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5

Josy –?«

Der Ruf klang leise und irgendwie zögernd, als lege er keinen sonderlich großen Wert darauf, gehört zu werden. Aber der Mann, der mit gesenktem Kopfe, die Augen auf den Steinen des Weges, an seiner Frau vorbeigegangen war, hörte ihn doch, blieb stehen und kam verwundert zurück. Sie fragte, mehr höflich als beglückt:

»Suchst du mich?«

»Ja – natürlich …«

Er sah sie etwas erstaunt an. Sie erschien ihm sehr fremd. Aber er wußte nicht, woran das liegen konnte. Der Wald war hier so dicht und grün, daß man auf dem Boden eines grünen Ozeans zu stehen schien, durch den ein schmaler Weg sich aufwärts schlängelte; in unsichtbarer Tiefe des Tales, das eng wie eine Schlucht war, brausten die Wasser eines von Gewittern geschwellten Baches. Sonst war es still, beklemmend still. Das Fallen des zarten Regens war nicht zu hören, kaum zu fühlen.

Inmitten dieser Waldwelt saß die Frau im Rahmen einer kleinen offenen Kapelle, die nicht mehr war als ein Schutzdach über vielen bunten Heiligenbildern. Sie saß auf der Schwelle, und hinter ihr, über ihrem Kopfe, zwischen welkenden und frischen Blumen, brannten – teils kaum entzündet, teils nahe am Erlöschen – fünf oder sechs schmale, ernste Wachskerzen als stille Flammen vor dem Bildwerk einer schwarzen Madonna.

Die Frau war Tilly und war Tilly nicht. Das bunte Kopftuch, das Jo ihr geliehen hatte, verbarg ihr Haar und gab dem Gesicht, das die Sonne schon getönt hatte, eine zarte, beunruhigende Fremdheit – eine Einfalt, die verwirrend wirkte. Dicht um sie her gewickelt war ein Mantel, wie ihn die Männer hierzulande trugen; er war mürb vor Alter, aber zuverlässig: in winzigen grauen Perlen lagen die Regentropfen auf ihm. Nur die Schuhe, die unter seinem Saum hervorsahen, waren Tillys Schuhe, nutzlose, erbarmungswürdige Schuhe, ganz lächerliche Schuhe, ein Gespött ihrer Umgebung.

»Ja«, sagte die Frau, die dem Blick des Mannes mit den Augen gefolgt war, »seine Schuhe konnte er mir nicht auch noch geben, sie wären mir von den Füßen gefallen … sonst hätte er's wahrscheinlich getan und wäre barfuß heimgegangen.«

»Von wem sprichst du?« fragte Josy verwundert und leise gereizt.

»Vom Hansl.«

»... dem Fischer, den Jo dir nachgeschickt hat?«

»Ja.«

Sie sprach aus einer versunkenen Stille heraus. Es war, als spräche nicht ihr Mund, sondern ihr Lächeln. »Den mußt du kennenlernen! Der wird dir auch gefallen. Er hat ein so gutes, fröhliches Gesicht. Er hat blaue Augen – so blau wie das Wasser hier ist –, und wenn er lacht, hat er lauter Sonnenfältchen um die Lider.«

»Soso! Habt ihr viel zusammen gelacht?«

»... Sein Gesicht, seine Hände und sein Hals sind so braun wie altes Holz, und an den Knien hat er weiße Narben, die wissen allerhand zu erzählen von Gefahr und Kampf ums Dasein …«

Eine tiefe Verdrießlichkeit bemächtigte sich Josy Ebenezers.

Atavistische Wesen sind sie, diese Frauen, dachte er. Sie leben noch in der Steinzeit. Sie haben in ihren Nüstern noch den Dunst des Blutes, das der erste Mann aus seinen Adern für das erste Weib vergoß, als ihm das Tier, dessen Pelz sie haben wollte, im Nahkampf die Hände zerbiß. Narben erschüttern sie heute noch ebenso wie zur Zeit von König Artus' Tafelrunde. Wir Männer von heute, die wir Geld für sie machen, haben keine Narben vorzuweisen. Wir bringen es höchstens auf Gallensteine. Aber das ist nichts, womit man prahlen kann …

»... und er trägt einen wunderlichen Hut«, war Tillys Rede weitergeplätschert. »Die Krempe ist im Nacken hochgeschlagen und vorn wie ein Dach tief in die Stirn gezogen, was, wie er sagt, einen guten Abfluß für den Regen gibt – und rund um den Hut hängen kleine und große Silbermünzen mit Heiligenbildern und Sprüchen …«

»Mir scheint«, sagte Josy Ebenezer, mit schrägem Blick das Lächeln auf dem Munde seiner Frau taxierend, »du hast dich in den Fischer verliebt …«

