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1

Das war ein Weg – wie von einem Regenwurm entworfen!

Hin und her und hin und her schraubte er sich zur Höhe hinauf – Wald rechts und links, mauerdicht, daß man nur ja nicht sah, wohin man fuhr und was einem entgegenkommen konnte. Und Vollrath nahm diese mordsüchtigen Kurven wie ein Irrer. Pausenlos ließ er die Hupe heulen und jagte immer wieder das herrische Aufjaulen des Kompressors hinein, sobald er einmal armselige zweihundert Meter klar vor sich hatte.

Tilly Ebenezer war drauf und dran, vor Nervosität aus dem Wagen zu springen. Aber sie hatte nicht darauf schwören können, daß diese Verzweiflungstat irgendwelche Bremswirkung auf Vollrath ausüben würde. Sie wußte zu genau, was diesen berühmten Fahrer des Mannegoldschen Hauses, diesen menschgewordenen Motor trieb, ununterbrochen auf höchster Tourenzahl zu laufen: weil es zu der Frau ging, zu der Frau seines Chefs, die – alle Spatzen würden es, dank Jo, in Kürze von den Dächern pfeifen! – seinem Chef davongelaufen war und die, wenn irgend möglich, zurückzuholen man sie als Schwägerin und Schwester beauftragt hatte.

Es sollte nur den Anschein einer kurzen Erholungsreise haben – daher diese nette kleine Parforcetour mit dem Wagen, in dem man weiß Gott wie in einem Himmelbett saß, der aber diesen losgelassenen Vollrath am Steuer hatte. Vollrath war ein Dämon. Eingenebelt in ein Wirrsal von Angst und Geschwindigkeitsrausch, Hilflosigkeit und atemraubender Neugier, wie Jo sie wohl empfangen würde, ließ Tilly ihre hübschen, ein wenig auf » Oh indeed!« dressierten Augen auf dem sonnenbraunen Nacken Vollraths ruhen und haßte ihn ebenso fanatisch, wie sie Jo um diesen Fahrer beneidete. Denn sie wußte sehr gut, daß ihr eigener Schofför dreißig Kilometer pro Stunde für ein völlig ausreichendes Tempo erachtet haben würde, um einem Wiedersehen mit Frau Tilly Ebenezer entgegenzufahren.

Sie schluckte ein paarmal und wischte sich mit dem Taschentuch über die nervöse kleine Hasennase, auf der Puder und Staub eine unlösbare chemische Verbindung eingegangen waren. Vor zwei Tagen, im Kranz der zahlreichen Familienmitglieder, die ihr allesamt versicherten, daß von ihrem Takt und ihrer fraulichen Geschicklichkeit das Heil des schwer angeknockten Hauses Mannegold abhinge, da war sie von einer herrlichen, prickelnden Überlegenheit gewesen. Sogar ihren Bruder, dieses Wunder der Beherrschtheit, von dessen Asphaltgesicht auch die feinste Spürnase nicht abgeschnüffelt hätte, daß ihm soeben die Frau durchgegangen war – sogar ihn hatte sie, ihre plötzliche Wichtigkeit genießend, mit lächelnden, ein wenig gönnerhaften Augen betrachtet, während er auf sie einsprach:

»Ich gebe dir Vollrath und den neuen Mercedes« – es klang wie: ›Ich stelle dir die Bank von England zur Verfügung‹ –; »vierzehn Tage genügen für eine vorgeschobene Vergnügungstour. Am fünften Juli spätestens erwarte ich, euch abends bei Tisch zu Hause vorzufinden, als wäre nichts geschehen. Ich halte es für ausgeschlossen, daß du ohne Jo zurückkommst, liebe Lilly!«

»Ich auch«, hatte sie lächelnd erwidert.

Wie kam sie eigentlich dazu –!

Jetzt, da sie ganz und gar ohne stützende Familienpfeiler von diesem tobsüchtigen Vollrath dem Wiedersehen mit Jo entgegengeschleudert wurde, jetzt begriff sie sich selbst nicht mehr. Kannte sie Jo überhaupt? Kannte irgend jemand auf der Welt diese meuterische Jo, die nach fünfzehnjähriger Ehe ihrem Mann davonlief – ohne den geringsten Grund, ohne den leisesten Anschein von Berechtigung? Lieferte man sie, die kleine, entsetzlich nervöse Tilly Ebenezer, nicht schutzlos einem Unternehmen aus, das verzweifelte Ähnlichkeit mit der topographischen Erschließung eines unbekannten Erdteils hatte?

