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Das Haus lag auf dreiviertel Höhe des Berges. Hinter ihm stieg der Wald nur wenig noch hinan; über den im lastenden Schmuck der Tannenzapfen goldbraun erscheinenden Wipfeln schmiegte sich blühender Wiesenhang höher und höher und verschwamm als eine feingebuckelte Grenzlinie mit dem Blust der ferneren und herberen Felshänge.
Das Haus war nicht groß. Kaum mehr als ein Bauernhaus, mit grauen Schindeln und Steinen auf dem Dach, das schützend vorsprang über den rundum laufenden Altan. Die Fenster klein und wie zersprengt von den Blumen, die sonnengierig als bunte Kaskaden nach außen stürzten. Auf dem weißen, steinernen Unterbau der schöne Hausrumpf aus ungestrichenem Holz, das von Sonne, Wind und Regen schon eine warmgoldene Färbung bekommen hatte.
Vor dem Haus ein Brunnen; aus hölzernem Rohr plätscherte das Wasser in einen hölzernen Langtrog und von dort als schmalglitzernde Lebendigkeit, des eigenen Wegwillens froh, ungefaßt und unbekümmert talabwärts.
Jenseits des schönen Tales standen die Berge groß. Sie hoben sich wie Könige über die Vasallenrücken waldtragender Hügel. Sie waren von leuchtender Herbheit, Marmor- und Felsschroffen.
Oben lag Schnee. Ewiger Schnee.
Die Sonne war längst versunken, und immer noch brannte in den jähen Hängen des Hohen Göll ein purpurnes Leuchten. Blau als ein strenger Schattenriß hob sich der Hochkalter in den durchsichtigen Himmel. Und zwischen den beiden Riesen der höchste Riese, griff der zwiefache Gipfel des Watzmann mit schönster Gebärde nach dem ersten auffunkelnden Stern.
Über das Schneefeld zwischen seinen beiden Häuptern zog eine Wolke wie ein Atemrauch. Der Brunnen wisperte.
Wenn Tilly Ebenezer die Augen senkte, konnte sie Vollraths ausruhende Schultern sehen. Er saß auf dem Brunnenrande. Seit einer Stunde saß er da. Nichts schien an ihm lebendig als zuweilen das Aufglühen seiner Zigarette.
Jos Stimme kam aus dem Nebenzimmer.
»Geh endlich schlafen, Tillychen. Oder geh wenigstens vom Fenster weg. Du bist die Luft hier oben nicht gewöhnt. Die ist über ewigen Schnee gegangen.«
Tilly Ebenezer gehorchte recht zögernd. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch nicht einmal zehn. Das nannte man also mit den Hühnern schlafen gehen … Sie war nicht müde, war wunderlich erregt, als hätte sie einen Schuß Kohlensäure in den Adern. Kleine prickelnde Schauer tanzten über ihre Haut – kam das von der Luft? Von der Luft, die über ewigen Schnee gegangen war?
Sie fing an sich zu entkleiden. Sie lief dabei hin und her wie ein kleiner Hund, der die Fährte seines Herrn verloren hat. Sie brachte es fertig, mit den wenigen Belanglosigkeiten, die sie an ihrem dünnen Körperchen trug, ein ziemlich großes und methodisch eingerichtetes Zimmer in ein heilloses Durcheinander zu verwandeln. Sie richtete im Badezimmer eine Überschwemmung an. Sie fand ihre Pyjamas nicht und war wütend über ihr Haar.
»Hm …«
»Was hast du eigentlich mit dem Eskimoweib andeuten wollen – heute nachmittag?«
Jos Stimme klang etwas schläfrig.