Sie bog das fremde, sonnengetönte Gesicht wegabwärts wie ein Vogel, der horcht. Sie schien dem Worte nachzuträumen und es ganz in seinem Wert ausdenken zu wollen. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Ach nein, Josy«, sagte sie sanft. »Es ist weit mehr. Es ist weit Besseres und Schöneres. Ich bin ihm so dankbar, Josy – so unaussprechlich dankbar …«

»Wofür, wenn ich fragen darf …«

»Ja – wofür …? Dafür, daß er ist, daß er lebt. Daß ein Mensch wie er überhaupt auf der Welt ist …«

Josy Ebenezer, hoch und massig über der Frau stehend, stemmte eine Hand gegen das Mauerwerk und sah mit ungewissem Ausdruck auf Tilly hinab. Er kannte sich nicht aus mit ihr. Sie hob den Blick zu ihm: Es war ein Blick aus unbegreiflicher, ganz und gar untillyhafter Ferne, und ein Blick, als besänne sie sich eben erst auf ihn.

»Willst du dich nicht setzen?« fragte sie und rückte zur Seite.

Müde wie ein Zughund gab er nach. Er lehnte den Kopf an den Balken hinter sich. Es war gut, hier zu sitzen. Von den Blumen und Wachskerzen hinter ihnen kam ein feiner, wärmender Duft, und in dem satten, feuchten Grün des Waldes badeten die Augen wie in einer Heilquelle.

Jetzt wird sie ihre Hand in meine schieben und zärtlich werden, dachte der Mann mit einem unhörbaren Seufzer. Aber Tilly tat durchaus nichts dergleichen. Sie saß ganz still und schmal in ihren Mantel gewickelt, der eines fremden Mannes Mantel war, und zwischen ihr und Josy Ebenezer blieb ein trennender Raum.

Plötzlich, aus der Stille der Frau heraus, sang gleich einem Glockenzeichen in der Luft der Name Jo.

»... Jo wußte schon, was sie tat, als sie ihn mir nachschickte …«

Wie eine dünne Nadel drang die dunkle Silbe in das Herz des Mannes. Der süßen Bitternis des Sicherinnerns unterworfen, schwammen seine Gedanken für Sekunden fort auf dem Begriff und Namen Jo.

»Sie hat auch mich dir nachgeschickt«, sagte er heiser.

Tillys Stimme klang behutsam:

»Du liebst sie, Josy, nicht wahr?«

Irgendwie aufgeschreckt, gab er keine Antwort. Was war mit der Frau los? Das war eine fremde Frau. Gesicht, Sprache, Stimme – alles fremd. Die Wahrheit sagen dürfen, konnte freilich wunderbar sein und eine große Erlösung. Aber in den meisten Fällen und bei ungleichwertigen Gegnern war Aufrichtigkeit gefährlich wie Prahlerei …

Sein großes, unbeglücktes Gesicht zog sich in Abwehr zusammen. Sein Mißtrauen horchte:

»Brauchst nicht ›ja‹ zu sagen, Josy! Ich weiß es auch so. Mit der Erkenntnis habe ich mich heute früh auf den Weg gemacht. Mit dem Bewußtsein deiner Liebe zu Jo. Es war kein schöner Weg, mein Josy, das kannst du mir glauben … Aber der, den du vergangene Nacht bis zum Morgengrauen in deiner Kammer zurückgelegt hast, während es regnete, als weinte die ganze Welt, der war wohl auch nicht leichter …«

Josy Ebenezer räusperte sich.

»Tut mir leid, dich gestört zu haben!« sagte er. »Soll nicht wieder vorkommen!«

»Du hast mich nicht gestört, Josy, denn ich schlief nicht. Aber soviel an mir liegt, sollst du es nicht mehr nötig haben, bei Nacht in deiner Kammer auf und ab zu laufen bis zum Morgengrauen …«

Er beugte sich ruckhaft vor und sah ihr ins Gesicht. Lange …

Wie jung sie doch war … wie schmal … und wie fremd – fremd …

»Was ist eigentlich in dich gefahren, Mädel?« fragte er mürrisch. Aber Mädel sagte er doch. Und das war alles, was sie hörte. Nicht weinen! raunte Jo in ihrem Ohr. Verwundert sah der Mann, wie sie, die immer Haltlose, um die Festigkeit der Worte kämpfte, daß ihre Lippen zitterten wie zwei kleine blasse Blätter.

»Was ist los mit dir, Mädel?« wiederholte er.

»Ich habe – eine sehr seltsame – und sehr tiefe Erschütterung erfahren«, brachten ihre kämpfenden Lippen endlich heraus.

