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Wer sind Sie?!«
Der Ton dieser Frage bereitete auf äußerst bösartige Schärfe des Verhörs vor, bedingt durch äußerst bösartige und noch dazu uneingestandene Enttäuschung.
»Wenn Sie zwei Minuten warten wollen, bis ich mich angezogen habe, will ich es Ihnen sagen«, antwortete das Geschöpf im bunten Mantel, ohne Überstürzung ins Badezimmer schlüpfend.
Ebro Mannegold setzte sich mit soviel äußerer Würde, als eröffne er die Hauptverhandlung des Jüngsten Gerichts. Aber innerlich war er durchaus noch nicht zu sich gekommen. Er starrte, die flachen Hände auf die Knie gestemmt, durch die offene Tür in den Dachgarten hinaus. Er fixierte glotzend eine kleine laubfroschgrüne Gießkanne, die umgepurzelt auf dem Wege lag. Sie war feucht und glänzte. Alle Blätter und Blumen des Gartens da draußen waren feucht und glänzten. Eigentlich doch eine ganz gute Idee: inmitten dieser Gluthölle aus Stein und Beton der frische, lebendige Garten. Aber wer, zum Teufel, war die Person, die, nackt wie Eva vor dem folgenschwersten Obstdiebstahl der Welt, ihn an Jos Stelle pflegte und goß? Die in Jos Kammer wohnte und jetzt, wie er mit einem schrägen Blick feststellte, in den mohnroten Schuhen Jos aus Jos Badezimmer zurückkam?
»Ist das schnell gegangen?« fragte sie munter.
Ebro Mannegold schwieg, weil er es nicht leugnen konnte. Aber es schien auch nicht allzuviel zu sein, womit der Bademantel vertauscht worden war, denn aus den roten Schuhen wuchsen die sonnenbraunen und edlen Beine in untadeliger Nacktheit schön und schlank zum Saum des Kleides empor, und aus dem Weiß dieses frischen, schmalgegürteten Kleides leuchteten Hals und Arme wie blasses Gold.
»Das bringt der Beruf so mit sich«, sagte die junge Schönheit zufrieden. »Der macht uns flink.«
Ebro Mannegold besann sich auf seine Pflichten.
»Welcher Beruf?« fragte er, leicht mit den Augen blinzelnd. Er gehörte zu den Männern, die außerstande sind, sich berufstätige Frauen im Privatleben vorzustellen.
»Mannequin.«
»Wie bitte?«
»Mannequin. Sie werden doch hoffentlich wissen, was ein Mannequin ist?«
»Sie sind Mannequin?«
»Und eines der bestbezahlten, Gott sei Dank!«
»Das interessiert mich nicht!« Ebro Mannegold wuchs aus seinem Stuhl in die Höhe, bis er fast an die Decke stieß. »Wollen Sie mir jetzt bitte umgehend erklären, mein Fräulein, wie ein Mannequin dazu kommt, in meinem Hause und noch dazu in den allerprivatesten Räumen meiner Frau zu wohnen?!«
»Erstens«, sagte das junge Geschöpf etwas unmutig, »zahle ich pünktlich jeden Monat meine Miete dafür …«
»Das Haus Mannegold«, sagte der Chef besagten Hauses mit Würde, »hat Zimmer genug für Gäste, aber es vermietet keine Zimmer!«
»... und zweitens – wissen Sie, daß es sehr unartig ist, eine Dame zu unterbrechen? –, zweitens«, fuhr sie fort und lächelte schon wieder, »bin ich mit Jo verwandt und auf ihren ausdrücklichen Wunsch hier.«
Ebro Mannegold sah sie an.
»Sie sind mit Jo verwandt?!« Aber er brauchte das Ja der Bestätigung nicht. Das war Jos Lächeln – nein, es war gewissermaßen die Knospe ihres Lächelns, und – ja, das waren auch Jos Augen, obwohl zu ihnen im gleichen Verhältnis stehend wie ungeschliffene Edelsteine zu geschliffenen.
»Es macht nichts, daß wir verwandt sind – wir lieben uns trotzdem«, sagte das Mädchen.
»Aber dann sind Sie doch gewissermaßen auch mit mir verwandt …«
»Gewissermaßen – ja …«, antwortete sie zögernd. Sie schien keinen sonderlichen Wert auf die Betonung dieser Tatsache zu legen.
Ebro Mannegold fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Er setzte sich wieder.
»Sie müssen entschuldigen«, sagte er, »ich stehe hier plötzlich vor Neuigkeiten – ich habe bis heute nicht die leiseste Ahnung gehabt, daß sich unter meinen Verwandten auch Mannequins befinden. Ich gebe zu, daß mich diese Entdeckung etwas überwältigt!«
»Ja«, sagte das Mädchen, das im Türrahmen lehnte, die Hände auf dem Rücken, die schönen Füße gekreuzt, »ich habe mir immer gedacht, daß Sie ziemlich weltfremd sein müssen, nach allem, was man so von Ihnen hört … Bitte, betrachten Sie meine Schuhe nicht so mißtrauisch. Es sind Jos Schuhe, aber sie hat sie mir geschenkt, weil ich sie so reizend fand. Sind sie nicht wirklich reizend?«
»Sehr reizend. – Aber wollen Sie mir nun nicht doch Ihren Namen nennen?«
»Lorenz.«
»Und der Vorname?«
»Ja, nun kommt die große Schwierigkeit!«
»Wieso?« Und bei einer Verwandten von Jo auf alles gefaßt, fragte er weiter: »Sind Sie vielleicht noch nicht getauft?«
»O doch – vor genau neunzehn Jahren. Da hat man mich wehrloses Wurm nach meinen beiden Großmüttern Auguste Konstanze genannt. Aber wagen Sie es bitte niemals, mich so zu rufen. Meine Mutter, die zärtlichste Mutter der Welt, rief mich Lore, weil ich als Kind am liebsten bei dem Gezirpe einer kleinen Spieldose einschlief, die das Lied von der Lore am Tore spielte. Mein Vater, der mich liebte bis zur Angst, der nannte mich Minne. Als ich geboren wurde, nahm er mit blindem Griff ein Buch aus dem Schrank – denn er war ein bißchen abergläubisch –, schlug es auf und legte geschlossenen Auges den Finger auf ein Wort, und das war das Wort Minne. Wie gut, daß es nicht ›Einkommensteuererklärung‹ war – nicht?«
Sprich nur weiter! dachte der Mann. Er hatte sich so weit nach vorn gebeugt, daß sein Gesicht nicht zu erkennen war. Sprich nur weiter! Wenn ich die Augen schließe, höre ich in deiner hellen Stimme zuweilen die dunkle Stimme Jos, dieselbe Melodie, von einer Geige und einem Cello gespielt.
»... und schließlich wurde Minnelore draus. Aber als meine Eltern gestorben waren und Jo mich jämmerliches Etwas in ihre Hände nahm, da meinte sie, die Zeiten seien nicht nach Minnelore, ich sollte mir den Namen lieber aufheben für später einmal, da würde ich ihn wahrscheinlich gut brauchen können. Sie selber hat mich Judica genannt, nach dem schönen Sonntag im Frühling, an dem ich geboren bin. Und meine Kolleginnen nennen mich ›Horch 8‹, weil sie wissen, daß ein Horch 8 der Traum meines Lebens ist, auf den ich spare wie ein Hamster. – Für welchen Namen werden Sie sich nun entscheiden?«
»Ich möchte fürs erste doch bei Fräulein Lorenz bleiben«, antwortete der Chef des Hauses Mannegold. Er hörte die Stimme Josys in seinen Ohren: Steifleinenfabrikant … Er biß sich auf die Lippen. Seine Augen suchten ihre Zuflucht bei der kleinen grünen Gießkanne auf dem Wege draußen, während er weitersprach: »Wenn ich mich recht entsinne, behaupteten Sie vorhin, Sie seien auf den ausdrücklichen Wunsch meiner Frau hier … Wie, verzeihen Sie, können Sie das belegen?«
»Trauen Sie mir nicht?«
»O doch …«
»O nein! Was sind Sie für ein armer Teufel, Ebro Mannegold! Wie kommen Sie überhaupt mit der Welt zurecht, wenn Sie's den Leuten nicht an der Nasenspitze ansehen können, ob sie lügen oder die Wahrheit sagen? … Glücklicherweise habe ich einen Brief von Jo. Wollen Sie ihn lesen?«
»Ich bitte darum«, sagte Ebro Mannegold steif. Er fuhr sich mit den Fingern in den Hemdkragen. Sein Kopf kochte. Konnte er diesem Mädchen sagen: Ja, ich weiß, daß du die Wahrheit sprichst, ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt – aber ich will den Brief von Jo lesen, ich will ihn in der Hand haben –, natürlich nur, um zu erfahren, wie weit ihre rebellischen Absichten gehen …?