»Frag lieber nicht, Tillychen. Es ist keine Schmeichelei.«
»Ich möchte es aber wissen!«
»... Die Bauern hier, siehst du, pflegen das Heu um kleine, sehr zierliche Holzreiter aufzuschichten – nicht höher als ich mir denke, daß Eskimofrauchen wachsen. Es ist ein sehr hübsches Bild, so eine bergansteigende Wiese mit zwanzig, dreißig und mehr solcher Heuweibchen. Wenn es dämmert oder Nebel zieht, möchtest du darauf schwören, die ganze Gesellschaft wandere den Berg hinauf, um irgendeinem Gespenstermeeting beizuwohnen … Wenn aber die Eskimofrauchen sehr viel Regen auf ihren Heupelz bekommen und wenn der Wind sie zerzaust hat – dann bieten sie einen ziemlich desperaten Anblick. Die Schlußfolgerung ziehe gefälligst selbst …«
Tilly Ebenezer antwortete nicht.
Sie saß auf ihrem Bett und betrachtete die Zehen ihrer spielenden Füße. Sie fand sie häßlich und seufzte. In einem plötzlichen Frieren schlüpfte sie unter die Decke. Das Licht ließ sie brennen.
»Gute Nacht, Jo.«
»Gute Nacht, Tillychen.«
Stille.
Wie hell der Himmel über den Bergen war …
Ewiger Schnee.
Auch im glühendsten Mittsommer ewiger Schnee …
Tilly Ebenezer wandte das zerraufte Köpfchen von einer Seite auf die andere. Ihr Herz schlug wie verrückt.
»Jo …?«
»Hm …«
»Was flüstert da so ununterbrochen?«
»Das ist der Brunnen, Tillychen …«
»... Kann man den nicht abstellen?«
Jo lachte. Es klang gut und schwesterlich, aber auch ein bißchen boshaft.
»Nein, Tillychen. Das ist Quellwasser, siehst du. Eine Wasserleitung kann man abstellen. Eine Quelle nicht … die kann versiegen, sie kann sich neue Wege suchen … man kann sie auch verschütten … aber abstellen kann man sie nicht …«
Tilly setzte sich im Bett auf. Sie war so hell wach wie noch nie in ihrem Leben. Sie hatte ein Gefühl, als ob alle ihre Sinne sich verzehnfacht hätten. Sie strich mit den Fingerspitzen über die Haut ihrer Arme und wunderte sich, daß nicht kleine Funken aus der Berührung aufknisterten.
Ob Vollrath noch immer auf dem Brunnenrande saß?
Mit einem Husch war sie aus dem Bett und am Fenster, beugte sich hinaus.
Der Platz am Brunnenrand war leer. Aber gegen den Wald hinunter regte sich etwas im blassen Blau der wunderbaren Nacht wie ein sachtes, verschmolzenes Schreiten.
»Sag, Tillychen, hast du einen kleinen Klaps? Willst du sofort machen, daß du ins Bett kommst?«
Die Frau am Fenster schüttelte sich wie in einem leisen, süßen Frösteln.
»Ich kann nicht schlafen, Jo … Vollrath anscheinend auch nicht. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, spaziert er da mit einem deiner Mädchen wohl in den grünen Wald, juchhe – wohl in den grünen Wald …«
»Hoffentlich hat er sich die Schönste ausgesucht. Zu gönnen wär's ihm; ich kenne seine Frau. Sie erinnert mich immer an essigsaure Tonerde: ganz nützlich, aber für einen gesunden Menschen unverwendbar.«
»Du bist sehr tolerant, Jo.«
»Das ist meine Form von Menschenliebe …«
Tilly Ebenezer stand in der offenen Tür.