»Durch wen – durch den Fischer mit den weißen Narben an den Knien?«

»Nein, der kam erst später … Langweilt es dich sehr, Josy, wenn ich dir erzähle, was ich erlebt habe?«

»Durchaus nicht, kleine Tilly! Aber du mußt mir versprechen, nicht beleidigt zu sein, wenn ich dabei einschlafen sollte. Ich schlafe immer ein bei Vorträgen, falls der Redner nicht zu sehr schreit …«

»Ich werde gar nicht schreien und trotzdem nicht beleidigt sein, wenn du einschläfst, Josy.«

»Also fang an.«

Er lehnte den Kopf wieder an den Balken und hob die Augen in das Grün der Wipfel. Es regnete nicht mehr, aber die Bäume troffen noch, und ringsumher in der Stille war das liebe Geschwätz zahlloser, regengebürtiger Wässer, die den Weg zum Tale suchten. Anfangs teilte sich die Aufmerksamkeit des Mannes zwischen den Stimmen des Wassers und der Stimme der Frau. Doch die Frau trug den Sieg davon.

»... und endlich kam ich hierher, zu dieser kleinen Kapelle. Eine alte Bäuerin kniete da und zündete eine Kerze an. Ich beneidete die alte Frau. Ich beneidete alle, die vor diesen rührend abscheulichen Heiligenbildern eine Wachskerze und ihr eigenes Herz anzünden können. Wir können das nicht mehr, Josy … Schade … Jo sagt: Wir haben die Hand Gottes losgelassen und noch nichts anderes dafür erfaßt. Und Jo sagt: Wir haben das neunfache ›Selig sind …‹ für ein neunzigfaches ›Unselig sind …‹ hingegeben …«

»Ich habe nichts gegen fromme Frauen«, sagte Josy Ebenezer. »Sie sind immer beschäftigt und untergebracht. Aber ich kannte einige Exemplare davon, an denen jeder gesunde Mann zum Mörder werden und doch vor Gericht auf Freispruch hätte rechnen können, weil er in Notwehr gehandelt hatte … Hast du die Absicht, fromm zu werden, Tilly?«

»Nein, Josy. Ich war es vielleicht einmal. Daher kamen mir auch heute die Erinnerungen. Jetzt – bin ich gar nichts – wie die meisten von uns. Aber diese kleine Madonna da hinter dir – hast du sie dir angesehen?«

»Nein.«

»Es ist eine schwarze Madonna, Josy. Es gibt deren nicht sehr viele, und ich hätte nie geglaubt, in dieser Einöde hier oben eine so schöne schwarze Barockmadonna zu finden …«

»Willst du sie haben?« fragte der Mann mit einer Handbewegung gegen die Stelle, wo er das Scheckbuch zu tragen pflegte.

»Nein, Josy. Aber als ich sie sah, da mußte ich an das Hohelied denken –«

»An was?«

»An das Hohelied Salomonis! Kennst du es nicht?«

»Steht das in der Bibel? Ich bin nicht sehr bibelfest.«

»Es heißt darin: ›Ich bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems … Sehet mich an, daß ich so schwarz bin; denn die Sonne hat mich so verbrannt …‹«

»Das kann vorkommen«, sagte Josy Ebenezer. »Aber es scheint mir kein Grund zu besonderer Erschütterung …«

»Nein. Aber dann heißt es weiter: ›Meiner Mutter Kinder zürnen mit mir. Man hat mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt; aber meinen Weinberg, den ich hatte, habe ich nicht behütet …‹«

Ihre Stimme erlosch. Der Mann rührte sich nicht. Die Frau faltete die Hände vor dem Kinn. Sie sprach, und die Tränen klopften in ihrem Halse:

»›Ich schlafe, aber mein Herz wacht. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopfet: Tue mir auf, liebe Freundin, meine Schwester, meine Taube, meine Fromme, denn mein Haupt ist voll Taues und meine Locken voll Nachttropfen‹ – ›Ich habe meinen Rock ausgezogen, wie soll ich ihn wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie soll ich sie wieder besudeln?‹ – ›Und da ich meinem Freunde aufgetan hatte, war er fort und hinweggegangen … Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief, aber er antwortete mir nicht …‹«

Der Mann erhob sich mit einem sonderbaren Ruck. Er stieß sich gleichsam von Schwelle und Balken ab und stand aufrecht, aber leise schwankend, wie ein Taucher ohne Helm, in der Wildnis dieser grünen Tiefsee des Waldes.

Die leise Stimme der Frau ging ihm nach.