Noch eine Minute dieser körperlichen und psychischen Folterung, und sie würde in das bitterliche Schluchzen eines überanstrengten Kindes ausbrechen –

Da zog Vollrath die Bremsen an. So plötzlich, daß Tilly wie ein Bündelchen Seidenlappen vornübertauchte. Sie hörte einen kurzen, rauhen, heißen Laut unverhohlener Mannsfreude.

Und da stand Jo am Wege.

Schön und heiter stand sie da. Und fremd – fremd … Wodurch eigentlich? Kleid? Haar? Sonnenbräune? Oder war es das Gesicht? Dieses erhellte, ganz schwerelose, in seiner Heiterkeit gleichsam schwebende Gesicht? Aber etwas davon war doch, schon immer in Jos Gesicht gewesen …

Tilly Ebenezer versuchte zu lächeln, ein kleines, zerknautschtes Ratlosigkeitslächeln.

»Da seid ihr«, sagte Jo und nickte Vollrath zu, der aus dem Wagen vor sie hingesprungen war. »Guten Tag, Vollrath! Guten Tag, Tillychen! Willst du nicht aus deiner Ecke herauskommen? Das letzte Stück zur Höhe mußt du schon deinen Füßen zumuten … Auf die Minute seid ihr gekommen … Ich habe im Regensburger Hotel angerufen, wann ihr abgefahren seid – und ich weiß, wie Vollrath fährt.«

Sie sah den Fahrer an, dessen braunes Gesicht plötzlich von einer guten Stille erfüllt schien. Es wurde fast einfältig in seinem völligen Anszielgekommensein. Der ganze Mann sah aus wie ein großer Hund, der gelobt wurde und sich nun gleich mit einem zufriedenen Seufzer in die Sonne legen wird.

»Wie geht es zu Hause, Vollrath?« fragte Jo.

Er begriff, nach wem sie fragte. Er gab seinen Bericht, wie die Frau ihn verlangte, und die Dame, die sich im Wagen aus Decken, Schals und Staubmänteln zappelte, war für ihn nicht da. Genug, daß er sie auf dem Platz hatte dulden müssen, auf dem sonst die Frau zu sitzen pflegte.

»Ich soll der gnädigen Frau recht viele Grüße ausrichten. Und es geht allen soweit ganz gut. Nur die gnädige Frau fehlt uns sehr. Und ich soll von allen sagen, die gnädige Frau möchte doch bald wiederkommen.«

»Danke, Vollrath.« Ernsthaft sahen Jos Augen in die ernsthaften Augen des Mannes. »Sie werden, wenn Sie heimkommen, alle tausendmal von mir grüßen. Und es freut mich, daß ich euch fehle. Ja, das freut mich, Vollrath. Aber ich komme nicht wieder. Nein.«

Darauf wußte Vollrath nichts zu sagen. Wenn die Frau es so beschlossen hatte, mußte es wohl richtig sein. Wortlos drehte er sich um und half Tilly Ebenezer auf die Straße herunter. Jo sah, daß ihre Schwägerin blutrot im Gesicht war. Sie lächelte und zog Tillys Hand an sich, eine kleine, widerspenstige, entrüstete, empörte Hand in von Staub mißhandeltem, kostbarem Leder.

»Jetzt schleppe ich dich in meine Höhle, Tillychen. Vollrath, ich schicke jemand, der die Koffer holt. Sie werden den Wagen in der Garage am Bahnhof unterbringen. Und dann kommen Sie auch zu mir herauf. Ich habe zwar nur eine winzige Kammer für Sie, aber ich dachte, Sie würden lieber unter meinem Dach als unter einem fremden schlafen.«

»Ja, gnädige Frau.«

Ja. Nicht: Jawohl …

Jo hielt noch immer Tillys Hand umschlossen. Jetzt gab sie den Häftling frei und öffnete die kleine Gitterpforte, die jenseits eines schmalen, trockenen Grabens am Rande der Straße in eine lebendige Hecke geschnitten war. Was dahinter lag, konnte man nicht sehen; dunkel ansteigender Wald zog den Hügel hinauf. Jenseits der Pforte führte ein schmaler, sanft anmutender Weg unter den Bäumen aufwärts.

