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11

Der dritte Brief lag mitten in den Rosen.

Wahrscheinlich war er, ebenso wie die beiden andern, vor Jos Schlafzimmerfenster gelegt worden, aber der Wind oder die eigene Schwere hatten ihn in den Garten fallen lassen, und da fand ihn Jo, am lichten Nachmittag. Als sie sich bückte, um ihn aufzuheben, war ihr einen Augenblick lang zumute, als beuge sie sich über eine Räucherschale – mit so fast greifbarer Fülle hob sich der Duft der Rosen, in ihren Kelchen bereits zur Essenz verdichtet, zu ihr empor. Aber der Ausdruck von leiser Betäubtheit, der das Gesicht der Frau wie ein ganz dünner Schleier bedeckte, kam nicht von der Sonne und nicht von den glühenden Rosen.

Unwillkürlich mußte sie lächeln, als ihr zum Bewußtsein kam, wie sie da mit dem Brief in beiden Händen unter der ausgeschütteten Sonne stand: wie ein Mensch mit einer auf unbekannte Zeitzündung eingestellten Höllenmaschine. Sie setzte sich behutsam auf die Steinbank unter den Ulmen, öffnete den Brief und legte die unzähligen, von Schriftzügen überjagten Blätter vor sich hin auf den Tisch. Die Stirn in die Handflächen gebettet, begann sie zu lesen, und es wurde ihr so schwer, dabei Atem zu holen, als stünde sie preisgegeben unter der Wucht eines Sturzbaches.

 

»Dies ist der dritte Brief. Die Kerze ist niedergebrannt. Eine Lampe habe ich nicht. Meine Mutter will nicht, daß ich bei Nacht lese. Sie sagt immer, es sei wegen meiner Augen. Aber jetzt, einmal wissend geworden, erkenne ich den eifersüchtigen Haß, mit dem sie meine Bücher verfolgt. Der Haß gegen das Untötbare muß wohl der heftigste von allen sein, weil er der ohnmächtigste ist. Und nicht zu erlösen. Denn Haß kann doch eigentlich nur an Mitleid sterben – oder ist es anders? Ist die Geburtsstunde des Mitleids, das heißt des Gnadenbegriffs, die Geburtsstunde der Menschheit? Das Geschöpf, das, bedeckt mit dem Haarkleid des Tieres, bewaffnet mit dem Todesgebiß des Tieres, seinen Feind zu Boden warf, aber ihn nicht tötete, sondern begnadigte und von ihm ging, vielleicht in dumpfem Staunen über sich selbst, aber zum ersten Male aufrechten Ganges, war das der erste Mensch? Die Welt ist voll Fragen und Schwere. Ich bin aus Dunkelheit in Helle getreten und vermag nichts zu erkennen. Meine Mutter umwittert mich. Nicht meine Mutter, ›die Frau, die Sie Mutter nennen‹, haben Sie gesagt. Sie ändern die Sprache der Menschen. Sie geben ihr erst einen Sinn. Alle Worte sind neu und erstmalig, wenn Sie sie aussprechen. Ich habe nie meinen Namen gehört, bis Sie ihn nannten. Ich habe nie gewußt, was das Wort ›Mutter‹ heißt. Ich habe es böse verschwendet, und nun ist mir, als müßte ich durch die ganze Welt wandern, um die Frau zu suchen, die meine Mutter ist. Ich weiß, sie ist tot, aber irgendwo muß sie doch sein? Irgendwo muß sie doch auf mich warten? Irgendwo muß ich sie doch einmal finden?

Meine Kammer ist glühend heiß, obwohl die Fenster weit offen stehen.

Nun bin ich aus dem Fenster geklettert und bin durch den Garten und über die Wiesen gegangen, bis dahin, wo ich Ihr Haus zu sehen vermag. Ich habe mich lange an einen Baum gedrückt und nach Ihrem Hause hinübergesehen. Das Mondlicht teilt es scharf in Schwarz und Weiß. Der Schatten des Daches wandert. Eine Zeitlang war in Ihrem Schlafzimmer Licht. Dann wurde es ausgelöscht. Etwas in mir zerriß sehr schmerzhaft.