»Und da begriff ich plötzlich, was Jo gemeint hatte, als sie zu mir von dem einfachen und furchtbaren Gesetz sprach, unter dem alle Liebenden stehen, die trägen Herzens sind: das Gesetz der zu spät geöffneten Tür … Ich begriff, daß ich dich nie mehr einholen, dich nie mehr errufen könnte … Und ich wünschte mir, tot zu sein.«

»Du hattest eine schlaflose Nacht hinter dir«, murmelte der Mann.

Tilly Ebenezer lächelte mit ihrem fremden Munde, der durch den Ausdruck eines heftigen Willens zum Ehrlichsein etwas Knabenhaftes bekommen hatte.

»Ich kann mich an viele, viele Nächte erinnern, Josy, in denen du halbtot vor Müdigkeit an Wänden und Türen lehntest, um mir beim Tanzen zuzusehen. Drei Uhr … vier Uhr … Morgengrauen … Damals hörte ich ihn nicht; aber heute habe ich den erschöpften und sehnsüchtigen Klang deiner Stimme im Ohr: ›Meinst du nicht, Mädel, daß wir nun schlafen gehen sollten?‹ – Nein, Josy. Auf schlaflose Nächte bin ich trainiert.«

»Ich kann mich nicht entsinnen«, sagte Josy Ebenezer in den Wald hinein, »dir jemals Vorwürfe gemacht zu haben.«

»Hab' ich das behauptet? … Ist es eine Notwendigkeit zwischen Mann und Frau, die verheiratet sind und aufgehört haben, sich Zärtlichkeiten zu sagen, daß eins aus den Worten des anderen immer das Falsche heraushört?«

»Warum also, zum Teufel – bitte um Entschuldigung! –, wünschest du dir tot zu sein?!« fragte der Mann, aufs äußerste erbittert.

»Aber ich wünsche es mir ja gar nicht mehr, Josy.«

Er fuhr herum. Es war ihm anzusehen, daß er sich genarrt und an der Nase herumgezogen fühlte. Sein großes, graues Gesicht hing mit durchaus unfreundlichem Ausdruck über der Frau, die friedlich in der Hut ihres Mantels dasaß und die Augen mit stiller Bereitwilligkeit zu dem Manne erhoben hatte. Seine Blicke irrten ab und suchten ein anderes Ziel.

»Was ist das für ein Paket von Grünzeug da neben dir?« fragte er, sich niederbeugend.

»Faß es nicht an, Josy, es sind Brennesseln.«

»Brennesseln –?«

»Ja – und darin sind Forellen.«

»Für uns?«

»Natürlich.«

»Aber warum packst du Forellen in ein Zeug, das man nicht anfassen kann?«

»Ich kann sie schon anfassen, Josy. Der Hansl hat mir gezeigt, wie man es machen muß, um sich nicht zu brennen …«

Er glotzte sie an.

»Aha!« sagte er. »Jetzt sind wir bei dem Fischer angelangt. Ist der Fischer schuld daran, daß du nicht mehr tot sein möchtest?«

»Ja, Josy.«

Er lehnte sich an den nächsten Baum, den Rücken dagegen prellend, daß ein Schauer von Regentropfen auf ihn niederhuschte.

»Jetzt will ich damit fertig werden«, sagte er, die Worte kauend wie kalten Hammeltalg. »Einmal wird ja wohl dieser wahnsinnige Tag ein Ende haben!«

»Es ist aber der längste vom ganzen Jahre, Josy … Johannistag …«

»Was heißt das …«

»Es ist der Namenstag vom Fischerhansl.«

»Namenstag – bedeutet wahrscheinlich, daß man ihm Geld geben muß?«

»Nein, Josy. Heut ist der Hansl sehr reich. Jedes Jahr zu Johannis, an seinem Namenstag, gehört der Kalterbach ihm. Was er an dem Tag fängt, darf er behalten; das hat Jo verfügt.«

»Also hast du ihm die Forellen abgekauft?«

»Er hat sie mir geschenkt.«

»Du hast sie als Geschenk genommen –«

»Freilich. Ich hab' ihm ja auch stundenlang bei der Arbeit geholfen.«

Josy Ebenezer wischte sich übers Gesicht.

»Du hast ihm bei der Arbeit geholfen …«

»Ach, Josy«, sagte die Frau, die kleine, schmale – fremde Frau, »ich wollte, du wärst ein Fischer, und ich könnte dir stundenlang bei der Arbeit helfen …«

Wahrscheinlich wegen der Narben an den Knien, wollte Josy Ebenezer sagen. Aber irgend etwas in der Stimme seiner Frau hielt ihm die Worte auf der Zunge fest.

