als läse sie von ihnen ab, was sie sprach.

»Wenn ich Ebro verlasse, Josy, was wird aus Ebro?«

Der Mann schwieg.

»Wenn du Tilly verläßt, Josy, was wird aus Tilly?«

Der Mann klärte seine Kehle mit einem Räuspern.

»Und wenn ich bei ihr bleibe, Jo, was wird aus mir?«

»Das, Josy, hättest du dich fragen sollen, bevor du sie heiratetest.«

»Habe ich damals gewußt, was aus meiner Ehe werden würde?«

»Du hättest es wissen können, Josy, wenn du deinen gesunden Menschenverstand und nicht die männliche Überheblichkeit zu Rate gezogen hättest. Jetzt will ich sprechen, Josy! Wie alt warst du, als du um Tilly warbst? Einunddreißig vollwertige, aus Frühling, Sommer, Herbst und Winter bestehende Jahre! Du kamst nicht frisch aus dem Porzellanofen. Du hast das Leben gekannt wie nur ein Mann. Du hast dein Blut und deine Sinne in drei Erdteilen kochen fühlen. Und du bist weder betrunken noch hypnotisiert gewesen, als du zu der jungen Tilly Mannegold sagtest: ›Dich will ich zur Frau haben!‹ – Stimmt das?«

»Ja.«

»Sie war ein Mädel wie tausend andere. Aber du sagtest ihr: für mich bist du die eine unter tausend. Du hast dich, als die liebe Familie, Gott weiß warum, so tat, als wollte sie Schwierigkeiten machen, benommen wie ein Amokläufer. Du warst drauf und dran, das Mädel mit 280 PS zu entführen. Du bist, als man sie endlich, mit dem Segen sämtlicher Muhmen und Basen verbrämt, in deine Arme legte, vor Seligkeit fast auf die Knie gefallen, wie wenn dir Gottvater selbst das Paradies geschenkt hätte … Wie sollte ein junges, dummes Mädel ob solcher Vergöttlichung seiner harmlosen kleinen Person nicht sein bißchen Verstand verlieren? Du hast sie – und du allein, Josy! – in deiner mächtigen Hand turmhoch über sich selbst hinausgehoben. Jetzt zieh deine Hand zurück und laß das Produkt deiner eigenen Anbetung ins Bodenlose stürzen – wenn du dich traust!«

Sie schwieg. Und der Mann schwieg. Sein harter Atem war hörbar. Seine Hände kämpften gegeneinander.

»Es hat nicht lange gedauert, da lernte ich sie sehen«, sagte er heiser. »Aber ich dachte, ich könnte sie mir erziehen.«

»Armer Josy … Dreitausend Männer, an einem Seile ziehend, ziehen eine Frau nicht aus dem Kosmos ihres Ichs. Dreitausend Männer, an einer Lösung rätselnd, raten den Sinn nicht vom primitivsten Gefühl einer Frau. Frauen sind nur durch ein Ding in der Welt zu regieren: Durch ihre eigene Liebe. Durch ihre eigene Liebe. Und Tilly liebt dich. Das ist ihr uneinholbares Plus.«

»Womit sie mich verrückt macht.«

»Logisch – nachdem du sie vorher verrückt gemacht hast.«

Der Mann warf den Kopf auf und drehte ihn hin und her. Es war eine Gebärde, unter der die Frau ein wenig blaß wurde. Aber sie biß sich auf die Lippen und hielt ihre Hände fest.

»Viel verlangt, Jo, ein Leben lang dafür zu büßen, daß man ein paar Wochen lang ein Narr war.«

»Du warst kein Narr, Josy. Du hast dich nur tragisch geirrt. Du hast viel weniger die Frau geliebt als die Schönheit deiner eigenen Liebe – verstehst du? – Oder besser: du liebtest sie um dieser kostbaren Liebe willen, die sie in dir geweckt hatte. Es ist so schwer auszudrücken, Josy … Ihr seid euch begegnet, ihr habt euch angeschaut – etwas von ihr rührte dich an – aber es war wie eine Sprengung in einem Berge –, man will eine Quelle erschließen, und plötzlich stürzen sieben Quellen von sieben Strömen aus dem sich öffnenden Stein … Und diese sieben Ströme aus deinem eigenen Innern, Josy, du hattest bis zu diesem Augenblick selber nicht geahnt, daß sie in dir schliefen, nicht wahr … Aber nun war es so beseligend, sie herausströmen zu lassen, sich als so reich in seiner Seele zu erkennen, sich auf den sieben Strömen des eigenen Herzens zu wiegen, in sie hinabzutauchen und sie unaussprechlich tief und hinreißend und unerschöpflich zu finden … Aber wo ist das Weibgefäß, das sieben Ströme in sich zu fassen vermag, ohne zersprengt zu werden? Du bist über sie hinweggeflutet, die dich nicht zu fassen vermochte, und, lieber Josy, es klingt zynisch, aber es ist nicht so gemeint: jeder dieser ungefaßten Ströme sucht sich nun ein anderes Bett …«

