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Es ist für den Verlauf dieser Geschichte notwendig, daß wir Dan jetzt in seinem neu errungenen Seelenfrieden verlassen und zu dem Anfang dieses Weihnachtstages auf der Insel zurückkehren.
Die Parochie Michael begann den Tag mit allen seinen alten Gebräuchen. Während der Morgen des Weihnachtstages noch schwach mit der Nacht des heiligen Abends kämpfte, zog eine Horde der niederen Klasse angehörender Menschen mit Laternen und langen Stöcken bewaffnet nach den Heckenwegen aus, um unter Lärmen und Lachen die Büsche zu schlagen. Es war die alljährliche Jagd nach dem Zaunkönig. Noch ehe die Leute der Parochie sich zu ihrem Weihnachtsfrühstück niedersetzten, standen zwei der Todfeinde dieses kleinen Vogels mit einer langen, von Schulter zu Schulter laufenden Stange und einem von der Mitte herabhängenden ganz kleinen Zaunkönig in der Dorfstraße. Ihre tapferen Genossen waren um sie versammelt und pflückten ab und zu eine Feder von der Brust des kleinen Vogels. Auf der einen Seite der Versammlung, von einer Schar Kinder umringt, stand Christopher, ein Weihnachtslied singend und sich auf der Violine dazu begleitend. Das Lied berichtete die traurige Geschichte eines bösen Geistes, der in Gestalt eines Weibes die Insel in vergangenen Tagen heimgesucht und, als die Leute sich gegen ihn verschworen und ihn in die See treiben wollten, sich in einen Zaunkönig verwandelt hatte, und wie alles dies am Tage des heiligen Stephan geschehen sei. Ein Junge, in dessen dunklen Augen der Übermut blitzte, hielt dem Gärtner ein zerknittertes Papier von unten nach oben vor, und von diesem umgekehrten Notenblatt und Text gab der unbelesene Narr zu singen und zu spielen vor. Die Weiber traten unter ihre Türen, um zu lauschen, und die Männer lehnten, mit beiden Händen in den Hosentaschen, gegen die Wände ihrer Häuser und rauchten und blickten schläfrig drein.
Als die lärmende Menge vorüber war, sank die Straße wieder in ihre gewohnte Ruhe zurück, die durch nichts anderes, als durch die Stimme eines braunhaarigen kleinen Mädchens unterbrochen wurde, das, mit nach Fischweiberart hochgesteckter weißer Schürze »Garnelen, schöne, frische Garnelen!« feilbot, und darauf durch eine kräftigere und des kleinen Mädchens Rufe übertönende Knabenstimme, die »Meeraal – Meeraal – schöner, frischer Meeraal, meine Damen, so dick wie eines Pastors Bauch! Meeraal – Meeraal!« rief.
Es war kein strahlender Morgen, die Sonne aber blickte schläfrig durch einen weißen, feuchten, die Berge verbergenden Dunst hervor. Der Schnee der vergangenen Nacht war durch den heftigen Regen vom Morgen noch nicht ganz fortgewaschen und lag noch auf den Dachrinnen der strohbedeckten Häuser und zwischen den Steinen der gepflasterten Straße. Der blaue Rauch schlängelte sich von jedem Schornstein durch die dicke Luft empor, als die Glocken von Bischofs-Hof für den Weihnachtsgottesdienst zu läuten begannen. Hier und da trat eine alte Frau in langem, blauem Mantel und Mütze aus ihrer Hütte heraus und humpelte an ihrem Stock zur Kirche. Zwei oder drei Männer in Wasserstiefeln mit Garnelen-Netzen über den Schultern und Pfeifen im Munde schlenderten den am Schlachthof vorüberführenden Weg hinunter, dem Strande zu.
Eine halbe Stunde später, während die Glocken noch läuteten und die Leute in die Kirche hineinschwärmten, kam der Bischof aus seinem Hause heraus und schritt der Sakristei zu. Sein Gesicht trug an diesem Morgen einen abgehärmten und müden Ausdruck, als ob die Nacht hart mit ihm verfahren sei, er lächelte den Frauen, als sie ihm ihre Knickse machten, jedoch freundlich zu und grüßte die an ihre Mützen greifenden Männern mit einer Handbewegung.
»Guten Morgen und ein fröhliches Weihnachtsfest,« sagte er zu Willy-Thorn, dem Kirchendiener, der barhaupt und bis auf seine grauärmelige Schafsfellweste entblößt, im Schweiße seines Angesichtes in der Kirche das Glockenseil zog.