»Darf ich nicht zu dir kommen, Jo?«
»Ja, in Gottes Namen, du kleine tropfende Wasserleitung. Morgen kriegst du ein anderes Zimmer.«
»Darf ich zu dir ins Bett schlüpfen?«
»Nein, Tillychen. Ich habe augenblicklich das Bedürfnis nach sehr viel Platz im Bett und kühlen, ganz frischen Leinentüchern, die nach Sonnenbleiche duften. Pack deine Decken auf den Diwan, und wenn du gemütlich liegst, dann dreh den Hahn deiner Beredsamkeit auf, sonst bringt dich der gestaute Stoff zum Platzen.«
Tilly Ebenezer gehorchte. Sie lief auf nackten Sohlen hin und her, und sooft sie sich mit einem neuen Requisit ihrer improvisierten Schlafstatt an Jos breitem Bett vorüberschleppte, sah sie in der blauen Dämmerung der Nacht, die nicht dunkel werden wollte, Jos Augen groß und spottend auf sich gerichtet.
Jetzt lag sie also. Nicht ganz so gut wie zuvor im Bett nebenan, aber auch nicht allein in der Nacht und im Zimmer allein, während draußen der Brunnquell flüsterte. Und Menschen umschlungen mit der Nacht verschmolzen.
»Ich höre.«
»Willst du mir nun nicht endlich sagen, warum du von Ebro weggelaufen bist?«
Jo hob ihre schonen, blanken Arme und kreuzte sie über dem Kopf. Ihre Augen mußten ganz weit offen stehen und nach oben schauen.
»Du hast das einzig richtige Wort gebraucht, Tillychen … ›weggelaufen‹ … Ja, gelaufen bin ich … aus allen Kräften und so weit ich konnte …«
»Aber warum, Jo –? Warum, um Gottes willen?«
Tillys Stimme klang, als wollte sie in Weinen ausbrechen.
Jos Stimme lachte.
»Weil ich mich verliebt habe.«
»– – Verliebt? – –«
»So ist es!«
»Mein Gott, verliebt – das passiert ja schließlich jedem einmal …« Tillys Stimme gewann bedeutend an Festigkeit. Fast hätte sie gesagt: wie kindisch du bist, Jo! … »Deswegen läuft man doch nicht gleich von Mann und Haus davon!«
»Nein? – Aber vielleicht ist mein Fall besonders kompliziert? …«
»Also: in wen hast du dich verliebt, Jo …«
»In eine Frau.«
»Jo – – –!!!«
Tilly Ebenezer fuhr aus den Kissen auf, daß sämtliche Bestandteile ihres Nachtlagers zu Boden rutschten. Sie wollte danach greifen, kam selbst ins Gleiten und kauerte, halb auf den Knien, die Hände ins Heuhaar gekrampft, eine Statue des Entsetzens in fliederfarbenem Pyjama, zwischen Kissen und Decken auf der bunten Matte vor Jos kühlem, nach Sonnenbleiche duftendem Bett.
Jo wandte den braunen Kopf in ihren gekreuzten Armen. Sie sah ihre Schwägerin Tilly mit spottenden Augen an.
»Du hast es nötig, Tillychen Ebenezer vom Kurfürstendamm! Wenn man sich einmal der Mühe unterzog, euren gesprächsweisen Sexualfanfaren zuzuhören, sobald ihr Weiberchen unter euch wart und euch gegenseitig zu übertrumpfen versuchtet, da fing der salonfähige Mensch bei der Blutschande an!«
Tillys Hände fielen an ihr herunter. Sie war so tief bestürzt, so ehrlich außer sich, daß sie wie ein Flämmchen in einer zerbrochenen Laterne zitterte.
»Jo … Jo …« Plötzlich mußte sie an den Bruder denken, an den Mann dieser Frau, die … (»Ich halte es für ausgeschlossen, daß du ohne Jo zurückkommst, liebe Tilly!«) … O Gott, o Gott, in was hatte sie sich da eingelassen!
»Wer ist die Frau, Jo?« stammelte sie, schluckend in tiefem, verwirrtem Kummer. (Was wird Ebro sagen? Was wird Ebro sagen?) … Allzu schmale Schultern duckten sich hilflos unter viel zu schwerer Bürde der Verantwortung. An der nervösen Hasennase kollerte eine Träne entlang und rieselte auf den rührenden dummen Mund.