Er hatte sekundenlang ein trübes Lächeln um die Mundwinkel; dann war es ausgelöscht. Jo sah ihn an. Ihre Lippen zitterten ein wenig, als sie fortfuhr:

»Es sind nicht immer saubere Betten, Josy …«

Er setzte die Zähne hart aufeinander. Und allmählich überzog sich sein Gesicht mit dem Ausdruck jener äußersten Brutalität, die der äußersten Hilflosigkeit entspringt und zuweilen nichts ist als Scham. Jo legte ihre Hand auf seine Hände. Noch war in ihr die Kühle des aufgefangenen Quellwassers und die Lindigkeit der Botschaften von Sonne und Wind. Der Mann hob diese Hand zu seinem Munde. Er sprach mit verbissenen Zähnen zu dieser Hand:

»Alles, was in mir strömt, Jo, will nur zu einem Bette, und das bist du!«

»Ich weiß, Josy … Aber wenn du – mir zuliebe! – nachdenkst: Ist in dir nicht irgendwo noch eine sanfte, kleine, verborgene Quelle, zu der deine eigene Frau den Weg finden könnte, um daraus zu trinken?«

Noch immer war ihre Hand an seinem Munde. Die Stille um sie her war klingend rein. Der Brunnen selbst war Instrument der Stille.

»Warum«, fragte der Mann und ließ die Hand, die er liebte, frei – und die Bitterkeit seiner Frage wurde durch ihre Sanftheit nur noch bitterer –, »warum sprichst du für die Frau und nur für die Frau? Warum hast du Verständnis für sie und nur für sie?«

Jo lächelte in sich hinein. Es war ein hinterhältiges und sehr zärtliches Lächeln. Sie sagte, die Lider senkend:

»Lieber Josy, ich folge damit nur dem amerikanischen Prinzip: sich immer auf die Seite des sowieso Stärkeren zu schlagen …«

Sein Gesicht wurde völlig ratlos. Er sah sie an, und ihr Lächeln erschöpfte seine letzten Reserven.

»Sei nicht amerikanisch, Jo«, murmelte er. »Sei du … Hilf mir, bitte!«

Sie legte ihren Arm um seinen Nacken und drückte seine Stirn an ihre Wange. Er atmete tief, fast schluckend. Ihre Fingerspitzen sänftigten seine Schläfe.

»Ist das gut so?«

»Ja … Das ist sehr gut …«

Stille. Dann, nur ein Flüstern:

»Hab' ich dir vorhin weh getan, Josy?«

Er knurrte. Sie spürte an ihrer Schulter das Zusammenrucken seiner Zähne.

»Ist vorbei, Josy. Ist für immer vorbei. Du hast mein Herz gehört. Und ich das deine. Ich frage dich nichts mehr. Ich bitte dich nichts. Du wirst von selber tun, was das Rechte ist …«

»... zwei Minuten …« murmelte er.

Sie schwieg. Sie rührte sich nicht. Die wunderbare und vollkommene Stille um sie her umgab ihr Zweisamsein mit der Durchsichtigkeit und Dichte von Kristallwänden. Sie fühlte den Kopf des Mannes sinken. Sie trug ihn an ihrer Brust. Ihre Hand empfing ihn und hielt ihn stützend. Dieser schwere, zu Gewalttätigkeiten geformte und berufene Schädel atmete ermattet und beruhigt in der Obhut ihres Friedens.

Minuten … Minuten … Dann regte er sich schwer und hob sich auf und sagte mit sonderbar verzerrtem Munde:

»Ebro ist ein Ochse.«

Jos Hand flatterte hoch; er fing sie ein.

»Laß, Jo …« Er sah zu den funkelnden Blättern der Ulmen hinauf und holte langsam Atem. »Ich habe oft davon geträumt, Jo – und weil du Jo bist und wunderbar und eine – makellose Frau, darf ein Mann dir das sagen –, ich habe oft davon geträumt, daß ich bei dir schlafen – und in deinen Armen einschlafen würde. Von diesen Träumen ist nichts zu Wirklichkeit geworden und wird nie etwas Wirklichkeit werden als die Minuten jetzt, die nun auch vorbei sind … Trotzdem –: danke, Jo! … Jetzt will ich gehen … Jetzt will ich Tilly entgegengehen …«


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