Ebenso begrüßte er Bill den Tölpel, den grauen alten Burschen, der in seinen späteren Tagen noch in sich gekehrt war.
»Ein fröhliches Weihnachtsfest, Bill, und möget Ihr mit Gottes Hilfe noch viele erleben.«
Bill lehnte gegen den Kirchtürpfeiler und nahm die ihm gebotenen Almosen in Empfang.
»Dann ist es aber kein Leben mehr, Mylord, sondern nur noch 'n Hinhalten,« sagte dieser alte Bartimeus.
Und Jabez Gahn, der dürre, kleine Schneider, erfreute sich gleichfalls des Grußes des Bischofs, als derselbe in seinem alten Mantel mit den vielen Knöpfen an ihm vorüberschritt.
»Ein fröhliches Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr, Jabez!«
»Ja, ja, Mylord,« antwortete Jabez mit einem ellenlangen Gesicht, »wenn das neue Jahr nicht besser wird, als das vergangene mit seinen schlechten Zeiten und hohen Mieten und dem Schulgeld für die Kinder, dann werde ich ganz gewiß noch ins Armenhaus müssen.«
»Nein, nein, Jabez, erinnert Euch unseres alten Sprichwortes: »Je größer die Stille, desto näher der Südwind«.«
Als der Bischof sich der Sakristeitüre zuwandte, gingen die blinde Kerry und ihr Gatte Christopher an ihm vorüber und er rief ihnen, wie er es bei den anderen getan hatte, einen Gruß zu.
»Ich freue mich, Euch so wohl zu sehen, Mylord,« sagte die blinde Frau.
»Ja, ich bin im ganzen ja auch wohl, Gott sei Dank!« sagte der Bischof; »und wie geht es Euch, Kerry?«
»Mir geht's gut, Mylord, mir geht's gut, aber mein zweites Gesicht bringt mich in tödliche Verzweiflung. Ach, Sir, 's ist immer das zweite Gesicht, das zweite Gesicht, und 's ist Herr Dan, den ich immer noch sehe. Heute morgen, als ich erwachte, was stellte sich mir dar! – Eine ganze Gesellschaft vornehmer Herren aus dem Regierungsgebäude, die alle mit Laternen nach dem Kirchhofe gingen. Ja, so war's wirklich, Sir, Mylord, und wenn Ihr mich wahrscheinlich auch für toll und verdreht, wie man zu sagen pflegt, halten werdet.«
Der Bischof hörte der geschwätzigen Zunge der blinden Frau mit niedergebeugtem Haupt und einem schmerzlichen Ausdruck auf dem Gesicht zu und sagte, während er die Hand auf den hölzernen Drücker der Sakristeitüre legte –.
»Es kommt mir nicht zu, Euch auszulachen, Kerry, Weib. Ich selbst bin die ganze Nacht durch ein beunruhigendes Gefühl gepeinigt worden, das sich weder erklären noch abtun lassen wollte. Laßt uns aber nicht mehr von solchen Rätseln reden. Es gibt Abgründe, die zu erforschen wir nie hoffen dürfen. Wir müssen uns damit zufrieden geben, wenn wir durch Gottes Weisheit und Gnade den Weg sehen können, den unsere Füße zu wandeln haben.«
Nach diesen Worten wandte sich der Bischof ab und ging in die Türe hinein, während Kerry und ihr Mann durch die westliche Türe die Kirche betraten.
»Er ist ein wahrer alter Engel, ja, das ist er,« flüsterte Kerry, sich auf die Zehenspitzen erhebend in Christophers taubes Ohr, während sie an Willy-Thorn vorübergingen.
»Ja, ja, ja,« sagte Christopher, »der wahre alte Erzengel, das ist er!«
Noch immer läuteten die Glocken für den Morgengottesdienst.