»Das ist mein Geheimnis, Tillychen.«
»Wie hast du sie nur um Gottes willen kennengelernt?!« (Josy muß augenblicklich kommen, augenblicklich! Ich muß versuchen, ihn telefonisch zu erreichen …)
»Durch Ebro.«
»Ausgerechnet durch Ebro –! Aber wann denn –?!«
»Bei der letzten großen Gesellschaft, die als Frau Eberhard Mannegold zu inszenieren ich die Ehre hatte.«
»Dann … müßte ich sie doch auch kennen …«
»Was man so kennen nennt …«
Tilly Ebenezer rieb sich mit der umgekehrten Faust die Stirn, auf der sich die Anstrengung des Grübelns als sichtbarer Prozeß abspielte.
»Gib dir keine Mühe, Tillychen. Du kommst doch nicht drauf.«
Der fliederfarbene Pyjama seufzte. In die sehr hübschen Oh-indeed!-Augen unter dem apostrophierten Haar kam ein unsicheres Flimmern.
»Ist sie schön, deine Freundin?«
»Ich finde sie bezaubernd!«
»Und du liebst sie sehr …?«
»Sehr, Tillychen.«
»Seid ihr –«, die Stimme des Pyjamas verhauchte zum Flüstern –, »seid ihr sehr glücklich?«
»Blödsinnig glücklich«, antwortete Jo kräftig. Sie löste die verschränkten Arme und dehnte sie hoch und weit, die braunen Hände spreizend, als faßten sie nicht genug, noch immer nicht genug von der Seligkeit, die sie umhüllte wie Luft.
»Wo ist sie jetzt?« fragte der Pyjama, beklommen auf diese durch die Dunkelheit strahlende Frau hinschauend.
»Bei mir.«
»Ach du großer Gott, Jo –! Dann wirst du sie mit mir zusammenbringen –!?«
»Tillychen, Tillychen! Man nehme ein Teil Angst, drei Teile Entrüstung und sechs Teile hoffnungsvolle Neugier – dann hat man den Ton, der aus dieser deiner Frage klang!«
»Die du nicht beantwortet hast …«, suchte der Pyjama sich zu retten.
»Ich werde sie auch nicht beantworten, Tillychen. Lassen wir den Zufall walten …«
»Aber ich muß sie sehen, Jo – ich muß doch Ebro … Er hat doch keine Ahnung – keine Ahnung –!«
»Nein. Aber ist das etwas Neues? Von allem, was mich betrifft, keine Ahnung zu haben, war doch eigentlich Ebros Spezialität.«
»Du tust ihm bitter unrecht, Jo –! Ebro liebt dich!«
»Na na –!«
»Er liebt dich, Jo – Wahrhaftig! Du hast keine Ahnung, wie dein – dein Weggang ihn ins Herz getroffen hat!«
»In was?«
»Jo –!«
»Moment! War Ebro am Tage meiner Abreise in der Aufsichtsratssitzung oder nicht?«
»Gott – Jo …!«
»Siehst du wohl! – Tillychen, glaube mir, es gibt keinen besseren Leim für gebrochene Herzen als eine Aufsichtsratssitzung. Da merkt der Mensch erst, wieviel er verschmerzen kann! Liebes Kind, ich habe dich nicht hergerufen. Ich sage dir aufrichtig, als ich deine Depesche bekam, hast du mir hundeleid getan, weil ich wußte, in was für eine himmelschreiende Blamage man dich da hineinjagte. Aber nun bist du hier und hast mich herausgefordert. Jetzt trage die Folgen!«
Sie schwang sich im Bett auf und schlang die Arme um die hochgezogenen Knie. Der schöne Bogen ihres Rückens leuchtete.