»Sei mir willkommen, Tillychen!« sagte Jo mit ihrer entnervenden Heiterkeit und hielt die Pforte offen.

Tilly antwortete nicht. Sie machte einen protestreichen Schritt über den Graben hinüber, ging an dem Lächeln Jos vorbei und zerrte die Handschuhe von den feuchtgewordenen Händen. Wieder saß ihr das Schluchzen der Überanstrengung in der Kehle. Eine Verrückte war sie gewesen, als sie sich breitschlagen ließ – als sie, um ehrlich zu sein, sich anbot, Jo zurückzuholen. Ja, verrückt – verrückt –! Mit gesenktem Kopfe lief sie auf ihren dünnen, hochhackigen Schuhen diesen harmlos tuenden, bösartigen Weg bergan.

»Du wirst die Puste verlieren, Tillychen«, sagte Jos Stimme ein beträchtliches Stück hinter ihr.

Tilly wandte sich um und blieb stehen. Auch dieser Weg in seiner Schmalheit hatte einen Regenwurm zum Architekten gehabt. Das schien hier landesüblich. Aber in dieser Minute kam es Tilly Ebenezer wunderbar zupaß. Sie stand oberhalb einer dieser vermaledeiten Kurven, und Jo stand unterhalb, das aufgehobene, in seiner Heiterkeit schwebende Gesicht in der Höhe von Tillys Füßen. Es schoß der kleinen Tilly durch den Kopf, irgendwo einmal gelesen zu haben, daß es in Streitfällen von unschätzbarem Vorteil sei, seinem Gegner von oben herab in die Augen zu sehen. Sie nahm diesen Vorteil wahr und allen Mut zusammen.

»Du bist unmöglich, Jo!« sagte sie halb leise und kämpfte um den Atem mit einer erbärmlichen Aussichtslosigkeit. »Unmöglich–! Einfach unmöglich –!«

»Warum, Tillychen?« fragte Jo. Sie schien von der Theorie des Höher- respektive Tieferstehens nicht übermäßig viel zu halten. Sie blieb sehr friedlich unten stehen und fing das Bild der kleinen kriegerischen Person über ihr in lächelnden Augen auf.

»Nenne mich nicht immer Tillychen! Es klingt, als wolltest du einen hysterischen Affenpinscher beruhigen! Ich bin hierhergekommen, weiß Gott nicht gern, um sehr, sehr ernst mit dir zu reden –«

»Aber doch nicht vor dem Mittagessen, Tillychen –«

»– und du empfängst mich – nein, du hast mich überhaupt nicht empfangen! Du hast den Herrn Schofför Vollrath, den schließlich und endlich mein Bruder bezahlt, eher begrüßt als mich! – Und hast dich, ohne auch nur eine Höflichkeitsfloskel an uns zu verschwenden, bei ihm nach den Dienstboten erkundigt, als seien sie dir tausendmal wichtiger als wir von der Verwandtschaft alle miteinander –«

»Das sind sie mir auch«, sagte Jo.

Frau Ebenezer stampfte mit dem Fuß auf. Sie empfand ihren erhöhten Standpunkt irgendwie als wackelig und vulkanisch, aber sie war nun einmal im Schwung und fühlte die unsichtbaren Heerscharen einer großen Familie gleichzeitig als Schutz und Anfeuerung rund um sich her.

»– und zu guter Letzt hältst du es auch noch für unbedingt notwendig, Herrn Vollrath –«

»– den schließlich und endlich dein Bruder bezahlt –«

»– dein Mann! – Er ist noch immer dein Mann!«

»Ja, Tillychen. Wir meinen beide Herrn Eberhard Mannegold. Nicht wahr? Aber siehst du, er wird noch immer dein Bruder sein, wenn er schon längst nicht mehr mein Mann ist; das ist der Unterschied und das Mirakel.«

Tilly Ebenezer brach überganglos in Tränen aus, was Jo augenblicklich an ihre Seite brachte.

»Aber Tillychen, Tillychen –!«

» Mußtest du diesem Vollrath gleich damit ins Gesicht springen, daß du nicht mehr nach Hause zurückkehren willst –?! Wir alle zerfasern uns die Lippen, um den Leuten dein – dein –«

»Durchbrennen –«, half Jo aus.