Drinnen in der Kirche war eine zahlreichere Gemeinde als gewöhnlich versammelt. Es gab an diesem Weihnachtsmorgen so viel Händeschütteln und Beglückwünschungen im Schiff und in den Stühlen der Kirche, daß es zuerst niemandem – außer den wenigen Mißvergnügten, wie Bill der Tölpel und Jabez Gahn, für die die Würze des Lebens meistens Essig war – auffiel, daß die Stunde für den Beginn des Gottesdienstes gekommen und vorübergegangen war. Die Chorsänger auf der westlichen Galerie hatten ihren Platz zu beiden Seiten von Willy-Thorns leerem Sitz über der Uhr mit der auf ihrem Bort ruhenden Stimmpfeife eingenommen und schauten sich, während sie ihre Bücher aufschlugen, nach einem Gesprächsstoff um. Dann schwieg die Glocke, nachdem sie einige Minuten über ihre Zeit geläutet hatte; das Flüstern erstarb in den Stühlen und bis zum Chor hinauf, und nur das Geräusch des Umschlagens vieler Seiten unterbrach einen Moment darnach noch die Stille.
Der Bischof betrat wenige Minuten später den Altarplatz, und während er zum Gebet niederkniete, senkten sich hundert Köpfe, wie Korn vor dem Südwind, vor dem Wind der Gewohnheit, auf die Bücherpulte. Als der Bischof sich wieder erhob, entstand ein; Schurren und Stühlerücken in den Kirchenstühlen, dem ein allgemeines Halsausrecken nach seiner Richtung hin und ein unterdrücktes Flüstern folgten.
»Wo ist Pastor Ewan?«
»Was ist dem jungen Pastor zugestoßen?«
Der Bischof blieb allein vor dem Altar und machte keine Anstalt, den Gottesdienst zu beginnen. Auf der Galerie warteten die Sänger mit den Büchern in den Händen darauf, daß Willy-Thorn seinen Platz über der Uhr einnehmen sollte; sein Stuhl jedoch blieb unbesetzt. Dann zur allgemeinen Überraschung begann die Glocke von neuem zu läuten, langsam und unsicher zuerst, dann mit lauter Stimme über die Häupter der erstaunten Gemeinde hinweg. Darauf steckten die Leute die Köpfe zusammen und flüsterten.
Was war nur Pastor Ewan zugestoßen? Hatte er vergessen, daß er an dem Morgen zu predigen hatte? Die blinde Kerry meinte, ob es nicht das beste sei, irgend jemand der Mannsmenschen nach dem alten Ballamona hinüberzuschicken und ihn, wie man zu sagen pflegt, aus dem Bette holen zu lassen. Herr Quirk jedoch gab in »gebildeter« Sprache, wie es seinem Stande als Schulmeister zukam, seiner Meinung Ausdruck, daß der Pastor wahrscheinlich einen kleinen »détour« nach seinem Frühstück gemacht und die Zeit verpaßt hätte.
Noch immer läutete die Glocke und das ungeduldige Schurren in den Kirchenstühlen machte sich immer hörbarer. Dann inmitten einer verkürzten Schwingung des eisernen Schwengels im Dachstuhl erschienen in der Öffnung des grünen Vorhangs, der die Vorhalle von dem Innern der Kirche trennte, Kopf und Schultern von Willy-Thorn, um Christopher herauszuwinken. Christopher erhob sich und schlenkerte, dem Winke Folge leistend, das Schiff der Kirche hinab, und dann unter vielem Kopfzusammenstecken in den Stühlen erhob sich der im Augenblick einer allgemeinen Aufregung nie fehlende Schulmeister ebenfalls und folgte Christopher nach der Vorhalle hinaus. Das Flüstern war zu einem Brausen angeschwollen und übertönte selbst den lauten Glockenklang, als der kleine Jabez Gahn sich ebenfalls berufen fühlte, aufzustehen und den andern nachzugehen.
Der Bischof saß während dieser ganzen Zeit bewegungslos, mit niedergebeugtem Haupt, bleicher als gewöhnlich, vor dem Altar; seine ganze Gestalt machte einen schwachen, etwas schlaffen Eindruck, als ob fortgesetztes stummes, heimliches Dulden ihn seiner Lebenskraft beraubt habe. Darauf schwieg plötzlich die Glocke, und gleich darauf kamen der kleine Jabez mit einem Gesicht, spitz wie eine Feder, und ebenfalls Herr Quirk unter ernstem und wichtigem Kopfschütteln nach ihren Stühlen zurück. Einen Augenblick später erschien Willy-Thorn, nachdem er seinen Rock angezogen und mit seinem scharfen Kamm einige Male durch sein Haar gefahren war, das wie ein Dutzend nasser Talgkerzen von der Stirne bis auf die Augen ihm herabhing.