Sie brachte den Brief und entzog ihn der unwillkürlichen Gier seines Handausstreckens mit einer schützenden Gebärde voll herber Süßigkeit.
»Nur, wenn Sie mir Ihr Wort geben, daß ich ihn wiederkriege!«
Er nickte stumm. Aber es schien ihr zu genügen. Sein Gesicht war plötzlich erschreckend fahl geworden; nur die Stirn stand im Feuer. Sie legte den Brief in seine große, sonderbar leer wirkende Hand. Sie wollte noch etwas sagen. In ihrem bräunlichen Gesicht öffnete sich schon der Mund – Jos Mund, als Jo noch ein Mädchen war. Aber im selben Augenblick schien sich Jos unsichtbare Hand darauf zu legen, und das junge Geschöpf ging stumm aus der Kammer in den goldenen Abend, in den grünen Garten hinaus.
Ebro Mannegold faltete den Brief auseinander. Wiedersehen mit Jos Schrift – wie merkwürdig … Es war dieselbe klare Schrift, die an ihn geschrieben hatte: Leb wohl, Ebro! Ich gehe und komme nicht wieder. Jo. – Vielleicht war dieser Brief am gleichen Tag entstanden.
Meine liebe Judica!
Kündige Deine Bude in der Marburger Straße, packe Deine sieben Zwetschgen und betrachte von heute an bis auf Widerruf meine von Dir so sehr geliebte Dachkammer als Dein Heim. Ich muß es verlassen, weil ich Ebro verlasse, und ich möchte, daß dieser liebe Raum und der Garten, in dem die Rotschwänzchen nisten, von Dir gepflegt werden, Du frische Seele, damit die Dinge, die ein Teil von mir sind, nicht verwaisen und der Garten nicht verdorrt. Ich habe bei meiner Bank ein Konto ›Miete‹ eingerichtet, darauf zahlst Du jeden Monat hundert Mark ein, denn wir beide lassen uns nichts schenken, es sei denn von Liebe, nicht wahr? Niemand im Hause wird erfahren, daß Du da wohnst, außer der Eberlein. Erlaube ihr nicht, Dir etwas vorzuklönen, denn ich gehe, von einem wunderbaren Glück erfüllt. Wenn Du mir schreiben willst, schreibe nach Berchtesgaden, da will ich bleiben. Trage die roten Schuhe immer, wenn Du heimkommst. Die Strohmatten in meiner Kammer und die kleinen grauen Kiesel im Garten kennen sie und werden sich darüber freuen.
Noch eins, Judica: Wenn Du in meinem Bette schläfst, schlafe nicht auf der Fensterseite. Die ist tabu. Und muß es bleiben. Da soll auch immer die kleine rostbraune Aschenschale stehen, die darfst Du nicht benutzen. Auch nicht das kleine viereckige Kissen. Zeige, daß Du intelligent bist, und erspare Dir und mir unnötige Rückfragen.
In Liebe, Jo.
Ebro Mannegold las den Brief einmal, er las ihn zweimal. Er faltete ihn umständlich wieder zusammen und dachte: Hätte ich nur den Brief nicht gelesen … Da draußen steht das Mädchen und wartet darauf, daß ich ihn ihr wiedergebe. Ich kann mich nicht heimlich wegschleichen mit dem Brief in der Tasche. Ich kann sie auch nicht bitten: Schenk mir diese roten Schuhe! – denn sie würde mich mit Recht für verrückt halten. Und am allerwenigsten kann ich zu ihr sagen: Laß mich heute nacht hier schlafen, auf der Fensterseite dieses breiten weißen Bettes, den Kopf auf dem kleinen viereckigen Kissen, die rostbraune Aschenschale neben mir … Das ist komplett unmöglich … Alles ist unmöglich, was mit dieser unmöglichen Jo zusammenhängt …
Er stand schwerfällig auf, und das Mädchen drehte sich um, den Finger auf dem Munde.
»Kommen Sie hierher!« sagte sie flüsternd. »Aber ganz, ganz vorsichtig!«
Er gehorchte, wenn auch mit innerem Protest und darum doch nicht behutsam genug. Bei seinem Nahen flatterte das Rotschwänzchenpärchen, das aus der steinernen Wasserschale an der Mauer getrunken hatte, mit spöttischem Zwitschern auf und in die Büsche.
»Oh –!« sagte das Mädchen bedauernd. Es sah dem Manne ins Gesicht. Die Hand, die es unwillkürlich auf seinen Arm gelegt hatte, glitt herunter.
»Nun möchten Sie den Brief von Jo doch haben!« meinte es und lächelte ernst.
»Durchaus nicht, Fräulein Lorenz!« Ebro Mannegold klärte seine Kehle mit einem scharfen Räuspern. Nein, er würde der Bestrickung dieses Raumes nicht erliegen. Und auch nicht dem Zauber der roten Schuhe oder der sozusagen auf den Mann dressierten Rotschwänzchen. Und schon gar nicht diesem tückevollen Brief. (Der Brief an Dr. Münzer war natürlich die einzig richtige Antwort darauf.) »Hier haben Sie das Schreiben wieder. Ihre Berechtigung, in diesen Räumen zu wohnen, ist damit allerdings einwandfrei erwiesen. Dennoch möchte ich mir endgültige Beschlüsse vorbehalten. Ebenso hinsichtlich Ihres Berufes, Fräulein Lorenz. Eine, wenn auch noch so entfernte, Verwandte des Hauses Mannegold hat viele Möglichkeiten, sich auf eigene Füße zu stellen – aber nicht als Mannequin …«
»Kann ich nicht finden«, sagte das Mädchen ruhig. »Mein Ziel ist, noch vor dem Horch 8, ein eigener kleiner Modesalon – Jo will mir das Kapital dazu leihen, das ich ihr natürlich verzinse –, aber vorher will ich den Betrieb von Grund auf kennenlernen und am eigenen Leibe erfahren, was die Menschen, die für mich arbeiten werden, zu leisten vermögen und was sie selber brauchen. Glauben Sie nicht, Herr Mannegold, daß es für die Arbeiter Ihrer Fabrik viel besser wäre, wenn Sie als Schlosserlehrling angefangen hätten?«
Fehlt nur noch, daß sie hinzufügt: ›hat Jo gesagt‹, dachte der Mann.