»– als eine plötzliche Laune einzureden, als eine schon wieder behobene Hysterie –«

»Herzlichen Dank.« Jo schob die Hand in den Arm der kleinen Schwägerin und zwang sie milde zum Weitergehen. »Komm, Tillychen.« Der Weg war schmal, aber die beiden schlanken Frauengestalten gingen ihn nebeneinander. »Man hat dir da eine schöne Geschichte aufgehalst. Ja, ja, die liebe Familie … Das ist schon eine tolle Erfindung. Von einer undurchdringlichen und unlogischen Logik. Von einer konsequenten Inkonsequenz. Das erste Buch Mosis berichtet uns nichts davon, wie sich Adam und Eva mit ihrem Sohn Kain wegen des Mordes an ihrem Sohn Abel auseinandersetzten. Aber wegen der unsympathischen Schwiegertöchter, die Kain aus dem Lande Nod ins Haus brachte, scheint es ernstlichen Krach in der Familie gegeben zu haben … Zu wievielt habt ihr denn Kriegsrat abgehalten?«

»Jo, du ahnst nicht, was du der Familie angetan hast!« sagte Tilly Ebenezer flüsternd, und in ihrem Flüstern war mehr ehrlicher Kummer als in irgendeinem lauten Satz, den sie vorher gesprochen hatte.

»Doch, Tillychen.«

»Aber es ist dir ganz egal!«

»Bis in die Knochen!«

»Freilich, wenn dir das Wohlergehen der Dienstboten wichtiger ist als das deiner Familienmitglieder –«

»Tillychen«, sagte Jo bedachtsam und guckte auf den Weg, der immer sanft zwischen Bäumen und Gestein bergan stieg, »ich habe mich fünfzehn Jahre lang als wohlerzogener Mensch bei den verschiedensten Mitgliedern dieser Familie erkundigt, wie es ihnen ginge, und fünfzehn Jahre lang von jedem einzelnen zur Antwort bekommen: ›Wie soll's mir schon gehen? Mies geht's!‹ Jetzt frage ich nicht mehr, weil es herzlos wäre. Man soll die Menschen nicht immer an ihr Elend erinnern.«

»Schließlich hat ja auch jeder seine Sorgen«, sagte Tilly Ebenezer.

»Freilich, freilich. Ich habe sie alle dick und rund werden sehen bei ihren Sorgen. Auch die Frauen – bevor die Sache mit den fünf rohen Karotten und den hundert Gramm Weißkäse zum Abendbrot aufkam. Aber meine Leute …«

Sie machte eine kleine, haschende Bewegung mit der rechten Hand, eine Bewegung, die Tilly so gut an ihr kannte. Es war, als wollte sie eben noch etwas einfangen, das ihr schon entglitt und worauf sie schon verzichtete. Tilly ging auf Jagd nach ihrem Taschentuch.

»Warum heulst du eigentlich ununterbrochen, Tillychen?«

Frau Ebenezer stampfte zum zweiten Male mit dem Fuß auf.

»Du sollst mich nicht immer Tillychen nennen«, schrie sie unter krampfhaftem Schluchzen.

»Schön – werde ich in Zukunft Mathilde zu dir sagen.«

»Nein! Das erst recht nicht!«

»Dann bleibt es also bei Tillychen. Du bist ja, wie ich immer deutlicher sehe, auch wirklich nicht mehr als ein kleiner hysterischer Affenpinscher, den man beruhigen muß. Sag mal, mein Kind, stimmt etwas bei dir nicht?«

»Du lieber Gott, was sollte denn bei mir nicht stimmen?«

»Das wirst du besser beantworten können als der liebe Gott.«

»Ich bin einfach nervös …«

»Tillychen, es gibt keine nervösen Frauen.«

»Ach, Jo –! Du mit deinen barocken Behauptungen!«

»Meinst du paradox?«

»Ich meinte barock!«

»Verstehst du darunter etwas Aufgeplatztes? – So eine Mischung aus weißgoldenen Gewittern und ekstatischen Pellkartoffeln?«

»Ja–a, vielleicht …«

»Dann bist du im Irrtum, Tillychen. Meine Behauptung ist so schlicht wie eine Stahlmöbelkonstruktion. Es gibt keine nervösen Frauen; aber es gibt haufenweise Frauen, bei denen Herz und Unterleib durcheinandergeraten sind.«

Tilly Ebenezer stieß mit dem Kopf gegen die Luft, als spränge sie durch einen brennenden Reifen.

