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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Eine wirkliche Auferstehung

Und nun betraf ihn ein merkwürdiger Unfall, merkwürdig an sich selbst, geheimnisvoll in seiner Bedeutung und übernatürlich als ein Wunder Gottes in seiner Folge. Er war auf dem Wege, sich dem Deemster in Ballamona zu stellen, hatte jedoch, weil er vor jedem menschlichen Angesicht zurückschreckte, die durch das Dorf führende Landstraße verlassen. Fast unbewußt verfolgte er die an dem alten als Kreuzader bekannten Bleischacht vorüberführende, freie Wagenspur. Der außer Betrieb gesetzte Schacht war nie zugeschüttet und sogar nie mit einer Umzäunung umgeben worden. Er hatte jahrelang viel Sorge verursacht, die nur seine abgelegene Lage in der verlassenen Einöde etwas vermindert hatte. Dan nun, der jeden Fußtritt der Einöde und keine Furcht kannte, stürzte, während er in Gedanken verloren in der Dunkelheit seinen Weg verfolgte, den Schacht hinab.

Der Schacht war fünfundvierzig Klafter tief, doch trug Dan keinerlei Verletzung davon. Der Boden war mit fast fünfundzwanzig Klafter Wasser aus den alten Abzugsröhren gefüllt, das je nach der Witterung bis zur Oberfläche hinanstieg oder bis zu einer großen Tiefe versank. Auf diese Weise war sein Fall unterbrochen worden. Nachdem er sich wieder an die Oberfläche hinaufgearbeitet hatte, gelangte er durch eine im ersten Moment des Erwachens aus seinem betäubten Bewußtsein ausgeführte Armbewegung auf den schmalen Vorsprung eines sich in die Grube hinabsenkenden Felsens. In welch einer Lage jedoch befand er sich, als er darüber nachdachte? Sie schien schlimmer als der Tod selbst; es war ein lebendiger Tod, ein Begrabensein in einem offenen Grabe.

Kaum hatte er sein klares Bewußtsein wiedererlangt, als er über sich ein Geräusch vernahm. Waren es Fußtritte, diese dumpfen Schläge, die wie das erste Grollen eines fernen Donners sein Ohr erreichten? In dem Entsetzen der Angst versuchte er zu rufen, seine Zunge jedoch klebte ihm am Gaumen. Dann hörte er nahe der Einfahrt des Schachtes sprechen. Die Worte klangen, als ob sie durch eine dunkle, aufrechtstehende Röhre zu ihm niedergerufen würden.

»Es nützt nicht, Leute,« sagte einer der Sprechenden, »uns auch nur noch einen Schritt weiter zu wagen, und wenn er der beste aller lebenden Menschen wäre. Jetzt heißt es, jeder für sich selbst, und ich wette darauf, daß sie uns um diese Zeit schon auf der Spur sind.«

Und dann fiel eine andere, schmerzbeladene Stimme dazwischen: »Aber sie werden ihn ergreifen, Onkel Billy, sie werden ihn ergreifen, ehe er eine Ahnung davon hat.«

»Das hilft nichts, das hilft nichts! Schnell, Menschenkinder. Kümmert Euch nicht um den Jungen und sein verdammtes Geheule, so viel rate ich Euch. Wir müssen das Weite suchen, der Tatbestand ist gegen uns.«

Dan schauderte beim Klange menschlicher Stimmen. Zwanzig Klafter unter der Oberfläche der Erde begraben, erreichte ihn ihr Ton wie das Säuseln des Windes, wenn es in einer bewegten Nacht an das Ohr schlägt, etwas hineinflüstert und wieder davonflieht.

Die Männer waren weitergegangen. Wer waren sie? Was hatte sich zugetragen? Dan fragte sich, ob er die eine oder beide Stimmen nicht gekannt hätte. Sein Geist jedoch war abgestumpft, und er konnte nicht denken. Er war sich überhaupt nicht sicher, daß er sich des Vorgefallenen erinnerte.