»Jedenfalls, wenn Sie länger hier wohnen bleiben sollten, Fräulein Lorenz«, sagte er, schon auf dem Rückzug zur Tür, »dann möchte ich Sie bitten … dann wäre ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie das Dach meines Hauses nicht mit dem des Wellenbades im Lunapark verwechseln wollten!«
»Es kann kein Mensch in den Garten hereinschauen«, antwortete die junge Schönheit ruhevoll, »höchstens mal ein Flieger. Und was der von oben feststellen kann, weiß ich aus dem Preisausschreiben: Kennst du deine Heimat? mit Flugzeugaufnahmen. Jo ist auch immer da draußen herumgelaufen, wie Gott sie geschaffen hat, und er hat sie schön geschaffen, nicht wahr? Wenn nicht gerade einer kommt, der die verriegelte Tür mit einem Fußtritt aufsprengt, ist man hier oben so sicher wie in Abrahams Schoß.«
Ebro Mannegold ging die Treppen hinunter. Aus der Holz- in die Marmorregion. Die Stufen nahmen kein Ende. In der fast schwarzdunklen Halle kam ihm ein Diener zwei Schritte entgegen, sichtlich auf Anordnungen wartend. Ebro Mannegold blieb stehen. Der Ausdruck höchster Überdrüssigkeit verzog seinen Mund zur Grimasse. Er hätte ein Jahr seines Lebens darum gegeben, wenn irgendwer ihm wenigstens für vierundzwanzig Stunden die Dispositionen über sich selbst abgenommen hatte. Er stellte fest, daß er sich elend fühlte. Wahrscheinlich kam es von der Hitze. Oder er hatte ganz einfach Hunger. Aber seine Zimmer waren eisgekühlt – warum suchte er sie nicht auf? Ein Wort an den Diener, und das Essen stand auf dem Tisch, – warum sprach er das Wort nicht aus?
Ganz einfach: Ihm graute vor der Leere des Hauses ebenso wie vor der Überfülle der Erinnerungen, die es bevölkerten. Das Essen allein erschien ihm ebenso unerträglich, wie bei Tisch irgendeinem Menschen gegenüber zu sitzen, der Jo gekannt, dem Jo das Brot gereicht hatte.
Und tief zu unterst unter allen anderen Empfindungen schwelte wie der verborgene Brandherd einer verborgenen Krankheit, dumpf und ziehend, niederziehend, die dunkle, einfache Sehnsucht nach einer Frau, nach der Gemeinschaft mit einem weiblichen Körper.
Als Ebro Mannegold aus seinem Hause, das mitten in der Stadt lag, auf die Straße trat und das bedrückende Geheimnis des von Millionen Füßen getretenen Pflasters, die Unbarmherzigkeit des asphaltenen Marktes, die ans Grausame grenzende Enthüllungssucht des nachtverschlingenden, letzte Winkel aufreißenden Lichtwirbels sein Kommen empfing, dachte er an Jo, und es mischte sich in die Erbitterung des Mannes, den Jo verlassen hatte, die schiefe Genugtuung des Mannes, den Jos Nicht-bei-ihm-sein zu fremden Frauen trieb.
Er sah Vollrath an, der die Tür des Wagens für ihn offenhielt. Dieser Mensch hatte erzählt, dieser Mensch wußte also, daß Jo für immer fortgegangen war. Dieser Mensch wartete darauf, seit Tagen, seit Wochen, mit hartnäckigster Intensität der Bereitschaft, ihn, Ebro Mannegold, zu Jo zu bringen. Auch ein Besessener. Auch ein Jomane. In der Minute, da der Chef des Hauses Mannegold & Co. in wortlosem Schauen Gesicht zu Gesicht und Auge in Auge mit Vollrath, seinem Fahrer, stand, haßten sich Mann und Mann mit dem sachlichen Haß der Männer, der niemals lächelt, der aber manchmal genau in der Mitte zwischen Wut-aufeinanderhaben und Sich-gut-leiden-können wohnt.
»Fahren Sie bei Dominicus vor und warten Sie dort auf mich …«
Vollrath schlug die Tür wieder zu.
Ebro Mannegold nahm die Straße unter seine Füße. Er entsann sich des Tages nicht mehr, da er zu Fuß eine Straße entlang gegangen war. Die Verkehrsmittel der Allgemeinheit, die elektrischen Bahnen, die Autobusse, Untergrund- und Stadtbahn, selbst Autotaxen waren ihm ebenso unvertraut wie der Tragsessel eines Negerfürsten oder japanische Rikschas. Zwischen ihm und den andern die Mauer. Mauer aus Luft. Aus Distanz. Aus Fremdheit. Wußte er, was es hieß, bei Hundewetter an einer Haltestelle auf den Autobus oder die Elektrische zu warten, die, wenn sie endlich kamen, schon mit triefenden Menschentrauben behängt waren – rücksichtslos mit den Rücksichtslosigkeiten der andern zu kämpfen, eingekeilt, von den Füßen fremder Leute getreten, selbst auf den Füßen fremder Leute zu stehen, den faden Geruch ihres feuchtgewordenen Alltags in der Nase?
›... wenn Sie als Schlosserlehrling angefangen hätten …‹
Wie lebte ein Schlosserlehrling? Wieviel Prozent Lebensfreude vermochte sich eine Telefonistin zu kaufen? Wieviel Pfennige verdiente die alte Frau pro Abendblatt? War der Straßenkehrer satt, der die bunten Flugzettel eines neuen Nepplokals zusammenfegte – und wenn er es nicht war, hatte er Chancen, es heute noch zu werden?
Es war nicht Mitleid, das ihn grübeln machte, es war kaum Neugier; sachliche Erwägung. Er rechnete, aber es war ein Rechnen mit lauter Unbekannten.
Mit hartem, verbissenem Gesicht sah die Straße ihn an. Kaufe mich! sagte die Straße. Zeitungen – Blumen – Schnelligkeit – Luftballons – Menschen. Beste Ware, alles zu Schleuderpreisen. Junge Hunde – Tanzmäuse – Papierschlangen – Zigaretten. Liebe – Laster – Vergnügen – Verbotenheiten. Gib den Krüppeln und kaufe dir vor dem Abendbrot ein gutes Gewissen; es hilft fast so sicher wie Natron gegen das Überfressen. Zehn Pfennig die Streichhölzer und einen Platz im Himmel, wo die Barmherzigen sitzen. Zehn Pfennig die Streichhölzer …
Schultern berührten ihn. Arme strichen an seinen Armen entlang. Willst du mich? Kaufe mich! Beste Ware, alles zu Schleuderpreisen. Wegen der Konkurrenz. Ein besonderer Jahrgang bevorzugt? Kaufe mich! sagte die Straße.
Gellendes Glockenzeichen, Hornsignale, Feuerwehr. Irgendwo brennt's. Na schön; es wird ja nicht grade bei dir sein. Hupengekreisch. Immer weg über die olle Frau. Was hat se bei Grünlicht über'n Fahrdamm zu loofen. Schupo, der zuspringt. Tüchtiger Junge. Da haste aber noch mal Schwein jehabt, Großmutter! Prima Oderkrebse. Frische Rosen, mein Herr? Erste Morgenausgabe! Kaufe mich! Kaufe mich! sagte die Straße. Kaufe mich, denn ich muß mich verkaufen, weil ich leben will, leben muß!
Ein Mädchen kam ihm beim Überqueren der Straße entgegen. Was fiel ihm an ihr auf …? Nichts als der sichtbare Ruck, den ihr sein Anblick zu geben schien. Sie war jung, mehr zart als schlank. Gut gekleidet. Stark, aber irgendwie auf Uniform geschminkt. Nach-Mitternachts-Augen. Eine Welle im Menschenstrom, wurde sie weitergeschwemmt. Ebro Mannegold machte kurz kehrt und ging ihr nach. Jenseits des Fahrdammes blieb sie stehen und drehte sich hastig um, als ob sie den Mann, dessen Anblick sie so betroffen hatte, noch einmal mit den Augen suchen wollte. Da stand er vor ihr, so nahe, daß sich die Körper beinah berührten. Er sagte nichts. Trotz Schminke, trotz Wirrsal des Lichts, das in allen Farben ihr angestrengtes Gesicht überspülte, sah er, daß sie blaß wurde.