Das dumpfe Gesurre des Klatsches schwieg, alles war nun totenstill in der Kirche, und viele Hälse beugten sich vorwärts, als man Willy-Thorn auf den Bischof zuschreiten und mit ihm sprechen sah. Der Bischof schien sehr beunruhigt zuzuhören, nickte ein- oder zweimal mit dem Kopfe und stand dann auf und schritt dem Lesepult zu. Fast zur selben Minute nahm Willy-Thorn seinen Platz über der Uhr in der westlichen kleinen Galerie ein, und der Gottesdienst begann.
Der Chor sang den Psalm, den er am Abend vorher in der Kirche geübt hatte – »Es ist mir lieb, daß du mich gedemütigt hast, daß ich deine Rechte lerne.« Anstatt des im Kalender angegebenen Textes las der Bischof die Geschichte von Eli und Samuel und von der Entführung der Bundeslade durch die Philister. Seine Stimme klang tief und gemessen, und als er beim Tode von Elis Söhnen anlangte, und die traurige Weise schilderte, wie Eli derselbe mitgeteilt wurde, bebte sie hörbar und versagte ihm fast.
»Da lief einer von Benjamin aus dem Heer und kam gen Silo desselben Tages und hatte seine Kleider zerrissen und hatte Erde auf sein Haupt gestreuet.
Und siehe, als er hinein kam, saß Eli auf dem Stuhl, daß er auf den Weg sähe; denn sein Herz war zaghaft über der Lade Gottes. Und da der Mann in die Stadt kam, sagte er es an, und die ganze Stadt schrie.
Und da Eli das laute Schreien hörte, fragte er: »Was ist das für ein lautes Getümmel?« Da kam der Mann eilend und sagte es Eli an.
Eli aber war achtundneunzig Jahre alt, und seine Augen waren dunkel, daß er nicht sehen konnte.
Der Mann aber sprach zu Eli: »Ich komme und bin heute aus dem Heer geflohen.« Er aber sprach: »Wie gehet es zu, mein Sohn?«
Der Bischof predigte jetzt nur selten, und teils wegen der Verehrung, die sie dem guten Manne schuldeten und teils weil sie ihn so selten hörten, brachten die Leute ihm eine sympathische Stimmung entgegen, als er an diesem Weihnachtstage die Kanzel bestieg. Er hielt eine herrliche Predigt, und da sie unvorbereitet gesprochen wurde, war ihr Aufbau einfach genug. Dafür aber enthielt sie einen Gedankenreichtum, der fast zu einfach erschien, um tief zu sein, und eine Empfindung, die zu tief war, um irgend etwas anderes als einfach zu sein. Sie berührte das Leben Jesu von seiner Geburt in Bethlehem an bis zu seinem Erscheinen als Knabe im Tempel vor den Schriftgelehrten und bis zu seiner Seelenqual im Garten von Gethsemane. Und dann warf sie ebenso rührende, wie nicht zur Sache gehörige Streiflichter auf die Geschichte von Eli und seinen Söhnen und auf das Gottesgericht über Israels Propheten. In dieser schönen Abweichung hielt der Bischof allen Eltern als Pflicht gegen Gott vor, ihre Kinder in der Gottesfurcht großzuziehen, auf daß ihnen selbst Kummer und ihren Kindern Leid und ewige Schande erspart bliebe. Und dann machte er in einer fast tonlosen Stimme eine Anspielung, die niemand mißverstehen konnte.
»Es ist sonderbar und sehr traurig,« sagte er, »daß die Liebe, die wir in unserer Schwäche für die heiligste unserer menschlichen Zuneigungen halten, ein Fallstrick und Stein des Anstoßes zu werden vermag. Höchst sonderbar in der Tat und sehr traurig, daß selbst der hartherzigste Mensch unter uns allen, insoweit es seine Kinder anbetrifft, sich nichts vorzuwerfen haben mag, während das zärtlichste Herz, wie Eli's in alter Zeit, vor dem Angesicht des lebenden Gottes für die Sünden seiner Kinder, die er nicht in Zucht zu halten wußte, ausgelöscht werden wird. Aber der besten oder was uns als beste unserer irdischen Empfindungen erscheint, der Liebe der Mutter für das Kind an ihrer Brust, dem Stolz des Vaters für seinen Sohn, der Fleisch seines Fleisches ist, können wir nur mit Sünde uns hingeben, wenn sie nicht in Gnade angenommen wird. Es ist nur zu wahr, daß sich unter uns solche befinden, die keinen Stein auf andere werfen, nicht zu Gericht über sie sitzen sollten. Wie Eli wissen wir, daß das Wort Gottes gegen uns ist, und wir können nur unser Haupt beugen und sagen: »Es ist des Herrn Wille, laßt ihn tun, was ihm gut erscheint.««
Nach Beendigung der Predigt entstand ein allgemeines unnötiges Niederbücken nach den Gesangbüchern auf den Lesepulten, viel verstohlenes Augenwischen, viel geräuschvolles Nasenputzen und mitten während des Segens ein gut Teil Unterdrücktes Flüstern.