Die Zeit verging – er wußte nicht ob lang oder kurz – und wieder hörte er Stimmen über sich, es waren jedoch andere Stimmen als die vorhergehenden.

»Ich vermute, sie sind uns entwischt. Es waren aber doch die von uns gesuchten Männer. Ich bin aus Peel benachrichtigt, daß das Boot vor zwei Stunden dort in den Hafen eingelaufen ist.«

»Nehmt Euch vor dem alten Bleischacht in acht, Sir.«

Dan wurde sich bewußt, daß ein Fußtritt der Öffnung des Schachtes sich näherte.

»Welch ein Abgrund! 's ist ein Glück, daß wir nicht hinuntergestürzt sind.«

Ein kurzes Lachen erschallte als Antwort am Rande von Dans offenem Grabe – ein Lachen, wie wenn jemand nach langem Laufen nach Atem ringt.

»Diesen Weg haben sie eingeschlagen, Sir, über den Kamm den Curraghs zu. Es war nicht gerade sehr klug von ihnen, sie hätten in die Berge fliehen sollen.«

»Sie wissen nicht, daß wir sie verfolgen. Verlaßt Euch darauf, sie sind ihm nach, um ihn zu warnen. Es mag schließlich doch seine Stimme gewesen sein, die der Deemster auf dem Kirchhof hörte. Er muß irgendwo in Abreichweite sein. Laßt uns vorwärts eilen.«

Die Stimmen verhallten, die Fußtritte erstarben; vierzig Fuß dunklen, toten Felsens und Erde hatten ihren Klang in einem Augenblick verlöscht. »Heda!« rief Dan in furchtsamer Eile. Die Verzweiflung gab ihm Mut ein; die Furcht machte ihn furchtlos. Er erhielt keine Antwort. Er war wieder allein, und nur der Tod sein Gefährte. Darauf wurde es ihm im ersten Moment wiedererlangten Bewußtseins klar, wessen Stimme es gewesen war, die er zuletzt gehört hatte, und er dankte Gott, daß sein Ruf unbeantwortet geblieben war. Es war Jarvis Kerrischs Stimme gewesen. In verzweifelter Qual sagte sich Dan, daß die ersten Männer Quillasch und seine Leute gewesen sein mußten. Welch ein Verhängnis hatte ihn davon zurückgehalten, die einzigen Männer, die ihn hätten erlösen und retten können, anzurufen? Dan durchschaute, daß sein Verbrechen bekannt geworden und er nun ein Verfolgter sei.

Dann erst wurde ihm die ganze Hoffnungslosigkeit seiner Lage klar. Er durfte nicht um Hilfe schreien; er mußte totenstille in seinem tiefen Grabe verharren. Die Errettung aus dieser Grube von den ihn verfolgenden Männern würde ihm als ein schwacher Versuch zu entkommen ausgelegt werden, und wie wäre es in dem Falle mit seinem mutigen Sühnopfer bestellt? Wer würde ihm glauben, daß er es hatte bringen wollen? Es würde ein Hohn sein, über den der ärgste Großsprecher zu lachen berechtigt wäre.

Dan sah nun ein, daß er von allen Seiten vom Tod umgeben war. In der Grube bleiben, bedeutete Tod; aus ihr befreit zu werden, bedeutete nichts Geringeres als Tod; Flucht war hoffnungslos. Hoffnung jedoch, wenn es die Hoffnung des Lebens ist, läßt sich nicht so bald ersticken. Er mußte um Hilfe schreien; er mußte aus diesem Grab herausgezogen werden, was auch immer die Folgen sein mochten. Dort unten zu liegen und zu sterben war nicht menschlich. Leben war die erste Pflicht, die erste Notwendigkeit, mochte das Leben auch mit keinem geringeren Preis als dem in Aussicht stehenden Tode bezahlt werden.