Ich schreibe auf meinen Knien. Die Blätter sind feucht vom Tau. Auch ich bin ganz feucht vom Tau und zittre so sehr, daß ich fürchte, Sie werden den Brief nicht lesen können. Aber ich friere nicht, mein Kopf brennt. Ich habe auch kein Fieber, das schreibe ich, weil Sie vielleicht denken könnten, ich hätte Fieber. Nein. Ich bin auch nicht krank. Verbieten Sie mir bitte nicht, in den Nächten an Sie zu schreiben. Womit soll ich meine Nächte sonst hinbringen? Mit Schlafen? Ja, wenn ich da liegen könnte, wo Hüter seinen Platz hat. Empfinden Sie es als Frevel und Anmaßung, wenn ich Ihnen schreibe, ich sehne mich wie verrückt danach, meinen Mund auf die Tür zu drücken, hinter der Sie schlafen? Es ist nicht Frevel. Es ist nicht Anmaßung. Es würde nur Unsägliches bedeuten, sehr verehrte gnädige Frau, liebe gnädige Frau, ach bitte, bitte! Nicht wahr, Sie wissen, daß ich um nichts bitte! Aber schicken Sie mich nicht weg! Verbieten Sie mir nicht, Ihnen zu schreiben! Vielleicht lesen Sie meine Briefe nicht. Vielleicht bin ich Ihnen lästig. Aber gestern haben Sie mich doch in Ihre Arme genommen? Gott, warum bin ich nicht gestorben, als Ihre feuchten Augen über mir waren und Sie mit Ihrem himmlischen Lächeln sagten: Das ist jetzt mein Peter, und meinem Peter darf keiner was tun. Warum sind wir Menschen so arm und kraftlos im Wünschen? Als Ihre Hände auf meiner Stirn lagen und Ihre Fingerspitzen, die so herrlich kühl sind, meine Augen zuschlossen, da wünschte ich mir, daß ich Sie entrücken könnte aus dieser qualvollen Nachbarschaft mit dem Unerwünschten in eine edengleiche Einsamkeit. Ich wünschte es mir so sehr, daß ich glaubte, ich müßte an diesem Wünschen in Flammen aufgehen. Aber nichts geschah. Und was bin ich Ihnen? Was kann ich Ihnen sein? Ein sechzehnjähriger Junge, der zu Ihnen gekommen ist, um Sie anzupöbeln – oh, ich hasse mich, ich hasse mich, ich hasse die Menschen und alles, das Leben, die Welt, nur Sie nicht! Sie nicht, liebe gnädige Frau! Sie liebe ich, darf ich das sagen? Ich liebe Sie. Alles ist schöner und leichter, nachdem ich das gesagt habe. Nehmen Sie mir das Wort nicht weg! Es ist eine große Erlösung, zu einem Menschen sagen zu dürfen: Ich liebe Sie! Es ist wie besser werden, reiner, brennender. Man glaubt wieder an etwas, wenn man auch nicht sagen kann, woran, sobald man sagen darf: Ich liebe.

Warum habe ich es Ihnen gestern nicht gesagt, als ich meinen Kopf an Ihre Schulter legen durfte, als ich heimlich, Sie haben nichts davon gemerkt, meinen Mund auf den kleinen weißen Kragen preßte, aus dem Ihr Hals sich hebt. Sie sprachen zu mir, ich hörte Ihre Stimme, aber ich habe kein Wort verstanden in dieser Minute, in der die doppelte Betäubung des Opfers und des Opfernden mich überwältigte. Ich wünschte mir, vor Ihnen hinfallen zu dürfen, nicht auf die Knie fallen, das wäre zu wenig, nein, hingeschüttet sein – aber es ist alles zu wenig. Hätte ich nur in diesem Augenblick zu Ihnen gesagt: Ich liebe Sie! Sie hätten mich schon verstanden. Aber es war nicht möglich. Ich war zu sehr erfüllt, es war alles zu groß.

Ist Anbetung mehr als Liebe? Dann bete ich Sie an. Aber wenn Liebe mehr ist als Anbetung, dann liebe ich Sie, gnädige Frau.

Ich sehne mich nicht danach, in Ihrem Garten zu sein, den ich deutlich erkennen kann. Es ist viel schöner, hier zu sitzen, das ferne Bild Ihres Hauses ganz in den Augen zu tragen und sich zu sehnen, in ihm, bei Ihnen zu sein. Wenn die Menschen in Wahrheit wüßten, was Sehnsucht ist, sie würden sich nur nach der Sehnsucht sehnen.

Jetzt ist der Mond so tief hinabgewandert, daß Ihr Dach keinen Schatten mehr auf die Hauswand wirft. Ich weiß: dort atmen Sie. Dort schlafen Sie. Schauder der Fremdheit: ich kann Sie mir nicht schlafend vorstellen. Ihre Augen schließen sich nicht vor mir. Sie strahlen mich weit offen und undurchdringbar hell an aus Ihrem Gesicht, das ich nur vor mir und über mir zu denken vermag, aber nicht unter mir, nicht in Kissen gebettet. Ich sehe Sie gehen, sich umkehren, stehen bleiben, sich setzen. Das alles sind Sie, unverwechselbar Sie. Aber wenn ich Sie schlafend denke, verwirrt sich Ihr Bild, verschwimmt mir, ich kann Sie nicht mehr erkennen. O qualvoll! O warum tun Sie mir das an? Ich finde mich nicht mehr zurecht in den eigenen Gedanken, ich irre und irre, ich sehe mich selbst, wie man sich im Traume sieht. Ich taste mich durch ein Zimmer, in dem kein Licht ist. Das muß Ihr Zimmer sein. Ihr Schlafzimmer. Ich kenne es nicht und erkenne es doch. Da liegt eine Frau in einem Bett und schläft. Aber das sind nicht Sie, das ist eine fremde Frau. Ich will sie nicht. Ich sehe ein unerträglich fremdes Antlitz mit einem unerträglich fremden Lächeln. Flach auf dem Rücken liegend, hebt sie die Arme. Ich will sie nicht. Ich zittere vor Haß. Ich hasse ihr nacktes Lächeln, ich werde etwas sehr Böses tun, etwas, das nie mehr gutzumachen ist, ich erreiche sie fast, und, wie im Traume stürzend, erkenne ich nichts mehr –