»Ja, so viel ist gewiß, der alte Bischof übertrifft sogar den jungen Pastor, was die Auslegung anbetrifft – ruhiger und nicht so hitzig vielleicht, aber, Menschenskind, welche Herzensweiche!«
»Und habt Ihr wohl gemerkt, wo hinaus, die Geschichte von Eli und den beiden tollen Verschwendern Hophni und Pinehas gehen sollte?«
»Und habt Ihr wohl gesehen, wie schrecklich der alte Mann zitterte?«
»Ach ja, und ich will drauf wetten, 's waren nicht die beiden Übeltäter, die er im Sinne hatte, nein, nicht im geringsten.«
Als der Gottesdienst zu Ende war, und die Gemeinde aufzubrechen begann, und Bill der Tölpel an einem Paar Stöcken das Schiff der Kirche hinabhumpelte, murmelte der graue, durch Krankheit zu einem Heiligen bekehrte alte Sünder etwas von einem »durch und durch guten, alten Vater« und »einem Lumpenkerl von Dan« und von »einem verdammten Schuft obendrein«.
Darauf spielte sich eine merkwürdige Szene ab. Der letzte von der Gemeinde hatte die Ausgangstüre noch nicht erreicht, als plötzlich eine eigenartige Bewegung unter den Leuten bemerkbar wurde, wie die tiefere Strömung zwischen den Untiefen, ehe der Sturm das Ufer erreicht. Diejenigen, die schon draußen waren, standen still oder wandten sich um und nickten, als ob sie etwas sagen wollten, mit dem Kopf; und diejenigen in den hinteren Reihen schienen nachzudenken und zu überlegen. Dann plötzlich, wie der scharfe Krach der ersten Stoßwelle an der Klippe, nahmen ihre Gesichter den Ausdruck äußersten Grausens an und entsetzte Überraschungs- und Schreckensrufe füllten die Luft.
»Erbarme sich Gott!«
»Tot, sagt Ihr?«
»Ja, tot, unwiderruflich.«
»Ans Ufer geschwemmt bei der Mooragh?« Eine Seitenbucht.
»So sagt man, so sagt man.«
»Der Herr erbarme sich unser!«
Eine halbe Minute darauf war die ganze Gemeinde außerhalb des westlichen Kircheneinganges versammelt. Zwei Fischer von Michael standen, umgeben von einer Menschenmenge, in der zwischen der Kirche und Bischofs-Hof befindlichen Senkung. Irgend ein Gegenstand lag ihnen zu Füßen, und die Menge bildete einen Kreis um denselben und blickte mit stockendem Atem auf ihn hinab. Und wie einer nach dem andern herantrat, und über die Köpfe der vor ihm Stehenden hinüberblickend sah, was dort lag, wandte er sich mit erhobenen Händen und schreckensbleichem Gesicht wieder ab.
»Erbarme sich Gott! Erbarme sich Gott!« erscholl es ringsum von den erstarrten und überwältigten Leuten.
Welch schauerlicher Gegenstand dort zu Füßen der beiden Fischer lag, bedarf keiner Erklärung.