Dan blickte zum Himmel empor; es war ein kleines viereckiges, bleigraues Fleckchen, das gegen die undurchdringliche Dunkelheit seiner Gefängniswände abstach. Während er, sich mit einer Hand festhaltend, am Rande des Felsens stand, langte er vorsichtig mit der andern in die Höhe, um an den Seiten des Schachtes herumzutasten. Sie waren aus Felsen und vollkommen steil, jedoch mit rauhen, hervortretenden Kanten versehen, an die man möglicherweise sich anklammern konnte. Während er nach einer derselben griff, durchfuhr ihn ein schwindelnder Hoffnungsstrahl und verursachte ihm mehr Schmerz, als alle Verzweiflung es getan hatte. Er war jedoch sofort wieder verschwunden. Das Stück Felsen brach unter seiner Hand ab und stürzte mit einem hohlen Klatschen in das Wasser unter ihm. Die Wände des Schachtes waren aus morschem Stein!

In diesem blinden Ringen der Verzweiflung stieg ihm die Frage auf, weshalb er gegen diesen letzten aller Unglücksfälle, die ihn befallen hatten, überhaupt noch kämpfen sollte. War das Leben so wertvoll für ihn? Nein, das war es nicht, oder wenn doch, so war er bereit, es niederzulegen. Hatte er überhaupt nicht vor, sich dem Tode, der die erste Strafe seines Verbrechens sein würde, zu überliefern? Und weshalb diese Wahl zwischen zwei Todesarten? Nein, wenn er, der des Lebens nicht länger würdig war, sterben mußte, so war es immer noch vorzuziehen dort, wo niemand die Art und Weise seines Todes erfahren würde, sein Leben zu beenden, als am Galgen zu sterben.

Bei diesem Gedanken begann das Haar sich ihm zu sträuben. Er hatte es sich nie klar gemacht, daß, wenn er für den Tod Ewans mit seinem Leben büßen wollte, es der Tod durch den Strick sein müsse. Das Entsetzen vor dem Hängen war bei Dan noch stärker, als es bei allen übrigen Menschen schon ist. Mit dieser grauenerregenden Vorspiegelung eines schändenden und verdammenden Todes kam er so weit, sich einzureden, daß der Tod in diesem offenen Grabe tausendmal besser sei als der Tod, der außerhalb desselben seiner wartete. Dann gedachte er seines Vaters, und welch eine Demütigung es für den edlen alten Mann sein würde, wenn eine so große Schande seinem Sohne widerführe, und darauf entfuhr im gleichen Atem, mit dem er Gott bat, ihn dort, wo er jetzt war, sterben zu lassen, ein entsetzlicher Fluch seinen Lippen. Er war in einer höheren Hand als seiner eigenen. Gott hatte ihn vor sich selbst errettet. Wenigstens würde er nicht am Galgen sterben. Es blieb ihm jetzt nur noch ein Gebet übrig, und das lautete in seiner ganzen Hoffnungslosigkeit: »Laß mich nie diesen Ort wieder verlassen!« Seine Seele war zermalmt wie eine Motte, die nie die Flügel wiedererheben wird.

Dann aber nahm seine Verzweiflung eine andere Wendung. Er schlußfolgerte, daß, wenn Gottes Hand ihn vor der gerechten Strafe seines Vergehens bewahren wollte, er ihn dadurch zugleich von seinem Sühnopfer, das seine Sünde hinwegwaschen sollte, zurückhalten würde. Bei diesem Gedanken überfiel ihn ein starkes Zittern. Er versuchte es zu unterdrücken, es wollte ihm jedoch nicht gelingen. Hatte er nicht, mit dem festen Vorsatz, sich dem Gericht zu überliefern, von Mona Abschied genommen? Und jede Stunde seit jenem Scheiden hatte ein neues Hindernis gebracht. Erstlich hatte er die Männer mit dem festen Entschluß, die Leiche in die Flut zu versenken, in der Hütte vorgefunden und sich ihnen willig unterworfen; dann war draußen auf der See, während er am Steuer gestanden hatte, die Windstille und das lange ermüdende Treiben auf dem weiten Meer gekommen; und nun dieser letzte merkwürdige Zufall. Es schien, als ob ein höherer Wille es bestimmt hatte, daß er sterben sollte, ehe er sein Sühnopfer gebracht hatte. Sein Mut sank noch tiefer, und alles schien ihm verloren. In der Angst seiner Verzweiflung glaubte er, daß seine Sünde in der Tat eine unverzeihliche sein müsse. Dieser entsetzliche Gedanke haftete sich ihm wie ein Blutegel der Ader an. Dann erschien es ihm, als ob die ganze Idee seines Sühnopfers nur Spott gewesen sei. Welch ein Sühnopfer gab es für einen bösen Menschen, der das Blut eines guten vergossen hatte? Nichts anderes blieb ihm übrig, als sein eigenes vergeudetes Leben demjenigen eines wohl angewandten nachzusenden. Ob das in den Augen eines gerechten Gottes die Rechnung ausgleichen würde? Höhnischer Spott! Nein, nein; mochte er sterben, wo er sich jetzt befand, und sein Gedächtnis verlöscht und seiner Sünde nicht länger gedacht werden.