Seltsamerweise fühlte sich der Mann sehr erregt, fast erschüttert. Er spürte die Trockenheit seiner Kehle, die Sprödigkeit seines Mundes. Er wollte sprechen, aber ehe er noch sprechen konnte, wich das Mädchen vor ihm zurück in den großen Strom und hastete weiter. Es war nicht verlockende Flucht, es war Flucht schlechthin. Sie sah sich nicht um, und als die Signallampe über der Straße sie zum Stehenbleiben zwang, drehte sie den Kopf hin und her wie ein gestelltes Tier. Ein Blick nach rückwärts – fünf Schritte hinter ihr der Mann, dem sie zu entkommen suchte – und ohne sich zu besinnen, trotz brüllender Hupen, trotz Kreischen, Fluchen, Angstschreien, die ihr nachstürzten, warf sie sich blindlings zwischen die gleitenden Wagen, deren Scheinwerfer an ihrer Schmalheit zu fressen schienen, und entkam den Kühlern, Stoßdämpfern, Kotflügeln, Rädern, die andere Seite gewinnend und von ihr verschluckt.
Ebro Mannegold stand und biß sich auf die Lippen. Nicht gewohnt, sich selbst zu beobachten, fühlte er nichts als die eigene Verwirrung, die sich erst zum Ärger steigerte, als neben ihm ein sonderbar trockenes, halblautes Lachen aufklang und eine Stimme, die sagte:
»Da wirste keen Glück ha'm …«
Das Du prallte gegen den Mann wie ein Stoß vor den Magen. Es machte ihn wütend, und trotzdem war es sehr reizvoll in seiner frechen und lässigen Selbstverständlichkeit. Der Mann betrachtete sie, die gesprochen hatte, und sie ließ sich betrachten mit der Traumirnicht!-Überlegenheit einer jungen, abwartenden Siamkatze.
Zwei graue, umschattete Augen, die spöttisch blickten. Das Gesicht eines frühreifen Kindes, kaum geschminkt. Ein Mund, für Zärtlichkeiten und Zynismen gleichermaßen geschaffen. Ein magerer Hals, eine billige Kette darum. Die jungen Brüste unverhohlen unter der durchsichtigen Bluse. Die nackten Arme zu dünn, und die Knochen zu stark. Die Beine, bis auf die Knöchel, schön geformt, in guten Schuhen, aber allzu glänzenden Strümpfen. Die längst erschlossenen Knie leicht geöffnet, der schmale Leib ein wenig vorgewölbt, indes die Schultern sich sanft nach rückwärts beugten. Der ganze Körper gab sich mit einer gewissen ironischen Stupidität den Blicken preis, und, seiner Schönheit und Mängel vollauf bewußt, schien er zu sagen: Für euch Pack bin ich noch viel zu schade.
»Woher weißt du das?« fragte der Mann, wider Willen gepackt.
»Weil ich se kenne.«
»Sie groß oder klein geschrieben?«
»Alle beede, Herr Mannegold«, antwortete sie mit einem boshaften Lächeln.
»Soso …« Er war hörbar betroffen. Er schien nicht recht zu wissen, ob er sich freuen oder ärgern sollte. »Und woher kennst du mich –?«
Sie zuckte die Achseln, mit einer vagen Gebärde nach oben deutend.
»Köpfe der Wirtschaft. Karikatur des Tages. Aus der Berliner Gesellschaft. Wochenschau: Wie eine Karosserie entsteht: Generaldirektor Mannegold beim Frühstück in der Kantine seiner Fabrik. So was macht populär. Oder glauben Se vielleicht, man erkennt Se nich, weil Se ausnahmsweise mal zu Fuß hier langlatschen?«
»Also nehmen wir uns einen Wagen!« sagte der Mann ergeben.
»Wohin soll'sn gehn?«
»Abendbrot essen.«
Sie fuhren. Er betrachtete verstohlen und nicht ohne Vergnügen ihr junges Gesicht, das die reichen, weißen und bunten Lichter der Straße in ständigem Wechsel erhellten. Solange die Stadt um sie her war, schwieg sie und hatte die Augen halb geschlossen. Ein Ausdruck von Hunger lag um ihren ein wenig geöffneten Mund. Vielleicht hat sie wirklich Hunger! dachte der Mann, und er dachte es, obwohl er sich dessen schämte, mit einer seltsamen Freude.
Je weiter sie aus der Stadt hinauskamen, je weiter die dunstige Backofenatmosphäre des Asphalts hinter ihnen zurückblieb, je kühler und beglückender die Luft aus den Gärten zu ihnen herüberwehte, desto tiefer und gieriger atmeten diese erschlossenen Lippen, desto tiefer senkten sich die Augenlider, streckte sich der schmale, vom Wind der Fahrt mit kleinen, flinken Wellen überrieselte Körper. Etwas Berauschtes war über ihm, aber es war ein herber Rausch, an dem kein anderer teilhatte.
Ebro Mannegold räusperte sich.
»Wie heißt du, Kleine?«
»Trude«, antwortete sie, mit einer gewissen Gottergebenheit.
»Weiter nichts?«
»Nee. Trude genügt. Oder willste vielleicht mit mir aufs Standesamt?«
»Nicht unmittelbar.«
»Na siehste. Das hab' ich mir gleich gedacht.«
»Du bist eine Kratzbürste, Trude.«
»Tja … Jeder wehrt sich, wie er kann.«
»Mußt du dich wehren gegen mich?«
Sie sah ihn von der Seite her an, mit dem sachten und gescheiten Skeptizismus ihrer Vaterstadt.
»Eigentlich nicht«, stellte sie fest. »Du mußt ja heute mächtig eins auf den Kopp jekriegt haben …« Ihr Blick wurde sanft und von der frühen Mütterlichkeit durchwärmt, mit der in den Straßen des Nordens kleine, verkümmerte Schwestern auf ihre schlacksigen Brüder blicken. Aber das ging vorüber und machte einer leise spottenden Genugtuung Platz.
»Wie alt bist du, Trude?«
»Keene Bange. Sechzehn gewesen.«
»Da hast du früh angefangen.«
Sie zuckte die Achseln. »Was ist mir denn übriggeblieben?«
»Arbeiten!« sagte der Chef des Hauses Mannegold & Co.
»Ach nee!« Unter den langen Wimpern hervor glitt ihr schräger, ironischer Blick über sein Gesicht. »Hast du vielleicht Arbeit für mich – außer aufm Bettuch?«
Er zog für eine Sekunde die Brauen zusammen.
»Macht es dir sehr viel Freude, gemein zu sein?«
»Nee. Gar nich. Aber dämliche Redensarten kann ich nich vertragen. Arbeiten! Hab du mal 'ne Mutter, die säuft und vier kleene Jeschwister, von den' jedes 'n andern Vater hat, bloß anjemeld't is keener – un denn sieh du mal zu, ob du mit Arbeeten in der Kartonfabrik oder als Laufmädel bei Tietz so viel verdienst, daß se alle satt werden un nich verlumpen und verlausen!« Ihre zornigen Finger zerrten das Taschentuch zwischen Puderbeutel und Lippenstift hervor. »Warum haste mir eijentlich mitjenomm'? Willste mit mir in de Heilsarmee oder ins Bette?«
»Na ja – is doch wahr! Wenn de so dußlige Sachen sagst –!«
Er sah ihre jungen Lippen heftig zittern und sich selbst unmittelbar vor die Katastrophe gestellt, daß zum dritten Male an diesem Tag eine Frau vor ihm in Tränen ausbrach. Aber die kleine Dirne an seiner Seite kämpfte wunderbar tapfer das Weinen ins Herz zurück; dafür war er ihr dankbar.
»Ich werde keine dußligen Sachen mehr sagen«, versprach er ziemlich sanft.