Ich bitte, ich bitte Sie vielmals, gnädige Frau, ich bitte Sie, helfen Sie mir! Sie müssen mir helfen! Ich will meine Augen so mit Ihrem Bilde füllen, daß nichts anderes sonst mehr Raum darin hat! Ich will keine bösen Träume, keine bösen Gedanken mehr haben. Ich will fromm sein. Ich will nur Ihnen gehören! Sie haben gesagt: ›Das ist jetzt mein Peter, und meinem Peter darf keiner was tun.‹ Ich verlasse mich darauf, ich verlasse mich darauf, gnädige Frau! Ein Wort ist ein Wort, nicht wahr, und Sie werden mir helfen, auch gegen mich selbst.

Die Nacht ist vorüber, der Morgen kommt herauf. Alle Täler sind voll hellgoldener Nebel. Ich muß die Blätter des Briefes in der Sonne trocknen.

Was soll ich tun, um nie von Ihnen fortzumüssen? Ich werde versuchen, krank zu werden, mit einer Lungenentzündung wird man mich doch hierlassen? Mein Vater und seine Frau sollen abreisen, aber ich bleibe, wo Sie sind, und warte darauf, daß Sie kommen und fragen, wie es mir geht. Oder ich breche mir einen Arm oder ein Bein – ein Bein ist besser, da muß man länger stilliegen und darf nicht transportiert werden. Ob Sie kommen würden? O ja, Sie würden kommen. O gute, gute, barmherzige, gütige Frau! Ich bin Ihr Eigentum. Ich liebe Sie. Amen.

Mein Herz ist ganz leicht. Ich bin glücklich. Die Nacht ist vorüber, und der Tag ist da. Zu irgendeiner Stunde dieses Tages werde ich Sie wiedersehen.

Jetzt liegt die Sonne schon auf Ihrem Haus. Ich liebe Sie. Ich bin Ihr Peter. Ihr Ihnen ganz und gar ergebener

Peter Hünemann.«

 

Jo hob den Kopf aus den Händen. Noch lag ihr Blick auf den Blättern des Briefes, den sie gelesen hatte, aber die leise Betäubung der Gefühle, die zuvor ihr Gesicht wie mit einem dünnen Schleier übertaute, war einer lächelnden Versunkenheit gewichen. Sie atmete aus tiefer Brust wie ein Mensch, der auf dem Gipfel eines hohen Berges steht und mit freiem und seligem Blick das weite Land betrachtet, das in morgendlicher, unverhohlener Schönheit bis an die fernsten Grenzen sich ihm erschließt. Von diesen fernen Grenzen war ihr Blick noch nicht zurückgekehrt, als neben ihr die Stimme Josys aufklang:

»Beschäftigt, Jo?«

Sie sah ihn träumend an. Dieser große Mensch mit dem großen Paket unterm Arm … Kein Mann auf der Welt hatte eine so abwürgende Art, Pakete zu tragen, wie Josy. Das war also Josy.

»Guten Tag, Josy.«

»Nett, daß du mich wiedererkennst. Was hast du da eben gelesen?«

»Einen Brief.«

»Nicht möglich. Sieht aus wie die handschriftliche Lebensbeschreibung vom alten Rockefeller. Von wem ist der Brief?«

»Von einem, der mich lieb hat, Josy.«

Er beglotzte sie mit den melancholischen Wutaugen eines Kaffernbüffels.

»Kann ich den Brief lesen?«

»Gern, Josy – wenn ich dafür dem Schreiber die Geschichte deiner Liebe zu mir erzählen darf.« Sie horchte ein wenig. »Ist das, was du unter dem Arm trägst, zerbrechlich, Josy?«

»Ja, einigermaßen …«

»Nun, bei Gott ist kein Ding unmöglich, vielleicht ist es ganz geblieben, aber besser wäre es doch wohl, du stelltest es hier auf den Tisch.« Sie legte sorglich die Blätter des Briefes zusammen und barg sie wieder im Umschlag. Sie sah dem Mann ins Gesicht und lächelte, wunderbar sanft. »Fang mit mir keinen Krieg an, Josy, du weißt, ich bin stärker als du. Warum bist du überhaupt so grimmig gelaunt?«

»Erstens, weil du mir den Fischerhansl geschickt hast, anstatt mich selber vom Flugplatz abzuholen – –«

»Aber ich kann dir doch nicht deinen Handkoffer tragen, Josy.«

»– – und zweitens –« er stellte das große Paket auf den Tisch und sah böse den Brief an, den Jos Hände umschirmten. »Ich hab' mich so wahnsinnig auf dich gefreut, Jo –« seine Augen kamen unglücklich zu ihren Augen – »ich hab' mir eingebildet, du freust dich auch auf mich – und statt dessen liest du im selben Moment, wo ich komme, einen kilometerlangen Liebesbrief von irgend so einem verdammten grünen Jungen.«

»Woher weißt du, daß dieser Brief von einem verdammten grünen Jungen ist?«

Er zuckte schwer und verdrossen die Achseln.