»... ich hatte ihn gar nicht kommen hören, obwohl er genagelte Schuhe trägt. Auf einmal stand er da – an den Baum gelehnt, der jetzt den Sonnenstreifen hat. Er grüßte und lachte mich an und fragte, warum ich da bei den Bildstöckln hocke und wo ich hinwolle bei dem nassen Wetter. Ich begriff ihn anfänglich kaum zur Hälfte, aber allmählich bekam ich doch heraus, daß er Jos Fischer sei und daß er seine Johannisforellen aus dem Kalterbach holen wolle und daß sein Freund, mit dem er sich hatte treffen wollen, aus Gott weiß was für einem Grunde nicht gekommen sei. Und nun suchte er jemand, der ihm half, die Fische tragen. Der ganze Johannistag drohte ins Wasser zu fallen, wenn der Hansl heute keinen fand, der ihm beim Fischen half. Verstehst du, Josy …?«

Der Mann gab keine Antwort. Seine gespannte Kehle schluckte unwillig. Er hatte einen schmalen Mund.

»Da sagte ich: ›Ich will Ihnen gerne helfen‹, und dann gingen wir zusammen. Das war ein sonderbarer Weg, Josy. Kennst du das Lied, das anfängt: Anders wird die Welt mit jedem Schritt … Nun, die Welt wurde anders. Das Haus verschwand für mich – verstehst du, was ich meine, Josy: das Haus als Begriff. Die Mauer. Das Dach. Plötzlich war nur Gestein da. Baumstämme. Wasser. Die Dinge, begreifst du, kehrten gleichsam zu ihrem Ursprung zurück. Und ich auch. Ich war das erste Weib, das dem ersten Mann, der eine Angel trug, zum Fischen folgte, um ihm zu helfen, die Beute heimzutragen. Aber es war nicht mehr ganz am Anfang aller Dinge. Die Güte war schon in der Welt. Das erste Lächeln zwischen Mensch und Mensch war schon getauscht worden. Die Geduld war schon erfunden und das Trösten. Und das wunderbare Aufeinander-Rücksicht-Nehmen. Er half mir nicht, wenn der Weg, der kein Weg war, schwierig wurde; er ließ mir nur Zeit, damit fertig zu werden. ›Kumm, Weibi, kumm!‹ sagte er, wenn er meinte, daß ich lang genug gerastet hätte und einer Aufmunterung bedürfe. Er teilte sein Brot mit mir, und ich lernte von ihm, Quellwasser aus der hohlen Hand zu trinken. Er schenkte mir die kurzen Sprüche seiner heiteren Fischer-Philosophie. ›Ein guter Fisch beißt gleich an – oder gar net!‹ Sprang ihm einer von der Angel, so ging er weiter: ›So san mer net, daß mer an jeden haben müssen‹ … Und die kleiner waren als die Spanne seiner Hand, löste er zart vom Haken und warf sie wieder ins Wasser: ›Laß mer'n wachsen!‹ So wanderten wir von der Quelle des Kalterbachs droben im Latschenhang immer weiter talab und hatten schon mehr als dreißig der prachtvollsten Forellen; aber die letzten tiefen Kessel waren noch vor uns – und da geschah es …«

»Was geschah –?«

»Ein kleines Wunder, Josy … Ein kleines, törichtes Wunder – für mich … Der Hansl«, sagte sie und schluckte, wie aus leisem Fieber vor sich hinredend, »der tötet die Forellen, die er gefangen hat, schnell wie der Blitz. Es ist ein einziger Griff zwischen Daumen und Zeigefinger, der ihnen das Genick bricht. Zuerst glaubte ich, es nicht mit anschauen zu können; aber Forellen sind Raubfische, Josy, und wenn man sie richtig betrachtet, sehen sie aus wie winzige Haie mit ihren bösen Augen und dem Maul voller Zähne. Und eine davon … Du mußt wissen, Josy, ich konnte dem Hansl nicht immer bis ganz hinunter zum Bach folgen. Ich bin das Klettern noch nicht gewöhnt, und ich hatte ja nur eine Hand frei, weil ich in der andern die Fische trug, und dazu die albernen Schuhe. Darum pflegte der Hansl zu pfeifen, wenn er tief unten in den Kesseln etwas an der Angel hatte, und dann lief ich zu ihm hin, so nahe ich konnte, und er warf mir die Beute herauf … Und die eine Forelle, ein großes und wild aussehendes Geschöpf mit blutroten Flossen und über ein Kilo schwer, die fing, nachdem sie schon eine Viertelstunde zwischen den Brennesseln in unserem Papiersack gelegen hatte, wieder an lebendig zu werden. Sie schnellte sich und schnappte, und ich schrie wie verrückt nach dem Hansl, und der kam angesprungen, mitten durch den Bach bergauf, triefnaß und entsetzt, weil er dachte, es sei mir etwas geschehen. Als er die Forelle sah – in ihren Augen war nichts von der Todesnot des Geschöpfes, Josy, nur ein giftiger Haß und ungebrochene Mordlust, da lachte der Hansl so ein trockenes, anerkennendes Lachen. Dann nahm er sie mit einem flinken Griff und schlug ihren Kopf kurz und hart gegen eine Baumwurzel … Und da geschah es …«

Tilly wandte sich um und sah dem Mann ins Gesicht. Aber sie schien ihn dennoch nicht zu sehen.