Unter den schönen, dichten Kastanienbäumen des Gartens von Dominicus, an denen die Früchte in ihren bestachelten Schalen gleich winzigen grünen Morgensternen hingen, schwirrten die kleinen und großen Nachtschmetterlinge wie Schneegestöber um die Bogenlampen, die, bläuliche Riesenmonde, in den Baumkronen schwebten. Musik kam aus Dunkelheit und lockte ins Dunkle. Es war noch immer sehr heiß. Nur manchmal kam vom See herüber ein kühlerer, streichelnder Windhauch, der den Duft von Jasmin mitbrachte und den Duft von den Blättern der Zaunrose.
Das Mädchen hatte den Hut vom Kopfe genommen. Mit großer Sachlichkeit kontrollierte es vor dem Handspiegel die Wellen des lockeren Braunhaares und den Puder auf der Nase. Es entschied sich ohne Zögern für Pfirsichbowle, lehnte Krebse mißtrauisch ab und erklärte Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln für sein Lieblingsgericht. Es trank durstig und mit der naiven Gier eines Kindes. Es aß wie ein junger gesunder Mensch, der Hunger hat und entschlossen ist, die Gelegenheit, sich an guten Dingen rundherum satt zu essen, nicht ungenützt zu versäumen.
Ebro Mannegold sah ihr zu. Er empfand dabei eine dumpfe, zwiespältige, aber doch unverkümmerte Freude. Mit jeder Viertelstunde, die sanft verrann, schien sich das Mädchen tiefer zu verwandeln. Der warme Abend, die süße Reinheit der Luft, Sattsein, Musik, auf bunten Kissen in behaglichem Stuhl unter großen, lebendigen Bäumen stillsitzen zu dürfen, vielleicht unbewußt und doch stärker als alles andere wirkend, die kleinen Gebärden ihr geltender Ritterlichkeit: das aufgehobene Taschentuch, die ihr zuerst dargebotene Zigarette – der Gesamtbegriff einer Stunde ohne Galle gab ihrem Gesicht und dem ausruhenden Körper den Ausdruck der Bereitschaft zu allem, was friedlich und gut war. Ihr Fuß war zwischen die Füße des Mannes geschlüpft und lag dankbar gehorsam im selbstgesuchten Gefängnis. Und einmal seufzte sie auf wie ein Mensch, der so restlos zufrieden ist, daß jede Veränderung seines Zustands, selbst die zu größerem Glück, einer Bedrohung gleichkommt.
»Ist da drüben Wasser?« fragte sie plötzlich mit der ganz hohen Stimme eines schläfrigen Distelfinken, den Kopf auf die Schulter geneigt, als horche sie weithin.
»Ja, der See … Bist du noch niemals hier gewesen?«
Sie antwortete nicht sofort. Sie hob auch den Kopf nicht. Sie schien irgend etwas zu suchen, das fern war oder sehr tief in ihr.
»Das ist schon furchtbar lange her«, sagte sie endlich. Und der Mann begriff, daß alles, was in diesem Leben nicht Dirnenhotel, nicht Straßenpflaster bei Nacht, nicht Mühsal verkaufter Jugend, nicht Ekel hieß, daß alles das schon ›furchtbar lange her‹ war.
»Möchtest du an den See hinuntergehen?« fragte er etwas zögernd. Denn wenn sie nein gesagt hätte, wäre er sich höchst lächerlich vorgekommen. Aber sie sagte:
»Ach ja –!«
Der Weg nach dem See war sehr schmal. Sie ging vor ihm her. Sie trug ihren Hut in der Hand und sagte zuweilen ein paar Worte über die Schulter hin, die er nur zur Hälfte verstand. Er gab sich auch gar nicht die Mühe, sie zu verstehen. Je weiter sie sich aus dem Bereich von Menschen und Lampen, von Häusern, erhellten Fenstern, geöffneten Türen, von Geigen und Saxophonen, von Kellnerfräcken und Tischen mit bunten Lichtern entfernten, um einzugehen in das tiefere Reich der Sommernacht, des weiten schimmernden Sees, des Himmels mit Mond und Sternen, des Grases, des weißen Sandes, des windbewegten Schilfes, des ruhigen Waldes in seiner anbetungswürdigen Stille, desto stärker ergriff den Mann eine unentrinnbare Schwermut, die das Mädchen nicht wahrnahm (und darüber war er froh), für die aber auch er selbst keinen Grund hätte nennen können.
Die unendlich fernen, jenseitigen Ufer des Sees verdämmerten mit dem Blau des ganz reinen Himmels. Da brannten Lichter, wie silberne Nadeln fein und unruhig aus dem Duft herausstechend, und niemand hätte zu sagen vermocht, ob sie noch der Erde angehörten oder schon dem Himmel. Schneeweiße Segel, schön vom Winde geschwellt, trieben sacht den Buchten oder den Inseln zu oder ruhten fast still, wie schlafend, auf ihrem eigenen Spiegel. Grüne und rote Laternen glitten über das Wasser; aber alles war fern, wie durch unmeßbare Tiefen von dem dunklen Ufer geschieden, an dem der Mann und das Mädchen nun hinwanderten ohne Ziel. Längst war kein Weg mehr unter ihren Füßen. Nur schmaler Rasen zwischen Wald und See. Und da war kein Laut mehr zu hören als manchmal das Flüstern des Schilfes – oder das leise Glucksen einer Welle, die sich am Ufer verfing – oder der Atem des Windes – oder der eigene Atem –
Plötzlich, ganz unvermittelt, blieb das Mädchen stehen und wandte sich um, und da der Mann den Schwung des eigenen Schrittes so rasch nicht abfangen konnte, waren sie Brust an Brust und Arme in Arme verschmolzen – zitternd und tief, wie ein Boot, nicht abgebremst, im Ufer sich einwühlt. Da fühlte er, da begriff der Mann die Hemmungslosigkeit einer jähen Bereitschaft, einen zitternden und doch heftigen Willen zum Untertanwerden; er gab ihr auch Antwort, indem er sich beugte und nahm. Seine Hände nahmen, sein Mund, was sich zu ihm drängte. Aber niemals in seinem Leben hatte den Mann etwas so mit letzter Traurigkeit erfüllt wie dieses sein glückloses Nehmen von etwas, das ihm gegeben wurde mit dem inbrünstigen Wunsch, ihn zu beglücken.
Mit Bitterkeit ohnegleichen empfand er die Verdammnis der ritterlichen Heuchelei eines Menschen, der den Tisch einer Bettlerin leer ißt, hungriger als zuvor davon aufsteht und sagt: ›Danke, du hast mich gesättigt!‹
Ach Reichtum, ach Fülle, daraus er nicht mehr zu schöpfen vermochte – hatte er sie denn wirklich niemals begriffen, solange sie noch sein gewesen waren?
Er wollte nicht denken, aber er mußte denken. Er ließ das Mädchen los und warf sich im Gras auf die Brust, den Kopf in die Arme wühlend. Er riß sich die Haut der Handflächen mit den Nägeln auf: nicht sich erinnern – er wollte sich nicht erinnern! Aber die großen, die feuerleuchtenden, die triumphierenden und strahlenden Erinnerungen stürzten sich auf ihn und überflammten sein Herz, das zu ersticken drohte an dem Namen, den es nicht nennen wollte und ewig nannte.
Die Stimme der kleinen Dirne schmeichelte sich in sein Ohr:
»Bist du nun froh, du?«
Armut! Armut! Armut!
Er wälzte sich auf den Rücken und streckte die Hände aus:
»Nicht sprechen … Nicht sprechen …«
Die Flucht ins Negative …
Auf dem jetzt ganz kindlichen Gesicht des Mädchens, das neben ihm kniete, lag ein Ausdruck so rührenden und naiven Stolzes, daß er die Hand ausstreckte und mit abgewendetem Kopf das schmiegsame Geschöpf in seine Arme zog.
Sie lag ganz still, wie ein kleiner, zufriedener Hund. Sie schien ein wenig zu frieren. Sie zitterte leise.