»Der Brief hat keine Marke. Der Schreiber wohnt also hier. Dreißig Seiten lange Briefe an eine Frau zu schreiben, die mit einem am gleichen Orte wohnt – dazu muß man sehr jung sein, Jo – beneidenswert, hoffnungslos jung …«

»Ich habe gar nicht gewußt, daß du ein so guter Psychologe bist, Josy.«

»Ein viel besserer noch, als du glaubst«, sagte er, zornig atmend. »Denn ich habe schon gestern am Telefon gespürt, daß du anders warst als sonst, Jo! Ich möchte wetten, mein Anruf aus Wien hat dich in der Lektüre eines ähnlichen Dokuments gestört!«

»Wette nicht, Josy. Den Schreiber dieses Briefes habe ich erst fünf Minuten nach deinem Anruf aus Wien kennengelernt. Wenn ich also wirklich schon gestern am Telefon verändert war, so ist das unbedingt dem Einfluß noch eines anderen Mannes zuzuschreiben …«

Er stemmte die Fäuste breit auf den Tisch.

»Jo«, fragte er heiser, »hast du die Absicht, mich verrückt zu machen?!«

»Im Gegenteil, Josy – ich möchte dich gern zum Lachen bringen.«

»Zum Lachen? – Du willst mich mit solchen … solchen Geschichten zum Lachen bringen?!«

»Fall nicht auf dein Paket, Josy, wenn es wirklich zerbrechlich ist … Ich will dich daran erinnern – ich will nicht, ich muß! – daß es dich nicht das geringste – aber auch nicht das geringste angeht, wen ich liebe, Josy, und von wem ich mich lieben lasse. Ich dachte, mit diesem Kapitel wären wir schon im Juni fertig geworden!«

Er sah sie noch immer an, unentwegt, mit auf den Tisch gestemmten Fäusten, ein leises, vibrierendes Zittern in den Gesichtsmuskeln.

»Fertig geworden …« wiederholte er leise. »Gestern nachmittag lernt dich ein dummer Junge kennen. In der Nacht darauf ist er vielleicht zum Dichter geworden. Aber ich soll mit dir fertig geworden sein, zwischen Juni und August …«

Er wandte sich ab und ging mit seinen langen, breitspurigen Schritten auf das Haus zu, das ›Glück‹ hieß. Das Paket hatte er auf dem Tisch liegen gelassen. Jo sah dem Manne nach, der im Dämmer der Halle verschwand. Der Fischerhansl kam mit dem Handkoffer Josys. Jo schickte ihn in die Küche. Sie nahm den Brief und steckte ihn in den Gürtel. Sie nahm das Paket, das für seinen Umfang sehr leicht war, und ging damit in die Diele, wo Josy wie ein großes, verräumtes, zweckloses Möbelstück stand.

»Ist dies das Geschenk für Tilly, das du mir zeigen wolltest?« fragte sie freundlich.

Er nickte stumm vor sich hin.

»Darf ich es auspacken?«

»Bitte.«

Während sie sorglich die vielen Schnüre löste, fuhr sie mit sachtem Plaudern fort:

»Wie geht es Tilly?«

»Danke, gut.«

»Wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?«

»Gestern.«

»Ich glaube, sie ist sehr glücklich, Josy …«

»Das freut mich.«

»Ich habe ihr einige Male geschrieben …«

»Das weiß ich. Sie hat mir deine Briefe geschickt.«

»Ich wünschte, du würdest die ihrigen lesen, Josy …«

Er schwieg.

Aus einem Wirrsal von Segeltuch, Bindfaden, Papierschnitzeln und Watte hoben Jos Hände das hölzerne Bildwerk einer schwarzen Madonna. Sie stellte es auf einen kleinen Tisch nahe am Fenster, beugte sich lange zu ihm und sagte endlich mit fast ergriffener Stimme:

»Das ist wunderschön, Josy …«

Unter der Krone, in deren verblichenem Gold kleine, erblindete Edelsteine und schon erloschene Perlen schliefen, war das schwarze Antlitz, barock und schwärmerisch, halb erhoben, halb zur Seite geneigt, als wollte es sich selbst aus dem Mittelpunkt rücken. Die in sanfter Ekstase ausgebreiteten Hände boten das Kind auf dem Mutterschoße der Welt.

»Gefällt sie dir wirklich?« fragte der Mann etwas rauh.

»Ja. Sehr.«

»Dann ist sie ihr Geld wert … Und du glaubst, daß sich Tilly darüber freuen wird?«

»Sie wird weinen vor Freude …«

Der Mann zuckte die Achseln.