Er versuchte sich zu fassen und preßte die eine Hand fest auf die Brust, um das Pochen seines Herzens zu stillen. Dann begann er ohne einen bestimmten Zweck, oder höchstens in dem so vielen Sterbenden innewohnenden, geheimnisvollen Wunsch, den Lauf der Stunden zu verfolgen, die Sekunden zu zählen. Mit seiner freien Hand nahm er seine Uhr heraus, um auf ihr Sekundenticken zu lauschen; dieselbe aber war stehen geblieben, unzweifelhaft war sie voll Wasser. Statt ihrer schlug sein Herz laut genug. Dann begann er eins, zwei, drei zu zählen. Sein Gehirn jedoch war verwirrt, und er konnte nicht weiterkommen. Er merkte, daß er zu zählen aufgehört hatte, bei welcher Ziffer war ihm unbewußt. Er war sich nicht sicher, ob es nach fünf oder fünfzig Minuten gewesen war.

Die Zeit jedoch nahm ihren Fortgang. Der Wind begann aufzusteigen. Zuerst fühlte Dan in seinem tiefen Grabe nichts davon. Er hörte ihn leicht über die Öffnung des Schachtes daherpfeifen, und das war alles. Bald aber vertiefte sich das Pfeifen in ein Heulen. Dan hatte oft von einem Ächzen des Windes gehört. Es war nun, wie er dem Sturme lauschte, keine Metapher mehr, es war Wirklichkeit. Der Wind begann herunterzufahren und kam mit einem gewaltigen Stoß den Schacht herabgerast, streifte seine Wände, entzog dem drunten befindlichen Wasser ein Echo, kämpfte wie um Befreiung ringend, heulte wie ein eingefangener Löwe und ward wieder, lärmend wie wenn eine gewaltige Welle sich an einer Klippe bricht, von der Oberfläche aufgesogen. Der Tumult des Windes in dem Schacht war schwer zu ertragen gewesen, als er aber sich gelegt hatte, schien die Stille fast betäubend. Darauf begann es zu regnen. Dan hörte es an dem schnellen, einförmigen Tröpfeln über sich. Der Regen berührte ihn indes nicht; er wurde seitwärts vom Winde getrieben und traf nur den oberen Teil der Schachtwände. Zuweilen fuhr ein leichter sanfter Schauer über ihn weg. Es war wie der Sprühregen eines Wasserfalles, nur daß die Wassermasse, von der er kam, über ihm und nicht unter ihm sich befand.