Plötzlich, den Blick zum Himmel aufgehoben, der seine Sterne als ein Meer von Lichtern in die blaue Sommernacht verschüttete, plötzlich wußte er, warum ihn die Gemeinschaft mit dem Geschöpf der Straße in diesem Julibett aus grünem Gras und weißem Sand so traurig machte. Dieser armen Hand einer kleinen Straßendirne war es nicht mehr gegeben, die Tür zu öffnen, die den Garten Eden, das Paradies von Baum und Strauch umschloß. Diesen armen Füßen, an grauen Asphalt verkauft, war es nicht mehr gegeben, durch die Tür zu gehen, hinter der die Einfalt von Gras und Wellen wohnte. Diesem bleichen Körper war es nicht mehr gegeben, in dem Strom seines Blutes die Ströme rauschen zu hören, die aus den Tiefen der Erde nach oben steigen und aus denen die Ozeane der Erde trinken. Sie fand nicht mehr heim zu der Mutter, der Ackerkrume, nach der sie sich sehnte, und wenn sie in brennendem Heimweh versuchte, sich nackt an die Erde zu betten, so war sie nicht nackt, nur ein Mensch ohne Kleider, der fror.
Gedankenlos griff er nach einer Zigarette.
»Gib mir auch eine!« bettelte sie, sich neben ihm aufsetzend. Als er ihr Feuer gab und die kleine gelbe Flamme einen Augenblick lang das Gesicht des Mädchens beleuchtete, fuhr es ihm durch den Kopf: Ob sie alle so sind? bind er betrachtete die kleine gelbe Flamme, als wüßte sie um die Lösung.
»Was denkst du?« fragte das Mädchen aufmerksam und etwas gekränkt.
Er löschte das Feuerzeug aus und steckte es ein. Er zögerte. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und heftete den Blick auf ihren roten Glutpunkt.
»Nichts Besonderes«, meinte er. »Ich mußte nur an das Mädchen denken – vorhin, auf der Straße … du weißt schon, wen ich meine …«
Sie schlang die Arme um die hochgezogenen Knie und rauchte erbittert. Sie sprach mit der Zigarette im Mundwinkel, ein Auge fest zugekniffen.
»Ich hab dir doch schon jesagt, bei der wirste kein Glück haben! Die hat's nich nötig! Die is Kassiererin in 'ner Bar. Und außerdem hat se 'nen Freund, der is Droschkenschofför. Warum denkste schon wieder an die –?! Jefällt se dir so viel besser –?!«
»Ich will gar kein Glück bei ihr haben. Sie hat mir auch gar nicht besonders gefallen. Ich möchte nur wissen, ja, ich möchte gern wissen«, er lächelte fast ein wenig verwundert, »warum sie vor mir davongelaufen ist …«
Das Mädchen hatte den Kopf ganz zur Seite gebogen und bemißtraute den Mann mit schrägen Blicken.
»Weiter nischt?«
»Nein. Weiter durchaus nichts.«
»Na …« Sie schien noch nicht völlig von seiner Aufrichtigkeit überzeugt, doch sie beruhigte sich mit einem Achselzucken. »Schließlich – ich brauch' dir ja keen' Namen zu sagen … ich kann mir schon denken, warum sie von dir nich anjesprochen sein wollte …«
»Nun?«
»Weil ihr Freund doch damals die Sache mit deiner Frau jehabt hat …«
In diesem Augenblick wurde Ebro Mannegold das Opfer einer sonderbaren und durchdringenden Impression. Er hörte den Abschuß eines Riesengeschosses, das Heulen der Luft, die es durchraste, das Bersten des Aufschlags und die erdzerreißende Katastrophe der Explosion, und all das spielte sich in seinem Kopf ab, und zwar gleichzeitig, in ein und derselben Sekunde.
Betäubt, stupide, schläfrig fragte er:
»Was für eine Sache …?«
»Na damals – die Einbruchsjeschichte …!«
»Was für eine Einbruchsgeschichte …?«
Sie nahm die Zigarette aus dem Mund.
»Ach so – du weißt von nischt? Deine Frau hat dicht jehalten? Find' ich knorke von ihr. Aber eigentlich sieht es ihr ähnlich …«
Ein Gefühl von Übelkeit befiel den Mann, als habe er etwas Giftiges gegessen. Die Tradition des Hauses Mannegold und aller Bürgerhäuser gespensterte flüchtig durch sein Bewußtsein und leierte einen abgeschmackten Spruch herunter: ›Jetzt mußt du sagen: Ich wünsche nicht, daß eine Straßendirne den Namen meiner Frau in ihren Mund nimmt oder diese Dame gesprächsweise erwähnt!‹ Er sah sich selbst, wie er gegen die Tradition seines Hauses und aller Bürgerhäuser die Zähne fletschte und ihr mit einem unflätigen Gedanken den Rücken kehrte. Er sagte, nach einer neuen Zigarette fingernd und zwei zerkrümelnd, bevor er die dritte zu nehmen imstande war:
»Nein, ich weiß von nichts. Aber es würde mich sehr … Bitte – wer hat – mit wem? … Und um was für eine – Geschichte – handelt es sich dabei …?«
Er beherrschte sich, so gut er es vermochte, und das war herzlich schlecht. Die kleine Dirne betrachtete ihn mit einer Art von latenter weiblicher Rachsucht. Sie sah, daß er tierisch litt, aber eigenes tierisches Leiden, meist vom Manne verursacht, hatte ihr junges Leben zu grausam gebrannt, als daß sie den Willen zur Großmut hätte aufbringen mögen. Sie lachte vor sich hin.
»Siehste, ich sag's ja immer: Du weißt nie, mit wem de schlafen jehst; aber mit wem de verheirat bist, das weißte noch weniger … Na schön, ick wer' dir die Jeschichte erzählen. Lang is se nich, aber lehrreich wie 'n Kulturfilm. Daß eener keen Geld hat, kann vorkommen. Der Freund von meiner Kollegin – aber damals war se noch nich seine Freundin – und meine Kollegin is se ja eigentlich ooch nich, dafür sorgt schon der Emil. Wenn der bloß sieht, daß einer sich nach der Lolo umguckt, gibt er an wie 'n Pfund Sülze in der Kurve … Na egal … Der Emil also war fufzehn Wochen ohne Arbeit. 'n Kerl wie 'n junger Boxer und immer hungrig. Was er sich vom Stempeln jeholt hat, det langte noch nich mal fürs Fahrjeld zum Stellungsuchen. Und immer nein sagen hören, macht ooch nich satt. Also kurz, in der sechzehnten Woche macht er schlapp. Liegt bums! auf der Straße, am Sonntag, vor einem Neubau – und da kriechen zweie heraus, die geben ihm erst mal 'nen Schnaps, zwei janz jehenkte Jungen, kann ick dir sagen! – und dann reden sie dem Emil ein Loch in 'n Bauch, daß er schön doof is, wenn er arbeiten will, wo's nischt zu arbeiten gibt, aber Berufe jenug, die viel einträglicher sind als Motorenschlosser – und das Ende vom Liede war, daß mein Emil in 'ner stockdustern Nacht, versehen mit allem, was 'n guter Schränker nötig hat, ziemlich besoffen, denn er brauchte Mut, mit 'nem scharfgeladenen Revolver in der Hosentasche im Schlafzimmer von Frau Generaldirektor Mannegold stand …«
Ein kleiner dumpfer Ton unterbrach das Mädchen. Es war nichts Besonderes geschehen; nur die eine Faust des Mannes war gleichsam von ihm ab und auf die Erde gefallen und lag da im Grase. Er hatte zu rauchen aufgehört. Sein Atem war nicht zu vernehmen. Seine Brust hob und senkte sich nicht. Sein Gesicht schien feucht, denn es schimmerte wie eine breite, metallene Maske.
»Ich möchte doch lieber nich weitererzählen«, sagte das Mädchen geängstigt und bückte sich nach seinem Hut.