»Merkwürdig, was für ein atavistischer Zauber von diesem Gerümpel ausgeht … Dabei möchte ich wetten, wenn man heute durch eine allgemeine Rundfrage feststellen wollte, wer der berühmteste und populärste Jude der Welt ist, so käme es zur Stichwahl zwischen Christus und Charlie Chaplin.«

»Sagst du das, Josy, damit ich nicht hören soll, daß dir die Kehle zum Sprechen zu eng ist?« Sie trat neben ihn, zögerte, sah seine Reglosigkeit, sah die geballten Fäuste in seinen Taschen.

»Josy«, sagte sie und lächelte, während ihr die Tränen in die Augen stiegen, »erwartet Tilly ein Kind?«

Nach einer Weile nickte er. Noch später sagte er, kaum verständlich:

»Sie freut sich unsinnig darauf …«

»Josy – und du nicht auch?«

Er drehte sich um. Er sah auf sie hinab. Er sah ihre feuchten Augen, den schönen, ergriffenen Mund. Plötzlich riß er die Fäuste aus den Taschen, drückte die Finger in die Schultern der Frau.

»Wenn dieses Kind in deinem Schoß wüchse … wenn du es mir schenken würdest, Jo … ja dann!«

Jo sagte, tapfer lächelnd, das Schüttern des Mannes in allen Nerven:

»Und ist es nicht wirklich mein Kind?«

»Ach Jo … Darf ich es zu dir bringen?«

»Ja.«

»Darf ich auch Tilly zu dir bringen?«

»Ja.«

»Darf sie das Kind in diesem Hause zur Welt bringen, da oben in der kleinen Kammer mit den roten Geranien vor den Fenstern?«

»Ja, Josy … Aber die Geranien werden dann noch nicht blühen …«

»Was blüht dann?«

»Die Hyazinthen und die Narzissen.«

»Das sind auch schöne Blumen«, sagte er, halb getröstet.

»O ja, und sie haben einen viel süßeren Duft …«

»So?«

»Freilich!«

Die Hände auf ihren Schultern, sah er sie an. Sein großes dunkles Lächeln wurde friedlich und dankbar. Einen Augenblick lang schien es, als wollte er sie küssen, wie ein Bruder seine verständige Schwester küßt, die ihm aus schwerer Klemme geholfen hat. Aber plötzlich riß er den Kopf hoch, und Jo sah sich um. Ein gläserner Laut zerklirrte die Stille des Raumes. Die Tür zum Garten war gegen die Mauer geschlagen. In ihrem Rahmen lehnte sonderbar, wie verrenkt, Peter Hünemann und starrte auf den Mann und die Frau.

Ein Schweigen von vielen Sekunden war zwischen drei Menschen.

Jo faßte sich zuerst. Sie nahm die Hände Josys von ihren Schultern und ließ sie mit sanftem Druck los. Er schob sie, unzufrieden knurrend, wieder in die Taschen, schob mit geschlossenem Munde den Unterkiefer vor, stand breitbeinig da, kein Anblick, der Zutrauen weckte.

»Peter«, sagte Jo. »Guten Tag, Peter! Kommen Sie doch herein!«

Er antwortete nicht. Und obwohl es die Frau war, die mit ihrem Dasein den Raum erfüllte, schienen die Männer jetzt in ihm allein zu sein und von den Männern nichts als Blicke und Atem.

»Peter!« sagte die rufende, zu sich rufende Stimme der Frau, »wollen Sie mir nicht die Hand geben?«

Sie ging auf ihn zu. Er wich vor ihr zurück, einen Ausdruck des Entsetzens in den Augen. Noch immer wirkte sein Körper wie verrenkt.

»Nein«, sagte er. »Verzeihung. Ich möchte nicht stören.«

»Aber Peter, was sind das für Reden – Sie stören doch nicht. Kommen Sie, ich möchte Sie gern bekannt machen –«

Da war er schon jenseits der Tür, stieß, rückwärts gehend, fast einen Stuhl um, stolperte, hatte die Augen noch immer auf Jo.

»Ich kann nicht«, sagte er. »Verzeihen Sie bitte – ich kann nicht –«

Und torkelte über die Stufen zum Garten hinunter, nach rechts, nach links und endlich blind gradeaus –

Die Frau sah ihm nach.

Josy Ebenezer räusperte sich.

»Darf ich rauchen, Jo?« Er nahm Pfeife und Tabaksbeutel aus der Tasche. »Jo – darf ich rauchen?«

»... was sagst du?«

»Ich fragte dich, ob ich rauchen darf.«

»... ob du was?«

»Ob ich rauchen darf.«

»... natürlich, Josy.«

Er setzte sich breit und begann, sich die Pfeife zu stopfen. Seine Blicke wanderten zwischen ihr und der Frau hin und her, die noch immer an der verlassenen Türe stand.

»Der Briefschreiber – wie?«

Jo nickte zum Garten hin.