»Da geschah es«, wiederholte sie leise. »Im Sterben öffnete die Forelle das Raubfischmaul, und aus diesem tödlichen Rachen fiel eine kleine, dunkelgrüne Eidechse mit goldumrandeten Augen – fiel, und blieb liegen, regungslos. ›Schau‹, sagte der Hansl, ›die muß s' g'schnappt haben – grad eh s' mir an die Angel gangen is. Recht ist ihr g'schehen! Warum war s' so g'fräßig!' Und damit warf er die tote Forelle zu den andern und ging wieder an die Arbeit. Aber ich blieb bei der kleinen Eidechse sitzen. Ich weiß nicht, was mich trieb. Ich hob sie behutsam auf und setzte sie in ein ganz flaches, durchsonntes Wassertümpelchen, das der Regen im Gestein zurückgelassen hatte. Ich saß bei ihr und fühlte mein Herz zittern. Denn irgendwie … irgendwie … ach, wenn ich mich dir doch verständlich machen könnte, Josy! – irgendwie war ich dieses kleine Tier, das eigentlich schon tot war – irgendwie war meine eigene Seele in ihm – meine Seele aus dieser Nacht und diesem Tag. Und wer hat schon einmal gehört, daß eine kleine Eidechse gerettet worden ist, die von einer Forelle verschluckt wurde? Aber nach zehn Minuten, Josy, fing die kleine Eidechse wieder zu atmen an. Die winzigen Gliederchen regten sich ganz langsam, wie versuchend; die goldumrandeten Augen, die schon begonnen hatten, sich zu trüben, wurden tief und leuchtend schwarz und blieben ohne Furcht auf mich gerichtet. Ich lag auf den Knien vor dem kleinen atmenden Tier und hätte weinen mögen, weil ich ihm nicht begreiflich machen konnte, wie sehr ich es liebte … Als der Hansl kam, schüttelte er den Kopf und meinte, das sei ein Wunder – und dann machte er Feierabend, denn er hatte keine Regenwürmer mehr. Sechs der schönsten Forellen hat er mir geschenkt, aber die Haiforelle ist nicht darunter, die mochte ich nicht haben. Ich bat ihn, mich hier zu lassen, in der kleinen Kapelle mit der schwarzen Madonna, und er ging, denn Jo hatte ihm gesagt, man würde mich schon holen … Und dann kamst du …«

Schweigen. Hauchleise:

»... Schläfst du, Josy?«

»Nein.«

»Ich bin auch gleich zu Ende.«

»Wüßte nicht, warum du dich beeilen solltest.«

»Nicht meinetwegen, Josy. Aber weil du gestern sagtest, daß du wahrscheinlich heute abend schon wieder abreisen würdest –«

»Ich habe nicht die leiseste Lust dazu. Und wenn ich sie hätte, würdest du mich ja begleiten müssen.«

»Nein, Josy.«

Das Wort fiel wie ein feiner Klöppel auf eine Silberglocke; es schien in der plötzlich durchsonnten Luft fortzuschwingen, in allen Blättern zu funkeln, an der Spitze jeder Tannennadel zu glitzern, mit den geschwätzigen Wassern zu Tal zu laufen –

Sekundenlang hörte der Mann zu atmen auf.

»... Du würdest mich nicht begleiten?«

»Nein, Josy.«

»So … Du würdest mich nicht begleiten … Warum nicht?«

»... Josy, der Hansl hat mir erzählt: Der Kalterbach, den du da unten tosen hörst, ist einer der wunderbarsten und reichsten Forellenbäche von Berchtesgaden. Aber für eine bestimmte Strecke in ihm – sie ist an die dreihundert Meter lang, und der Hansl kennt sie genau – da bleibt kein Fisch am Leben. Es ist dasselbe Wasser, das über dieselben Felsplatten springt; dasselbe Moos wächst da, dieselben Farne und Bäume. Das Wasser bildet ebenso herrliche Kaskaden wie oberhalb und unterhalb der toten Zone, und die Mücken spielen zu Tausenden über den tiefen Kesseln – ein Paradies für Forellen, sollte man glauben. Aber die Fische bleiben ihm ängstlich fern, und wenn man fremde junge Brut hineinsetzt, geht sie zugrunde, und niemand weiß, warum …«