»Jetzt wirst du reden«, antwortete ihr die heisere Stimme des Mannes. Die Worte waren kaum zu verstehen, als würden sie von den Zähnen festgehalten.
Das Mädchen zuckte die Achseln und schwieg verbockt. Aber dann siegte ihre Gutmütigkeit.
»Schließlich und endlich is ja jar nischt passiert … weder Emil'n noch deiner Frau. Bloß 'n furchtbaren Schreck hat'r natürlich jekriegt. Er hat jeglaubt, se is auf ner Gesellschaft. Aber se muß janz jejen's Programm früher nach Hause jegangen sein, denn auf einmal hört 'r, wie jemand det Licht einschaltet, reißt 'n Revolver 'raus und sieht deine Frau, die aufrecht im Bett sitzt und Emil'n anstarrt. Ich kann das nich so erzählen, wie's Emil erzählt. Beim erstenmal hören is mir janz kalt jeworden. Ich weiß doch vom Kientopp, wie so was ausgeht. Entweder der Einbrecher is mies, hat keen' Kragen und Bartstoppeln, denn wird 'r hopp jenomm'. Oder er is frisch rasiert und im Frack, denn macht sie 'ne große Kiste auf und erinnert ihn an seine tote Mutter, oder er sieht ihre Spitzenwäsche, und dann blendet's ab, von wejen de Zensur, oder sie schreit um Hilfe, aber kurz eh die kommt, kriegt sie's mit dem ero... erotischen Edelmut und versteckt ihn unter ihrer seidenen Steppdecke. Wat glaubste nu wohl, daß deine Frau jemacht hat?«
Ebro Mannegold antwortete nicht. Die verlassene Hand, die in seinem Schoß lag, versuchte, die Stirn zu erreichen, um ihm zu helfen, aber sie kam nicht einmal bis zum Halse.
»Deine Frau«, fuhr das Mädchen fort, und ihre frische Stimme zwitscherte los wie eine erwachende Lerche, »deine Frau macht jar nischt von alledem. Sie kiekt bloß immer auf Emil'n mit'm Revolver. Emil is jetzt vor Schreck so nüchtern wie'n Karpfen. Emil sagt: ›Wenn Se sich mucksen, steh ick for nischt! In dem Ding sin sieben Schuß, un ick habe nischt zu valieren!‹ Deine Frau schüttelt so'n bißchen den Kopf, jar nich weiter aufjeregt, mehr so, als tät'r ihr leid, der Emil – und sagt … Emil kann das jroßartig nachmachen … sagt ganz ruhig und sachlich, im schönsten Berliner Tonfall: ›Nu sage mal, Mensch – haste das nu wirklich nötig?‹«
Sie seufzte und schüttelte ihrerseits den Kopf.
»Nee, ich kann's nich erzählen. Das kann bloß der Emil. Der hat die Geschichte schon dreitausendmal erzählt, und immer an dieser Stelle macht er 'ne Pause … ich denke mir manchmal: in diesem Augenblick hat irgend jemand das Steuer von seinem Leben auf die andere Seite gedreht … das kommt ja nich oft vor, aber vorkommen kann's …«
Ebro Mannegold sammelte seine Hände ein, und sie schlossen sich ineinander.
»Und dann?« fragte er; seine Stimme war noch immer vollkommen heiser.
»Ja dann … dann hat se ihm erst mal was zu essen gegeben – un hat sich erzählen lassen und hat'n jefragt, was er is, von Beruf, usw., und allens janz friedlich. Un schließlich hat se jesagt: ›Sieh mal, mein Junge, bei mir haste ja Glück jehabt. Ich bin nich sehr schreckhaft, un mir liegt auch nich so furchtbar viel am Leben, daß ich 'n großes Geschrei drum gemacht hätte. Aber nimm nu mal an, daß ich sehr jeschrien hätte, und du, in deiner Angst, entdeckt zu werden, du hättest auf mich jeschossen, bloß um mich still zu machen – was für'n Unfug wäre daraus entstanden! Also wenn de mal wieder einbrechen mußt, dann nimm erstens keen Revolver mit, denn der setzt dich ins Unrecht – und zweitens, mein Junge, informier dich besser! So'ne Sache wie heute, das is 'ne Schlamperei!‹ Und denn hat se'n wechjeschickt un hat jesagt, er soll am nächsten Tag wiederkommen, da und da hin, und da wird se auch sein. Se war auch da. Un denn hat se'm det Jeld für 'ne Autodroschke jegeben – das heißt: nee, erst hat'r mit ihr 'ne Probefahrt machen müssen, weil se jesagt hat, se will erst mal sehen, wen se da auf de Menschheit loslassen will. Aber der Emil is 'n sehr juter Fahrer, der hat die Prüfung richtig mit Glanz bestanden. Er und die Lolo, die eigentlich Annemie heißt, die wollen später, wenn se verheirat' sind, 'ne Wirtschaft aufmachen mit 'ner Tankstelle bei, un womöglich 'ner Autoreparaturwerkstatt. Un wenn dann wat Kleenes kommt, hat Emil jesagt, denn wird es Jo genannt, janz wurscht, ob Junge oder Mädel; dat hätt' se um ihn vadient, deine Frau.«
Sie nahm ihren Hut und zog ihn über den Kopf.
»Un jetzt will ick dir auch sagen«, fuhr sie fort mit einem fast knabenhaft herben Klang in der Stimme, »warum ich dich jestern abend anjequatscht habe. Ob de mir's nu glaubst oder nich: wegen deiner Frau! Ick kenn se, der Emil hat se mir mal jezeigt. Und ick hab mich nich schlecht jewundert, wie ick dir auf'm Fleischmarkt jesehen hab. Aber ick hab mir jedacht: wenn er schon fremd geht, der Herr Mannegold, denn wenigstens mit'm Mächen, das garantiert prima jesund is! So! Nu weeßte warum!«
Eine lange Stille folgte. Aus sehr, sehr vagen Erinnerungen tauchten Worte auf im Gehirn des Mannes: Und nähme ich Flügel der Morgenröte und flöge bis ans äußerste Meer, so wärest du auch da, und wenn ich mir ein Bett in der Hölle suchte, auch in der Holle würde ich dir begegnen … Hat es Zweck, zu versuchen, dir zu entkommen, Jo? Nein, es hat gar keinen Zweck … Was will ich also? Ich will meinen Frieden mit dir machen, Jo …
Er fragte mit einer Stimme, die klang, als sei er betrunken:
»Kleine Trude, möchtest du auch eine Wirtschaft haben – mit einer Tankstelle dabei?«
»Och … nee … ich hab andre Pläne …«
»So –? Was denn für Pläne? – Möchtest du heiraten?«
»Nee.«
»Warum nicht?«
Sie zuckte die Achseln.
»Ein Mann, wie ich mir einen wünschen würde, der heirat' keen Mädel, das auf'n Strich geht. Un 'n andern … nee, danke, Komma. Nich jeschenkt …«
»Also was möchtest du haben, kleine Trude?«
Sie schob den Fuß hin und her, hielt den Kopf gesenkt.