Der Mann riß ein Streichholz an der Schuhsohle an und steckte mit großer Sorgfalt den Tabak in Brand.

»Wenn der Junge heut nacht allein bleibt«, sagte er langsam, zwischen den einzelnen Zügen, »dann wird er in seinen Träumen drei Morde begehen: einen an mir, einen an dir – außerdem Selbstmord und den vielleicht nicht nur im Traum.«

Jo wandte sich duldsam nach ihrem Schwager um.

»Du sagst manchmal so erheiternde Dinge, Josy.«

Er zuckte die Achseln.

»Ich registriere lediglich meine Eindrücke.«

»Und damit ist der Fall für dich gestorben?«

»Was sollte ich sonst tun?«

»Ihm helfen, dem Jungen!«

»Dem kann kein Mann helfen, Jo. Dem hilft nur eine willige Frau.« Er lächelte mit dem grinsenden Munde eines Gefolterten. »Willst du vielleicht diese Frau sein?«

»Und wenn ich das wollte«, sagte Jo zornig, »dann sei versichert, daß ich dich nicht um Erlaubnis fragen würde!«

»Trotzdem gestatte ich mir, dir abzuraten.«

»Warum?«

»Weil ich den Jungen kaltblütig umbringen würde.«

»Mit welchem Recht, wenn ich dich fragen darf?«

»Mit welchem Recht?« wiederholte der Mann, unbeschreiblich erstaunt. »Mit gar keinem! – Kennst du irgend etwas in dieser verlausten Welt, das freiwillig dem Recht zuliebe getan wird? – Unfug! – Ich würde ihn ebenso umbringen, wie er mich, wenn er mich in dem Bette fände, in dem er selbst sein möchte. Kein Mann, der ein Mann ist, gönnt einem andern die Frau, nach der er sich selber sehnt. Und selbst, wenn er sich nicht mehr nach ihr sehnt – einem andern gönnt er sie doch nicht. Das ist wie bei einem Tier, das einen Knochen in seine Höhle geschleppt hat. Er kann so abgenagt sein, wie er will, und dem Besitzer bei jedem Schritt im Wege sein, sobald ein anderer ihm den Knochen wegnehmen will, legt er die Pranke darauf und knurrt wütend.«

»Siehe Brehms Tierleben!«

»Schön – siehe Brehms Tierleben! Du bist doch, soviel ich weiß, eine Tieranbeterin. Wundert dich beim Menschen, was dir beim Hirsch und Auerhahn selbstverständlich ist?«

»Allerdings, denn das Tier liebt instinktiv und rauh nach Gesetzen der Arterhaltung –«

»Der Mensch auch.«

»Jetzt hör aber auf, Josy! Du willst mir einreden, daß du, wenn du eine Frau umarmst, an die Erhaltung der Art denkst?«

»Wenn ich eine Frau umarme«, sagte Josy Ebenezer langsam, »dann denke ich entweder möglichst gar nichts – oder an dich. Ja, ja, ich weiß – sage nichts, Jo – ich weiß, es ist Schändung! Aber was, in des Himmels Namen, bleibt uns denn übrig –?! Oder bildest du dir vielleicht ein, der Junge, der dich im Blut hat wie eine unheilbare Krankheit, der wird dich nicht mit seinen Gedanken schänden, sobald er ein Mädel findet, das ihn zum Manne macht? Was glaubst du denn, woher sie alle kommen, die großen Zyniker und Pamphletisten, die großen Verneiner und Höhner, die ewig verrenkten Männer – das Wort ist blödsinnig, aber du weißt schon, was ich meine! – wenn nicht aus dem ersten Ekel, dem ersten leeren Grauen, das sie statt Verzückung in der ersten Umarmung gefunden haben? Vom Augenblick an, da so ein Junge begriffen hat, daß es neben ihm ein anders gestaltetes Geschlecht gibt, ist er auf der Suche nach dem vollkommenen Traumbild, denn er meint, was die Welt regiert seit Beginn der Welt und aus Männern Narren, Heroen, Verbrecher macht, das muß etwas sein, das zu suchen sich lohnt – und er landet zuletzt mit Dankbarkeit bei der Dirne, die am wenigsten von den zerfetzten Resten seiner Illusionen zerstört. Das kannst du einem glauben, der es am eigenen Leibe erfahren hat und weiß, daß er einer unter Millionen ist. Sieh den Dingen ins Gesicht, Jo, und spiele nicht Vogel Strauß!«

In der Nacht, die diesem Tage folgte, konnte Jo nicht schlafen. Sie lag, die Arme unter dem Nacken gekreuzt, und hörte die Schritte Josys über sich in der Kammer. Dann wurden die Schritte still. Die Nacht war sehr hell. Das Rauschen der Ache klang ganz fern herauf, und das Rauschen der Wälder war wie das Atemholen eines friedvoll Träumenden. Der Brunnen schwatzte, aber kaum vernehmbar, und die Blätter der Ulmen flüsterten miteinander.