Ein kleines, krampfhaftes Lächeln ging über ihr Gesicht, als sie weitersprach:

»Der Hansl meint, vielleicht, daß irgendwo von unten her ein fremdes Wasser in den Kalterbach eindringe – ein ganz dünnes Rinnsal, das auch gleich wieder versickere, aber doch stark genug sei, den Kalterbach auf dreihundert Meter zu einem Giftwasser zu machen …«

Sie stockte und schöpfte Atem und sagte, wahrend ihr armes Lächeln starb:

»So bin ich in dein Leben eingedrungen, Josy – ein kleines Rinnsal, das dein Leben vergiftet hat …«

Ihre schmale, bittende Hand hob sich gegen die Faust des Mannes, die wie ein stummer Fluch in die Luft fuhr. Schwerfällig stand er auf, blieb abgewendet stehen, den Kopf, von dem der Hut gefallen war, im Nacken, die Fäuste in die Taschen bohrend.

»Ich will dein Leben nicht länger vergiften, Josy«, vollendete die Frau.

Er schwieg.

Jetzt war so viel Sonne über dem durchregneten Wald ausgeschüttet, daß die Augen das gleißende Licht nicht zu ertragen vermochten. Der Wald verdampfte Lichtsäulen, senkrecht aus dem Moos aufwölkend. Schräg in sie hineingeschleudert, zitterten Speerbündel aus silbernem Glast. Eine Ringdrossel warf ihr süßes, einsames Lied in die Stille. Sie fragte singend: Kommst du mit? – Kommst du mit?

Und immer wieder, nach einer Pause, in der sie auf Antwort zu warten schien: Kommst du mit? – Kommst du mit?

»Ich habe nichts mehr, das ich dir geben könnte, Josy«, sagte die Frau ohne Weinen. »Aber ich kann wenigstens etwas aus deinem Leben nehmen, das für dich schwer genug gewesen sein muß: daß du immerfort lügen mußtest um meinetwillen. Das wirst du nicht mehr nötig haben, Josy …«

Der Mann dachte an Jo. Er hörte ihre Stimme in seinem Ohr: ›Und Tilly liebt dich. Das ist ihr uneinholbares Plus‹ …

Er fing die Behutsamkeit auf, mit der die Frau sich erhob. Aber sie kam nicht zu ihm.

»Willst du mir eine Frage beantworten, Josy?«

Er nickte stumm.

»Wirst du dein Leben … mit Jo zusammen leben …?«

Er hob den Kopf mit einer langsamen und merkwürdigen Bewegung. Es war, als horche er in den Wald hinein. Ja, er horchte in der sonnenfeierlichen Heiterkeit des Waldes nach dem Herzschlag Jos.

»Nein, Tilly«, sagte er.

Das Lied der Ringdrossel fragte: Kommst du mit? – Kommst du mit?

»Dadurch wird vieles leichter«, sagte die Frau. Es war ihrer Stimme anzuhören, daß sie lächelte. »Laß mich hierbleiben, Josy. Damit ich – irgendwie … Gestalt gewinnen kann … Denn jetzt bin ich ein Nichts … Einmal war ich etwas: die Frau, die du liebhattest. Jetzt – bin ich gar nichts mehr. Ich komme mir vor – Jo würde sagen: wie durch den Wolf gedreht. Wie durch eine Altweibermühle gewalkt. Wie die kleine Eidechse, als sie aus dem Maul der Forelle fiel. Vielleicht geschieht auch an mir und für mich das Wunder, das der kleinen Eidechse geschehen ist, Josy …«

Der Mann schwieg. Er sah sich selbst auf einer Wiese sitzen, die golden war von goldgelben Butterblumen. Und neben ihm, da saß Jo. Jo sagte: ›Ich will, daß du mich liebst – ich will, daß du mich liebst in der Frau, die ich dir bringen werde‹ – ›Gleicht sie dir, Jo?‹ – ›Noch nicht … Aber vielleicht, wenn sie glücklich ist, wird sie mir gleichen.‹

Süße Jo. Kluge Jo. Tückische Jo.

Er drehte sich um und sagte heiser:

»Wir wollen nach Hause gehen …«

Es war, als sollten das die letzten Worte sein, die er an diesem Tage noch zu sprechen gedachte. Er blieb stumm für den Heimweg und stumm für die Begrüßung Jos. Stumm saß er bei Tisch vor dem lachsrosa Fleisch der Forellen. Stumm nickte er ›Gute Nacht‹, ging stumm in die Kammer hinauf, bevor noch der längste Tag des Jahres sein letztes tiefpurpurnes Glühen auf dem ewigen Schnee des Hohen Göll gelöscht hatte.