»Entweder 'ne Animierkneipe in Sankt Pauli oder 'n Milch- und Buttergeschäft in Berlin …«
»Dazu bist du doch noch viel zu jung …«
»Ich würd's ja auch nich allein machen. Meine Freundin, die Cläre, die is viel älter als ich und kennt den Zimt aus'm Effeff, die sagt immer: 'n gut jeleiteter Puff und 'n Lebensmitteljeschäft, das sind todsichere Kapitalsanlagen. Warum? – Weil das lebenswichtige Betriebe sind. Na, ich persönlich würde ja nu 'n Milchjeschäft vorziehen. Mit 'n Mächens, das is so 'ne Sache. Die meisten sind faule Schweine. Die meisten Menschen sind Schweine, nich nur die Mächens. Aber so'n Milchjeschäft … Sauber! … Ich hab so gern saubere Sachen. Ganz weiße Kacheln un Nickel und Jlas, und ich selber von morjens bis abends so weiß wie'n Schneeglöckchen. Zu mir müßten die Kunden kilometerweit kommen, bloß wejen die Sauberkeit … Na ja … jeder Mensch hat sein Vogel, sagt man. Das hier is meiner …«
»Kleine Trude«, sagte der Mann, »was kostet ein Milchgeschäft?«
Das Mädchen riß den Kopf hoch. Es sah dem Mann ins Gesicht. Es sagte nach einer Weile, mit einem zugleich nachdenklichen und listigen Lächeln:
»Ick kann mir ja täuschen … aber ich glaube, du beneidest deine Frau um die Sache mit Emil …«
»Bei Gott, du hast recht, kleines Mädchen!« sagte der Mann.
Eine Viertelstunde später klopfte vor dem Eingang zu Dominicus der Motor einer Autotaxe wie ein Menschenherz. Ein Mann stand neben der Tür. Ein Mädchen sah zu ihm auf.
»Das Ganze is doch bloß 'n dummer Witz!« sagte es zornig und zitterte wie ein Hälmchen.
»Nein, Kind – Herrgott, paß doch auf, was ich dir sage! In diesem Umschlag ist der Scheck und die Bestätigung, daß er dir rechtmäßig gehört. Morgen früh um neun, d. h. eigentlich also heute – gehst du zu meiner Bank und hebst dir das Geld ab – ist das klar?«
»Ja …«
»Dann leb wohl, kleine Trude. – Ich danke dir für die Nacht …«
»Aber, lieber Gott …« Ihre Hand lag ratlos in seiner Hand, »wenn du jeder Nutte von Groß-Berlin 'n Milchjeschäft schenken willst –«
»Keine Angst vor der Konkurrenz, kleine Trude … du wirst die einzige bleiben!«
Er schüttelte ihr die Hand und ging. Zu Vollrath. Vollrath öffnete ihm die Tür. Ebro Mannegold sah nach dem Himmel, nach der Uhr.
»Gleich halb drei … wenn wir geradewegs losfahren – Vollrath – –«
»– – Jawohl – –?«
»– – wann können wir dann in Berchtesgaden sein?«
Vollraths Gesicht überlief sich dunkelrot.
»Wenn nicht zu viel Straßen gesperrt sind – heut abend gegen sechs …«
Das hieß, am Abend bei Jo sein …
»Also los!«
Zwei Türen flogen ins Schloß. Der Motor sprang an. Mit einem erschütternden Freudengeheul bemächtigte sich das Lied des Kompressors der Straße.
Die Straße war herrlich. Die Straße führte zu Jo.
Ebro Mannegold hatte den Hut vom Kopf genommen. Der Luftzug durchpfiff ihm die Haare. Er gab sich ihm hin. Er hielt die Augen geschlossen und hörte das sonderbar scharfe, fast zischende Vorüberflitzen an den Straßenbäumen. Hundertzehn Kilometer durchgehaltenes Tempo. Vollrath war unvergleichlich und tat sein Bestes. Denn es ging zu Jo.
Was Jo wohl sagen würde? Und wie ihn empfangen? Sie würde lachen, natürlich … Und sie nicht allein …
Schon Vollrath lachte. Vor Freude, gewiß. Aber ob nicht auch – ganz verstohlen – über ihn? Über das gymnasiastenhafte Ungestüm dieses Losfahrens? Im Grunde genommen, war es ja auch ein Irrsinn. Es wäre sehr viel vernünftiger gewesen, in aller Ruhe zuerst nach Hause zu fahren, das Nötigste einzupacken, Josy zu verständigen und die Vierling. Es war sogar unerläßlich notwendig, die beiden zu verständigen … Er konnte freilich von unterwegs anrufen, aber wie sollte er die Jäheit seines Entschlusses, den Unfug dieser Überstürzung begründen? – Es gab keine Begründung. Er hatte völlig blind und triebhaft aus dem Impuls heraus gehandelt, und wie ein Vakuum saugte dieser Impuls ihn auf … ›Ich wollte zu Jo. Ich wollte heut abend bei Jo sein …‹ Das war alles, was er zu seiner Rechtfertigung aufbrachte.
Josy würde grinsen und die Vierling lächeln. Einige würden wahrscheinlich den Kopf schütteln … Nein, so ging es nicht. Wenn er jetzt nach Hause fuhr und seine Vorbereitungen mit etwas mehr Haltung traf – das bedeutete schlimmstenfalls eine Verzögerung von einigen Stunden, und er konnte noch immer am Abend bei Jo sein …
Von Minute zu Minute bemächtigte sich der anbrechende Alltag gründlicher seiner Straße.
Hundertdreißig Kilometer.
Es war Verschwendung von Betriebsstoff, wenn er noch weiter fuhr, im Innern doch schon entschlossen, nicht weiter zu fahren.
Es ging nicht. Nein, es ging wirklich nicht. Außerdem war es eine unverantwortliche Rücksichtslosigkeit, auf und davon zu jagen, ohne sich wenigstens von der Mutter zu verabschieden, die ja noch immer sehr krank war …
Vorsichtig rief er den Fahrer an. Aber der hörte nicht. Wollte er nicht hören?
»Vollrath –!«
Ein leichtes, aufhorchendes Rucken des Nackens.
»Kehren Sie um! Wir fahren zuerst noch einmal nach Hause …«
Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte der Wagen mit dem rasenden Schwung, den er hatte, eine Telegraphenstange hinaufklettern. Dann stand er. Pochte. Vollrath rührte sich nicht. Er saß mit zusammengezogenen Schultern da, als hätte er einen Schlag auf den Schädel bekommen. Ebro Mannegold strich sein zerflattertes Haar zurück und setzte den Hut auf. Er war graublaß im Gesicht. Zwischen entfärbten Lidern hervor, die Lippen zwischen die Zähne gezogen, sah er auf Vollrath.
Mit einem Atemzug, der kein Ende nahm, richtete Vollrath sich auf. Die weich wendenden Räder prägten ihr Muster scharf in den Sommerstaub. Ebro Mannegold drückte sich in die Ecke zurück, in der er saß, und plötzlich war er sehr müde.
Aus Feldern, aus Wäldern, aus Wiesen, die alle Verheißungen schönerer Felder, Wälder und Wiesen waren, ging es zurück in die Stadt, die ihn gleichgültig aufnahm.
Dreihundert Meter von seinem Hause entfernt sagte Ebro Mannegold – und sonderbarerweise klang seine Stimme bei zweiundzwanzig Grad Morgentemperatur, als ob er fröre:
»Fahren Sie mich zu meiner Mutter, Vollrath …«
Aber als er vor der Gartentür der alten Frau Mannegold den Motor abgestellt hatte, schob er sich aus dem Fahrersitz heraus und seinem Chef in den Weg.
»Herr Mannegold –«
Schweigend, verhalten, ein Aufblick.
»Heut ist der 15. Juli …« Atemholen. »Ich bitte um meine Entlassung zum 1. August.«
Keine Antwort.
»... und es wäre mir lieb, wenn ich noch heute aus dem Dienst gehen könnte …«
Ebro Mannegolds Schultern schoben sich langsam hoch. Sein Mund verquerte sich im graublassen Gesicht.
»Schert euch zum Teufel – alle miteinander«, sagte er heiser. Er kehrte Vollrath den Rücken. Als er die Gartentür zum Hause seiner Kindheit öffnen wollte, wußte er nicht mehr, ob sich die Klinke rechts oder links befand. Vollrath sprang zu und schob die Tür vor ihm auf.
Aber der Chef des Hauses Mannegold & Co. drehte sich um und ging hastig die Straße entlang; das sah aus, als liefe er auf seinem eigenen Schatten.