Sie dachte: Peter … Sie dachte: Junger Peter … Ob du jetzt wieder aus deiner lichtlosen Kammer hinausgeklettert bist in die weite Nacht, um den Schatten auf meinem Hause wandern zu sehen? Ob du wieder, zitternd und feucht vom Tau, auf Blätter toten Papiers, die der Tau durchfeuchtet und die unter deinen Fingern zittern, dein lebendiges Herz ausschüttest, um es mir vors Fenster zu legen?

Geschlossenen Auges suchte sie sich der Worte zu erinnern, die aus drei rührenden, törichten Briefen zu ihr aufgestammelt hatten: Ich liebe Sie … Aber die Worte strömten übereinander, sich gegenseitig verdrängend wie Wellen nachquellenden Wassers. Sie wollte die Briefe holen, um sie noch einmal zu lesen, richtete sich auf im Bett und blieb regungslos –

Eine lautlose Stimme sagte zwischen Brennen und Frieren:

»Erschrecken Sie nicht, gnädige Frau …«

Nein, Jo erschrak nicht. Sie hatte nur genau das gleiche Gefühl wie bei ihrer ersten Gipfelbesteigung, als sie, an schroffer Wand klebend, den Abgrund lotrecht zu Füßen, einen Schritt tun mußte, ohne zu sehen, wohin sie trat. Das Mondlicht erfüllte mit silberblauer Flut das Zimmer. Mitten im Licht stand Peter Hünemann, ein wenig vorgebeugt, ein wenig schwankend, ein wenig wie ein im Fluß Ertrunkener, den eine Laune der Strömung aufrechthält. Die geballten Fäuste lagen dicht an seinem Körper, und hinter den offenen Lippen schimmerten schmal die zusammengepreßten Zähne. Eine ungeheuerliche Anstrengung schien seine Lider offenzuhalten; die Augen glänzten fahl, aber sie hatten keinen Blick.

Jo fuhr sich mit beiden Händen über die Stirn.

»Peter!« sagte sie, angesichts dieser lebendigen Gespenstererscheinung den Atem verlierend, »sind Sie wahnsinnig geworden?«

Er schien dem Worte nachzugrübeln, bevor er Antwort gab.

»Vielleicht«, sagte er dann, während seine Zähne in einem plötzlichen Schüttelfrost gegeneinanderschlugen.

»Was um des Himmels willen wollen Sie hier –?!«

»Gnädige Frau«, sagte er, und das Entsetzlichste an diesem gespenstischen Jungen war, daß er trotz allem so wohlerzogen wirkte, »wer ist dieser Mann?«

Nein, weder Entrüstung noch Angst war hier am Platze und unter gar keinen Umständen eine Lüge.

»Das ist mein Schwager, Peter.«

»Ihr Schwager?«

»Ja.«

»Der Mann Ihrer Schwester?«

»Der Schwester meines Mannes.«

»Aber er liebt Sie doch …«

»Vielleicht, Peter. Nein – gewiß, er liebt mich, und ich bin ihm von ganzem Herzen gut. Aber ich liebe ihn nicht. Und das war es doch, was Sie wissen wollten, nicht wahr, Peter?«

»Ja, gnädige Frau«, sagte der Junge.

»Und nun gehen Sie nach Hause«, sagte Jo, »und versuchen Sie zu schlafen, Peter.«

»Ja«, antwortete er gehorsam. Aber er rührte sich nicht vom Fleck.

»Sie wollen mir noch etwas sagen, Peter?«

»Ja.«

»... Etwas beichten?«

»Ja.«

»Also sprechen Sie, junger Peter.«

»Ich habe«, sagte der Junge, als hole er die Worte einzeln wie schwere Steine aus sich herauf, »an Sie einen Brief geschrieben. Einen furchtbaren Brief. In diesem Brief habe ich Sie beschimpft und beleidigt. Das mußte ich Ihnen sagen. Das sollten Sie wissen. Verzeihen Sie mir, gnädige Frau …«

»Von Herzen, Peter.«

Sie beugte sich vor im blauen Licht des Mondes, damit er ihr Lächeln deutlicher sehen konnte.

»Kommen Sie zu mir, Peter«, sagte sie.

Er stolperte vorwärts. Er fing sich wieder ein und stand sehr aufrecht in einer Helligkeit, die ihn fast durchsichtig machte.

»Was haben Sie da an Ihrer linken Hand, Peter?«

»Nichts, gnädige Frau.«

Jo sah ihm ins Gesicht, das entfärbt und entstellt war.

»Sie lügen mich an, Peter?«

Er schüttelte krampfhaft den Kopf.

»Dann zeigen Sie mir Ihre Hand …«

Er gehorchte mit zusammengebissenen Zähnen und abgewendeten Augen.

Jo hatte wunderbare Nerven; die bewährten sich jetzt. Sie faßte die Hand des Jungen oberhalb des Gelenks wie etwas Zerbrechliches und beugte sich tief darüber.

»Was haben Sie mit Ihrer Hand gemacht, Peter?«

Sie hörte sein schweres Atmen und wartete stumm, das Zittern ihrer Finger gewaltsam unterdrückend.