»Was willst du eigentlich von mir, Frau Tilly Ebenezer geb. Mannegold?«
»Ich –«, der fliederfarbene Pyjama bekam plötzlich ein Gesicht. Ein schlichtes, maskenloses und liebes Gesicht. (Wie sie ihrer Mutter ähnlich sieht, dachte Jo und fühlte, daß ihre Augen heiß wurden.) »Ich will dich heimholen …«, sagte Tilly Ebenezer einfach. Jos Hand durchschimmerte die Luft wie ein auffliegender Vogel.
»Kleine Tilly, ich habe dich nie zuvor liebgehabt. Jetzt habe ich dich lieb … Ebro war klüger, als ich dachte. Kein Mensch hätte bessere Chancen, mich wieder zu ihm zu holen, als du. Aber womit willst du mich locken?«
»Ich will dich gar nicht locken. Ich wollte dir sagen, wie es wirklich ist. Ich wollte dir sagen …«
»Nun – was?«
»Ich wollte von Ebro sprechen, Jo …«
»Gut, sprechen wir von Ebro. Ich will dir zugestehen, Tillychen, daß es mir heute noch immer derselbe Genuß ist, von ihm zu sprechen, wie vor fünfzehn Jahren, als ich meine Nächte zerpflückte, um zu mir selbst von ihm zu sprechen. ›Eines Hauptes länger als alles Volk‹. O ja, er war schon wundervoll … Später hat sich das Wunder ernüchtert.«
»Hat Ebro sich so geändert, Jo?«
»Nein, er hat sich wohl nicht geändert. Menschen ändern sich nie. Sie entwickeln sich nur. Meistens nach der unvermuteten Seite. Und das pflegen wir ihnen übelzunehmen – unseren Mangel an Menschenkenntnis.«
»Wenn du so sprichst, Jo, was wirfst du ihm dann vor?«
»Ich werfe ihm gar nichts vor, Tillychen. Ich bin nur fest entschlossen, es nicht mehr mitzumachen. Du sagst, er liebt mich. Schön. Vielleicht ist meine Theorie falsch, aber ich messe die Tiefe einer Liebe nach dem Grade, in dem ein Mensch den andern braucht – notwendig – blutnötig zum Leben hat. Bei Ebro hatte ich immer eine Zwangsvorstellung: irgendeine große Gesellschaft, die wir gemeinsam abbüßen. Ich plaudere mit der Hausfrau, Ebro kommt auf uns zu – du kennst seine wunderbare Art, durch angestaute Menschen hindurchzuschwimmen –, er sieht mich an, stutzt ein wenig, grübelt und flüstert der Hausfrau zu: ›Darf ich Sie bitten, gnädige Frau, mich mit der Dame bekannt zu machen?‹ – Tillychen, wenn er nicht jedesmal, dank meiner ausgeklügelten Methoden, beim Aussteigen über meine Füße gestolpert wäre, hätte er mich bereits auf der Hinfahrt im Auto vergessen wie eine alte B. Z. …«
»Jo, und trotzdem liebt er dich …«
»Kann sein. Aber siehst du, ich mache mir nichts aus verborgenen Schätzen. Ich mache mir auch nichts aus Kakteen, die monatelang aussehen wie getrocknete Seeigel und plötzlich an unvermutbarer Stelle eine Blüte ausschwären, grell und alarmierend wie eine Feuerfanfare. Ich bin primitiv. Im Vertrauen gesagt, Tillychen: alle Frauen sind primitiv. Und die sich am kompliziertesten haben, das sind die allerprimitivsten! Laß eine sich gebärden, als wäre sie eine Kreuzung zwischen einem siamesischen Kater und einer Vandopsis-Orchidee – wenn der rechte Mann die Arme nach ihr ausstreckt mit der schlichtesten und ergreifendsten Gebärde aller Jahrtausende, dann ist sie nichts als ein Mund, ihn zu küssen, ein Schoß, ihn zu empfangen, ein Herz, daran er sich betten kann … Aber gerufen werden wollen wir alle … Und wenn der Mann die Arme nicht mehr ausstreckt nach der Frau, sondern über ihre Füße stolpert, dann soll die Frau so graziös und geschmackvoll, als sie nur irgend kann, aus dem gemeinsamen Lebenskarren steigen – ›ade, ade!‹ – und – laß ihn rollen, den Mann ohne Sehnsucht, und geh deinen eigenen Weg.«
Tilly Ebenezer hatte ihr Gesicht gegen das Fenster gewandt. Es lag ein blaubleicher Schimmer darauf. Der hilflose Mund, der halb offenstand, zerriß es auf klägliche Weise.