»Du bist bei Gott unmöglich, Jo«, sagte sie und schluckte nach Atem. Ihre Zähne klirrten aufeinander, und vor diesen klirrenden Zähnen stand ein kleines, entblößtes Lächeln in erbarmungswürdiger Armut. Jo betrachtete sie aufmerksam.

»Und so was will mich zurückholen«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich habe mir erzählen lassen, daß gezähmte Elefanten geradezu versessen darauf sind, den Menschen beim Einfangen wilder Elefanten behilflich zu sein. Eigentlich sollte man's nicht für möglich halten, daß Elefanten pervers sind … aber wie, in Gottes Namen, soll man das sonst bezeichnen?«

Tilly Ebenezer riß sich den Hut vom Kopf, als wollte sie sich skalpieren.

»Du verstehst es, einem heiß zu machen!« sagte sie erbittert. »Geht das noch lange so bergan?«

»Warum läßt du dein Haar so verwildern, Tillychen?«

»Findest du es verwildert?«

»Ja, schauderhaft. Man muß bei einem Stil bleiben, Tillychen. Du schminkst dich, soweit es sich noch feststellen läßt, auf Vanity fair, und um das Haar herum siehst du aus wie ein Eskimoweib aus verregnetem Heu.«

»Wie was?«

»Später, später! Was sagt Josy dazu?«

»Gott – Josy … Ich glaube gar nicht, daß er es bemerkt …«

Pause.

»Hm«, machte Jo.

Sie gingen.

»Übrigens«, sagte Tilly Ebenezer mit einer fahrigen Plötzlichkeit, ohne den Blick von den kleinen grauen Steinen des Weges zu heben, »er wollte mich eventuell abholen … Das heißt: dich und mich – wenn alles in Ordnung geht … Er würde von Wien mit dem Flugzeug herüberkommen …«

»Das soll er auf jeden Fall tun!« antwortete Jo mit Nachdruck. Dann lächelte sie. »Aber vorläufig bist du selbst ja eben erst gekommen, Tillychen. Hast du eigentlich schon einen Blick gehabt für die Welt, in die du durch Familienratschluß gefallen bist?«

»Nein, Jo. Hinter Regensburg hat es geregnet, und sobald wir uns den Bergen näherten, ist Vollrath vor lauter Sehnsucht nach dir in einem Tempo gefahren, daß ich vor Angst nicht rechts noch links gesehen habe – – –«

»Sei mir nicht neidisch um Vollraths Sehnsucht, Tillychen.«

»Neidisch –! Na weißt du, Jo –!«

»Schsch … Es ist etwas ganz Wunderbares um so einen Menschen, Tillychen. Er ist vollkommen in dem, wozu er berufen ist, und über diesem vollkommenen Können liegt das unnotierbare Etwas, das an den Börsen nicht gehandelt wird: der Ehrgeiz, als bester Könner den besten Verwerter zu haben. Ich kann mir vorstellen, daß dein Schofför dich eines schönen Tages umbringt, weil du ihm auch auf der Avus nie mehr als fünfundvierzig Kilometer bewilligst. Und wenn ich sein Richter wäre, würde ich ihn freisprechen. Komm, sieh mich nicht so entsetzt an, Tillychen, dein Schofför wird dich nicht umbringen – er wird dich nur nach besten Kräften betrügen und dir kündigen, weiter nichts! Und jetzt hole Atem und schau dich um! Da hast du mein Haus – und das sind meine Berge.«

Tilly Ebenezer hob den Kopf und blieb stehen.

Zwischen den beiden Giebelfenstern des Hauses, das Jo Mannegold gehörte, stand ein Wort geschrieben:

Glück.

»Bist du gar nicht abergläubisch, Jo?« fragte Tilly Ebenezer flüsternd.

»Nein, Tillychen. Ich halte den lieben Gott nicht für rachsüchtig und auch nicht für albern … Ich kann mir sogar vorstellen, daß der liebe Gott, wenn er auf mich und dieses Haus herunterschaut, sich mit einem kleinen Aufatmen der Erleichterung abwendet und denkt: Diese Jo darf man jetzt ruhig ein Weilchen sich selbst überlassen. Glaubst du nicht, daß er mir dafür dankbar ist, der Viel-zuviel-Bemühte?«


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