»Ich habe den Brief an Sie darin verbrannt«, sagte er endlich heiser in verzweifelter Scham. Jo schwieg. Er fuhr fort, die Worte überstürzend: »Es war nichts, gnädige Frau. Ich habe es im Freien getan. Der Wind hat mir die brennenden Blätter aus der Hand geweht, bevor sie verkohlten …«

Jo ließ ihn los und sagte mit ruhiger Stimme:

»Gehen Sie bitte in die Diele nebenan, Peter, und warten Sie dort, bis ich Sie wieder rufe.«

Er ging. Die Tür schloß sich mit leisem Tappen hinter ihm. Jo stand auf. Eine Sekunde lang schwankte sie auf den Füßen. Sie rieb sich die Schläfen mit den Fingerspitzen. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so sehr danach gesehnt, haltlos weinen zu dürfen, wie in diesem Augenblick. Sie zog sich an und nahm aus dem kleinen Schrank im Badezimmer, der die Hausapotheke enthielt, Brandbinde, Schere und Mull für einen Verband. Sie dachte: Ich träume … Hoffentlich träume ich … Aber das Wasser, mit dem sie sich die Hände wusch, war Wirklichkeit, und darum war alles wirklich.

Sie öffnete die Tür zur Diele. Sie wollte sagen: Kommen Sie, Peter! Aber nur ihre Lippen bewegten sich. Sie hörte die leisen, suchenden Schritte des Jungen und wie er auf der Schwelle stehenblieb. Sie setzte sich auf den Stuhl am Fenster und deutete stumm auf den Schemel neben sich. Als er sich darauf niedergelassen hatte, nahm sie seine linke Hand und legte sie behutsam auf ihren Schoß. Aber sie vermied es, ihn dabei anzusehen. Wortlos und mit unendlicher Vorsicht verband sie die blasigen Wunden.

»Wahrscheinlich«, sagte sie, zweimal zum Sprechen ansetzend, »wahrscheinlich werden Sie Narben davon behalten.«

»Ach hoffentlich!« sagte der sechzehnjährige Junge.

»Peter –!«

Da lag sein Kopf in ihren Händen.

Nein, es gab nichts in diesem Augenblick, das sie berechtigt hätte, ihm ihre Hände zu nehmen. Er grub sein ganzes Gesicht in diese Hände. Mit seinen heißen, durstigen Lippen ergründete er in Küssen ohne Maß und ohne Zahl das süße Gnadenwunder ihrer Handflächen, die zarten und festen Gelenke ihrer Finger. Er drückte diese Hände auf seine Augen. Er lag auf den Knien und betete sie an. Er wollte nichts, begehrte nichts als nur diese Hände, die alles wußten, alles begriffen und lösten.

Die Hände der Frau gaben ihm mildeste Antwort. Sie umschlossen sein brennendes Gesicht und kühlten es. Sie hoben seinen Kopf zu der Schulter der Frau, wo er schon einmal begnadigt gelegen hatte. Sie betteten ihn so nahe an ihrem Halse, daß zwischen dem Schlag ihres Pulses und seinen Lippen nur Raum für ein Blütenblatt gewesen wäre.

Plötzlich sagte er leise, mit geschlossenen Augen, in Dankbarkeit und Triumph, beseligt und zitternd:

»Ich weiß nun – ich weiß nun für alle Ewigkeit, wie Sie aussehen, wenn Sie schlafen, gnädige Frau …«

Ihr ruhevolles Lächeln war über ihm.

Der Mond sank hinter die Berge. Tiefere Dunkelheit bemächtigte sich des Zimmers.

»Nun müssen Sie gehen, junger Peter«, sagte die Frau.

Er erhob sich, auf dem tief erblaßten Gesicht den Ausdruck eines Verzückten und Berauschten. Sie führte ihn durch die lichtlose Diele zum Garten. Sie hörte ihn neben sich atmen, nach Worten suchen –

»Gnädige Frau …«

»Ja, Peter.«

»Bleibt Ihr Herr Schwager sehr lange hier?«

»Nur noch ein paar Stunden.«

»Wie schön … Verzeihen Sie …«

»Gute Nacht, junger Peter!«

»Gute Nacht, gnädige Frau … und vielen, vielen Dank.«

Wie schwer es war, diese Schwelle zu verlassen …

»Sie sind mir nicht böse?«

»Nein.«

»Darf ich wiederkommen?«

»Ja, Peter, sobald Sie ausgeschlafen haben …«

»Und wenn ich nicht schlafen kann?«

»Versuchen Sie's mir zuliebe, Peter!«

»Ja, gnädige Frau … Gute Nacht!«

»Gute Nacht, junger Peter …«

Er ging. Jo sah ihm nach, bis ihn die zwiefache Dunkelheit der Stunde und des Waldes aufgenommen hatte. Dann stand sie noch lange, den Kopf in die Hände gedrückt. Und zuletzt ging sie zum Telefon und gab eine Depesche auf.


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