»Laß ihn rollen, sagst du … Weil du nicht liebst, Jo. Sonst würdest du wohl auch versuchen, dich festzuklammern …«
»Tillychen, die Frau, die da glaubt, Gott habe ihr zwei Arme gegeben, um den Mann damit festzuhalten, der soll man die Arme abschlagen. Denn sie hat nichts begriffen vom Sinn der Liebe.«
»Was ist der Sinn der Liebe, Jo?«
»Gerufen zu werden, Tillychen. Und dem Ruf zu antworten und freiwillig zu kommen …«
»Aber Ebro ruft dich ja –«
»Durch dich … Tillychen, man kann einen Menschen eventuell durch Stellvertretung rechtsgültig heiraten. Aber die Ehe vollziehen muß man schon persönlich.«
Tilly Ebenezer antwortete durch einen Seufzer.
»Willst du nun nicht endlich schlafen, armer kleiner Familienbote?« fragte Jo und klopfte beispielgebend ihr Kopfkissen zurecht.
»Ich bin nicht müde, Jo …« Immer sprach sie zum Fenster hin. Nach einer Pause: »Gerufen werden, sagst du … Und wenn der Mann nicht ruft?«
»Die Hirsche röhren, Tillychen, nicht die Hindinnen. Die Vogelmännchen singen, nicht die Weibchen. Und etwas des Scheußlichsten auf dieser Welt ist eine Katze, die nach dem Kater maunzt.«
»Deine zoologische Philosophie begründet, aber sie tröstet nicht, Jo. Was soll die Frau tun, wenn der Mann nicht ruft?«
»Alles außer einem, Tillychen: ungerufen kommen …«
»Das ist schwer …«
»Alles ist schwer zwischen Mensch und Mensch.«
»Und wenn der Mann – immer weiter weg – geht und geht …?«
»Dann darf man – für den Fall, daß er sich doch noch einmal umdreht – unter keiner Bedingung ein verregnetes Heubündel auf dem Kopfe zur Schau tragen …«
Tilly Ebenezer fiel vornüber in die Kissen, die am Boden lagen. Sie fiel mit der leidenschaftlichen Hemmungslosigkeit einer Anrufung fremder, tauber und als böswillig erkannter Götter. Ihr kleines hohes Weinen bettelte durch die Nacht.
Jo lief zu ihr hin und kniete bei ihr nieder. Sie hob sie auf und hielt sie in ihren Armen. Sie wiegte sie hin und her und sagte: »Der Teufel soll es holen, das ganze verdammte, angebetete Pack …« Dann sagte sie nichts mehr. Das arme Weinen Tilly Ebenezers wurde immer leiser und klang in einem zitternden Atmen aus.
»Deine Freundin muß dich sehr lieb haben«, flüsterte sie.
»Hm … Reden wir lieber von dir, Tillychen. Wolltest du nicht an Josy telefonieren?«
»Du bist so durchsichtig wie eine Meerqualle, Tillychen. Deine Seele gibt immerzu Leuchtsignale ab. Das Telefon steht übrigens im Gartenzimmer auf dem Schreibtisch.«
»Ich glaube nicht, daß ich meinen Herrn Gemahl in der Nacht erreiche, Jo. Ich kann nicht sämtliche Frauenzimmerlokale Wiens der Reihe nach anrufen …«
»Armer Josy«, sagte die Schwägerin seiner Frau.