»Bei der Mooragh, sagt Ihr? – Bei der Mooragh kam sie ans Land?«
»Ja, von der Flut getragen.«
»Gott stehe mir bei!«
»Ich sah sie schon eine Stunde vorher, ehe sie hereingeschwemmt kam,« sagte der eine der beiden ernstblickenden Burschen. »Ich war unten am Strand, um Garnelen zu fangen, und sie war noch ein gutes Stück draußen auf der See, und eine starke Flut war's. ›Erbarme sich Gott, was ist das?‹ sagte ich. Erst dachte ich, es sei eine Jolle mit einem Segel, aber nein, dafür war es zu klein. › 's ist ein Steißfuß, oder vielleicht eine Rotgans mit ausgestreckten Flügeln,‹ dachte ich dann; aber nein, dafür war es zu groß.«
»Steh mir bei, Gott steh mir bei!«
»Und als sie dann ein Endchen näher gekommen war, ging ich brusthoch und noch weiter in die See hinein, und sah, als ich ihr nahe kam, was es war, und 'n Schreck hab' ich bekommen – soviel sage ich Euch – und fort lief ich der Straße zu, um mir Jemmy zu holen, und im Umsehen waren wir wieder zurück und fanden sie, vom Wasser bespült, den Strand entlang treiben, und dann nahmen wir beide sie auf die Schultern und brachten sie geradeswegs hierher nach Bischofs-Hof.«
Und so war es, das Zeug der Fischer war bis zur Taille durchweicht, und die Schultern beider Männer waren naß.
»Steh mir bei! Steh mir bei! Erbarme sich Gott!« rief einer und dann ein anderer, und wieder reckten sie ihre Hälse und blickten auf den Boden hinab.
Das durch die Gewichte aufgerissene Segel haftete, wo die Säume sich gestreckt hatten, an der Leiche, und keiner der Leute zog es vom Gesicht derselben herab; das Entsetzen vor dem Tode war bei allen stark ausgeprägt. Es hatte sich aber ein Gerücht verbreitet, wessen Leiche es sei, und die blinde Kerry drängte sich, händeringend und etwas von ihrem zweiten Gesicht murmelnd, bis zur Seite der beiden Männer durch und fragte, weshalb sie ihre Last nach Bischofs-Hof anstatt nach Ballamona gebracht hätten.
»Nun, nun,« antworteten sie, »wir dachten, der Bischof sei doch stets sein eigentlicher Vater und Bischofs-Hof sein Heim gewesen.«
»Und so ist es auch,« sagte Kerry, »denn sein eigner Vater ist schlimmer als ein heidnischer Türke zu ihm gewesen, und mir könnt Ihr glauben, habe ich ihn doch als Kind zur Welt bringen helfen!«
Dann kamen eine Menge Menschen den Weg vom Dorf dahergelaufen. Ein Gerücht, daß etwas Entsetzliches ans Ufer gespült worden sei, war schnell, nachdem der Fischer sich Hilfe aus dem Dorfe geholt hatte, von Mund zu Mund gegangen. Und nun erhob sich ein leises, ängstliches Fragen und Antworten unter der Menge. »Wer ist es?« »Ist es der Hauptmann?« »Was, Herr Dan?« »So sagen sie unten in der Straße wenigstens.« »In eine Hängematte gehüllt – Gott steh uns bei!« »Kam mit der Flut in die Mooragh – Himmel! und noch gestern erst habe ich ihn mit eignen Augen gesehen.«
Man sah den Bischof aus der Sakristeitüre kommen, und bei seinem Anblick schien die Menge aus ihrer ersten Erstarrung zu erwachen.
»Gott stehe dem Bischof bei!« »Hier kommt er.« »Himmel, er muß, um in sein Haus zu gelangen, dicht daran vorübergehen.« »Der Schreck wird den alten Mann töten.« »Armer Mann! armer Mann!« »Irgend jemand muß zu ihm gehen und ihm die schlimme Nachricht mitteilen.« »O ja, ganz gewiß!«
Und dann war die Frage, wer es dem Bischof sagen solle. Zuerst baten die Leute einen Corlett Ballafäle. Corlett bebaute seine hundert Acker und war ein Kirchenältester und ein Magistratsmitglied. Der allgewaltige Mann aber sagte nein und drückte sich. Dann baten sie einen der Tubmans; der Brauer jedoch schüttelte verneinend den Kopf. Er könne mit einer solchen Nachricht dem Bischof nicht unter die Augen treten. Schließlich fiel ihnen die blinde Kerry ein. Sie wenigstens würde das Gesicht des betroffnen Mannes, während sie ihm die entsetzliche Nachricht mitteilte, nicht sehen.