Die beiden Frauen saßen schweigend unter den Ulmen, unter dem großen Himmel, der sich tiefer und tiefer färbte und schon vom Lichte des noch unsichtbaren Mondes silbernen Schmelz gewann. Lebhaft, in Herrlichkeit funkelten die Sterne, aus dem reinen Himmel tretend, und immer süßer wurde das vertraute Geflüster des Brunnens.

Jo stellte keine Frage. Das war das Wunderbare an Jo, daß sie nie eine Frage stellte. Aber Tilly, vornübergebeugt, die Hände zwischen den Knien, von den Lippen bis zu den Fußgelenken an ein hemmungsloses Zittern verloren, hatte ein Gefühl, als seien Jo und sie und der Mann in seiner dunklen Kammer durch eine unsichtbare Hochspannungsleitung miteinander verstrickt. Die Nacht wartete. Worauf? Auf sich selbst. Die Nacht wollte sich selbst erfüllen.

Die Nacht erfüllte sich selbst.

Ein kleiner, grüner, schwebender Funken kam aus der Dunkelheit des Gartens. Eine kleine smaragdene Sehnsucht ließ ihren winzigen Scheinwerfer zwei, drei Sekunden lang über die Menschengesichter spielen – und irrte weiter, suchend, suchend. Aber plötzlich, wie von ihm entzündet, brannten auf den Bergen ringsum die Feuer der Johannisnacht, lautlos zur Erde gestürzte, große, zersprühende Sterne.

Tilly Ebenezer hob die Hände vor ihren Mund. Jo beugte sich vor.

»Hörst du nicht?« fragte sie flüsternd.

»Nein«, sagte Tilly. »Nein!« mit einem wilden Kopfschütteln.

Aber da war ihr Name, den eine Mannsstimme rief – ihr Name, rauh und ohne Federlesen in die Nacht hineingerufen aus einem lichtlosen Haus. Der Ruf war mürrisch und sehr ungeduldig und ganz ohne Zärtlichkeit. Doch es war unmöglich, ihn zu überhören.

»Lauf!« sagte Jo, und es konnte sein, daß sie lachte; aber vielleicht war sie sehr ernst. »Warum läufst du nicht? Er ruft dich, du –! Willst du Bedingungen stellen, in welcher Melodie er dich zu rufen hat?«

Tilly Ebenezer lief auf das Haus zu. Sie lief in einem kobaltblauen Nebel. Sie lief in eine tuscheschwarze Dunkelheit hinein. Eine Treppe hinauf, deren Stufen immer mehr wurden. Sie prallte gegen den Mann, der am Ende der Treppe stand. Sie wurde gepackt und in die Kammer verschleppt, wurde aufgestellt und geschüttelt.

»Warum dauert es drei Ewigkeiten, bis du kommst, wenn ich dich rufe –?«

Ihr Gesicht, zu ihm aufgehoben, schimmerte in der Nacht, fremd unter dem bunten Tuch, das noch immer ihr Haar bedeckte. Sie wollte sprechen, aber er gab es nicht zu. Er legte seine Hände um ihre Arme. Er tat ihr grausam weh, aber sie sah ihn an.

»Ich verspreche dir nichts, Tilly, hörst du?!« sagte er, als risse er sich jedes Wort einzeln aus dem Halse. »Ich verspreche dir nichts! Es ist nichts gut zwischen uns! Es gibt Dinge, haufenweise, die ich an dir hasse – und Dinge, die mir auf die Nerven fallen – und Dinge, die verflucht sein sollten zwischen Mann und Frau … Ich weiß nicht, wie es ausgehen wird, Tilly – Gott helfe mir, ich habe keine Ahnung … Aber schließlich … schließlich …« und seine Hände lockerten ihren Griff und tasteten sich aufwärts nach dem zarten Halse und nach den Wangen der Frau – »schließlich«, fuhr er fort, während sein großer, zerklüfteter Kopf mit der Stirn auf ihre Stirn sank, »hast du einer kleinen dunkelgrünen Eidechse mit goldumrandeten Augen das Leben gerettet … Es wird nichts daraus, daß du hierbleibst, wenn ich weggehe … Hast du mich verstanden, Tilly?«

»Ja«, sagte die Frau.

Und der Mann, mit einer schweren und verwunderten Gebärde den Kopf hebend und über sie fort ins Leere schauend, horchte dem Worte nach. Denn es war, als sei dies das erste Ja gewesen, das er je von ihr vernommen hatte.


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