»Armer Josy! Findest du vielleicht, daß er zu bedauern ist, Jo?«
»Glaubst du vielleicht, daß er glücklich ist, Tillychen?«
Die Frage blieb ohne Antwort.
»Mir tut jeder Mensch leid, der verheiratet ist«, fuhr Jo fort. »Die Ehe ist die Erziehung zum schlechten Gewissen, und schlechtes Gewissen verdirbt den Charakter, weil wir schließlich den Menschen hassen, gegen den wir ein schlechtes Gewissen haben …«
»Vielleicht hast du recht«, stammelte Tilly Ebenezer. Ihre Stimme klang zerquält von der physischen Anstrengung abgewürgten Weinens. »Vielleicht haßt er mich darum … Was soll ich tun, Jo? Was soll ich tun?«
»In zwei – drei Tagen werde ich es wissen, Tillychen. Jetzt bringe ich dich zu Bett. Und werde bei dir sitzen, bis du eingeschlafen bist. Ach, du Federgewicht! Du erstaunliche Winzigkeit! Wenn Josy dich in die Arme nimmt, wo steckst du dann eigentlich? Hast du nicht Platz in seiner hohlen Hand? Kannst du nicht bequem in seiner Herzgrube wohnen? – Warum weinst du nun schon wieder, du Unglücksvogel?«
»Ach, ich sehne mich, Jo – ich sehne mich …«
»Das tut Josy auch … Sonst ginge er nicht so arm in die Irre. Und würde sich seinen Rausch nicht soviel Geld kosten lassen. Das bedeutet bei einem Mann wie Josy einen hohen Grad von Verzweiflung.«
»Glaubst du – hältst du es für möglich … daß er wieder zu mir kommt, Jo?«
»Ich weiß es nicht, Tillychen –, ich kann dir nur wieder mit meiner zoologischen Philosophie kommen. Die Leuchtkäfer-Männchen, siehst du, die schwärmen in der Nacht. Ach diese schönen Gespensterchen der Sehnsucht, des Suchens … Aber die Leuchtkäfer-Frauchen, die sitzen tief unten im Gras, im Moos, an den warmen Krumen der Erde. Leuchten und warten. Warten und leuchten. Und wenn ich ein Leuchtkäfer-Männchen wäre – ich würde das Lichtchen suchen, das am zärtlichsten leuchtet … Bist du das, Tillychen?«
Schweigen.
Vor dem Fenster der Brunnen schwatzte in einer süßen Verträumtheit lieb vor sich hin. Die Mitternacht ging schlafen auf den Bergen.
»Hörst du?« fragte Tilly flüsternd.
Die Schritte zweier Menschen tasteten sich heim in das schmunzelnde Haus.
»Morgen«, sagte Jo Mannegold mit einem Lachen in der Kehle, »werde ich dem Mädel etwas schenken.«
»Woran willst du sie erkennen?« fragte Tilly, die Wange auf Jos Hand gelegt. »Du weißt ja nicht, welche es ist …«
»Doch, doch«, sagte Jo halblaut, als sänge sie, »die ist es, die am frühesten auf sein und die mir den Strauß für den Morgentisch pflücken wird, und die mir den ganzen Tag am zärtlichsten dient. Und sooft wir uns anschauen, sie und ich, werden wir beide lachen.«
»Wenn du diese Methode weiter entwickelst, Jo, dann wirst du in ein paar Jahren das ganze Haus voll unehelicher Kinder haben.«
»Hoffentlich!« sagte Jo.
Die schmale Wange in ihrer Hand rührte sich ein wenig, halb wie zu einem Kopfschütteln, halb wie zu einem Kuß. Dann lag sie still. Und der leise Atem der Schlafenden verschmolz mit dem Atem der Mitternacht, der von den Bergen wehte.