»O ja, Kerry, Weib, Ihr seid die richtige Persönlichkeit und mit einem braven Herzen dazu, und obendrein, Gott sei Dank, noch blind.«
»Ich will's mit Gottes Hilfe versuchen,« sagte Kerry und ging mit diesen Worten langsam der Sakristeitüre zu, wo der Bischof stehen geblieben war, um die gelben Locken eines schüchternen kleinen Knaben zu streicheln und ihn zu fragen, wie alt er nächsten Geburtstag würde und ihm ein fröhliches Weihnachtsfest und achtzig fernere und alle vergnügte zu wünschen. Es fiel den Leuten auf, daß des guten Mannes Gesicht jetzt fröhlicher erschien, als wie es bei seinem Eintritt in die Kirche gewesen war.
Die Leute verwandten kein Auge von Kerry, als sie dem Bischof sich nahte. Ob sie es ihm jetzt wohl erzählte? Nein, er lachte. War es nicht sein Lachen, das sie hörten? Kerry stand unentschlossen vor ihm, und er entließ sie mit einer Handbewegung und kam näher. Nein, nun stand er wieder still, um mit der alten Tante Nanny von der Curragh zu sprechen, und Kerry war, an ihm vorübergehend, zu der Menge zurückgekehrt.
»Es war mir nicht möglich, er war so heiter, der arme Mann,« sagte Kerry, »und gerade als ich es ihm sagen wollte, sah er wie das wahre Abbild meines alten Vaters aus.«
Der Bischof verabschiedete sich von dem alten Weib von der Curragh und bemerkte dann, seine Augen erhebend, den Auflauf bei der Eingangstür.
»Überlaßt es mir,« sagte eine rauhe Stimme, und Bill der Tölpel schritt vor. Die Menge trat auf die Seite, und die Fischer stellten sich vor den schauerlichen Gegenstand auf dem Boden. Lächelnd und rechts und links grüßend, schritt der Bischof weiter der Türe, die in sein Haus führte, zu, als der alte Landstreicher auf ihn zu humpelte.
»'s tut uns herzlich leid, Mylord, Euch 'ne schlimme Nachricht mitteilen zu müssen,« sagte der alte Mann stammelnd und seine zerrissene Mütze vom Kopf nehmend.
Des Bischofs Gesicht wurde plötzlich ernst. »Was ist es?« fragte er mit schwacher Stimme.
»'s tut uns herzlich leid, denn wir wissen, Euer Herz war mit Ketten an ihn gebunden.«
»Ja, ja!« erscholl eine Stimme aus der Menge.
»Was ist es, Mann? Sprecht,« sagte der Bischof, worauf ringsherum eine scheue Stille eintrat.
Der alte Mann stand einen Augenblick unentschlossen. Dann als er gerade seinen Kopf zum Sprechen erhoben hatte, und aller Augen auf den in ihrer Mitte stehenden Bischof und auf den alten Bettler gerichtet waren, erscholl von ganz nahe ein lauter Lärm und eine heisere, schneidende Stimme durchtönte die Luft.
»Wo ist sie? Wann haben sie sie heraufgebracht? Weshalb haben sie sie nicht ins Haus geschafft?«
Es war der Deemster, der sich blitzenden Auges und mit Jarvis Kerrisch im Gefolge näherte. Im nächsten Moment war die Menge vor ihm zurückgewichen, und er hatte sich durchgedrängt und stand vor dem Bischof.
»Wir wissen, was sich zugetragen hat. Wir haben es im Dorfe gehört,« sagte er. »Ich wußte, zu welchem Ende es früher oder später kommen mußte. Wohl hundert Male habe ich es dir gesagt, und du hast es einzig und allein dir selbst zuzuschreiben.«
Der Bischof erwiderte kein Wort. Er sah, was hinter den Fischern lag und trat hinzu.
»Es ist deine eigne Schuld,« rief der Deemster in seiner erbarmungs- und mitleidslosen Stimme. »Du hast meinen Warnungen kein Gehör geschenkt. Es war ersichtlich genug, daß er den Teufel im Leibe hatte. Keine einzige Unze Tugend hatte er in sich. Dir hat er den Fuß in den Nacken gesetzt und drohte dasselbe eines Tages auch mir zu tun. Und nun sieh ihn dir an! Auf eine solche Weise wird dir dein Sohn ins Haus gebracht!«
Bei diesen Worten wies der Deemster verächtlich mit dem Griff seines Spazierstockes auf den zwischen ihnen liegenden Gegenstand.
Darauf löste sich die scharfe, stumme Spannung der Leute; sie begannen untereinander zu murmeln und etwas in Vorschlag zu bringen und an etwas Anstoß zu nehmen. Sie merkten den schrecklichen Irrtum des Deemsters, und daß er glaubte, Dan sei der Tote.
Der Bischof stand noch unbeweglich da, ohne auch nur den Schimmer einer Träne auf seinem bleichen Gesicht zu zeigen, die Haut über demselben jedoch war hart gespannt.
»Und laß mich dir noch eines sagen,« fuhr der Deemster fort. »Wer immer die Tat begangen hat, er soll nicht dafür bestraft werden. Ich werde keinen Finger gegen ihn erheben. Der Mann, der seinen Tod selbst hervorruft, muß auch die Folgen allein tragen. Das Gesetz wird meiner Ansicht beistimmen.«
Darauf lief ein heiseres Flüstern über die Lippen aller Umstehenden und ein Mann, ein kräftiger Bursche drängte sich, durch des Deemsters Versehen dazu ermutigt, vor und sagte:
»Seid barmherzig, Deemster, wie Ihr selbst auf Barmherzigkeit hofft; Ihr wißt nicht, was Ihr sagt.«
Hierauf wandte der Deemster sich wütend um und schlug dem Manne mit seinem Spazierstock schwer über die Brust.
Der kräftige Bursche nahm den Schlag hin, ohne auch nur die Hand zu erheben.
»Gott stehe Euch bei, Deemster!« sagte er mit dumpfer Stimme. »Gott stehe Euch bei! Ihr wißt nicht, was Ihr tut. Geht und seht sie Euch an, Deemster. Geht und seht sie Euch an, wenn Ihr den Mut dazu habt. Seht sie Euch an, Mann, und mag der Herr Euch und uns allen in der Stunde unserer Not gnädig sein, und Gott Euch die grausamen Worte vergeben, die Ihr heute zu Eurem leiblichen Bruder gesprochen habt!«
Einen Moment herrschte tiefes Schweigen. Der Deemster starrte in einer Art von Betäubung dem Manne ins Gesicht, und der Stock entfiel seiner Hand. Mit einem Blick schmerzlicher Erhabenheit stand der Bischof ruhig, schweigend, ohne auch nur einen Seufzer auszustoßen und ohne irgend etwas anderes als den Gegenstand zu seinen Füßen zu sehen, und kaum die ihm angesichts der ganzen Versammlung zugerufenen Vorwürfe hörend, zur Seite der Leiche. Sein Herz hatte fast aufgehört zu schlagen.
Es folgte ein weiterer Moment der Ungewißheit, und dann unter schnellen und hörbaren Atemzügen beugte sich der Deemster über die Leiche hinab, streckte eine halb gelähmte Hand aus, zog das lose Segeltuch fort und sah in das Gesicht seines eignen Sohnes Ewan.
Ein langgezogener Ausruf der Überraschung und des Entsetzens entfuhr ihm, und darauf entstand von neuem eine schreckliche Pause, während der der Bischof neben der Leiche niederkniete.
Im nächsten Augenblick geriet der Deemster von neuem in eine wütende Stimmung. Er erhob sich zu seiner ganzen Höhe, sein Gesicht entfärbte sich plötzlich und nahm einen harten Ausdruck an, und während er vor Zittern sich kaum aufrecht zu halten vermochte, erhob er wortlos fluchend seine geballte Faust gegen den Himmel.
Die Leute wichen entsetzt zurück, und das Haar sträubte sich ihnen. »Erbarme sich Gott!« riefen sie von neuem, und die blinde Kerry, die den Deemster nicht sehen konnte, hielt, um ihn nicht zu hören, ihre Hände über die Ohren.
Und von seinem Platz, wo er neben der Leiche kniete, sagte der Bischof, der bisher kein Wort geäußert hatte, mit furchtbarem Nachdruck: »Bruder, der Herr des Himmels blickt auf uns herab.«
Der Deemster jedoch lachte, nachdem er sein Gleichgewicht wieder erlangt hatte, verächtlich, ebensowohl über seine eigne Schwachheit, wie über des Bischofs Verweis. Er hob seinen Spazierstock, den er hatte fallen lassen, auf, schlug sich mit demselben gegen die Beine, befahl den beiden Fischern, ihre Last wieder auf die Schultern zu nehmen und nach Ballamona zu tragen und schickte unverzüglich zum Leichenbeschauer und zum Tischler. »Denn,« sagte er, »da mein Sohn von der See ans Land gespült worden ist, muß er denselben Tag noch begraben werden.«