Dann in dieser Stunde tödlicher Qual bemächtigte sich Dans die Furcht vor der ewigen Verdammnis, wenn er jetzt sterben sollte. Es schien sich ihm zu offenbaren, was es heißt, unerlöst zu sterben, keine Vergebung zu finden, für immer verflucht, von den in Gottes Frieden Lebenden abgeschnitten zu sein – dies entsetzliche Verhängnis stand ihm vor der Seele. Das Leben war ihm vorher als etwas sehr Kostbares erschienen, aber was war es nun erst, wenn er dem ewigen Tode ins Angesicht zu blicken hatte? Er war wie ein Mensch, der, ehe der Tod sich ihm wirklich naht, schon gestorben ist. Leben konnte er nicht, zu sterben wagte er nicht, sein ganzes vergangenes Leben erstand vor seinen Blicken, und er trank die Erinnerung daran bis auf ihren letzten bitteren Tropfen. Es schien alles so furchtbar, so sonderbar, daß er sich selbst, während jede verlorene Stunde vor seinem Gedächtnis auferstand, als ein Fremder vorkam. Er sah sich, wie Esau sich gesehen, der für einen Fleischbissen sein Erstgeburtsrecht verkauft hatte und nachher kein Erbarmen fand, obgleich er es mit Tränen suchte. Die Worte der heiligen Schrift: »Es ist etwas Furchtbares, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen,« erwachten in seinem Gedächtnis.

Und dann sprang sein Geist in seinem schnellen und unaufhörlichen Wechsel von der Vergangenheit auf die Zukunft über. Er sah sich selbst vor dem Angesicht eines furchtbaren Richters fliehen. Aus Angst vor einem schrecklichen Verhängnis sah er seinen Platz in der Welt kalt, leer und vergessen. Ebenfalls sah er seinen alten Vater, den frommen Bischof, unter der Last von tausend Sorgen niedergebeugt, während er selbst, der das Lebensglück des guten Mannes gewesen war, ihm aber nicht länger angehörte, als ruhelos umherirrende Seele, wie ein kalter Nachtwind zwischen ihn und seinen Himmel trat. Dies war der entsetzlichste Gedanke von allen, und Dan hörte einen Schrei, der ein grausiges Echo in dem dunklen Abgrund erweckte, sich seiner Kehle entringen.

Dann, als ob sein Instinkt ohne Beihilfe seines Geistes arbeitete, begann er Pläne für seine Rettung zu entwerfen. Die unerwartete Weichheit des Felsens, die ihn erst erschreckt hatte, begann nun einen Schimmer der Hoffnung in ihm wach zu rufen. Wenn die Wände des Schachtes von dem Schieferfelsen der Insel gewesen wären, würde der Vorsprung, an dem er sich hielt, ihm nicht unter der Hand weggekrümelt sein. Seine Weiche ließ ihn vermuten, daß eine Sandsteinader den Schacht durchliefe. Dans verwirrter Geist rief sich die Tatsache ins Gedächtnis zurück, daß Orris Head eine Felsenkluft von rotem Sande und weichem Sandstein sei. Wenn diese Ader nur tief genug liefe, war seine Rettung gesichert. Er konnte mit einem Messer Stufen hineinschneiden und so vielleicht nach endloser Anstrengung und Mühe die Oberfläche gewinnen.

Sich mit der einen Hand festhaltend, suchte Dan mit der andern in der Tasche nach seinem Messer. Es war nicht darin. So schien also sein Tod jetzt ganz gewiß. Es wurde ihm abwechselnd eiskalt und fieberheiß. Seine Kleider waren durchnäßt; das Wasser tröpfelte noch aus ihnen heraus und fiel mit hohlem Klang unten in den Tümpel. Jetzt aber alle Hoffnung aufgeben, würde so viel heißen, als nichts mehr fürchten. Dan erinnerte sich, daß er irgendwo eine kleine Schere haben mußte, mit der er vor drei Tagen seinen Namen auf die silberne Schnalle seines Militärgürtels gekratzt hatte. Als er nach seinem Messer gesucht hatte, war sie ihm in der Tasche unter die Hände gekommen, und er hatte sie verächtlich beiseite gestoßen, weil seine nervösen Finger sie für das Messer gehalten hatten. Nun mußte sie ihm als einziges Werkzeug dienen. Er fand sie von neuem, und mit diesem geringfügigen Hilfsmittel begann er das Werk, das ihn aus dem tiefen, dunklen, sich steil in die Höhe richtenden Tunnel erlösen sollte.

Die Nacht schritt fort; Stunde auf Stunde verstrich. Der Wind legte sich, der Regen über ihm hörte auf. Dan arbeitete Stufe auf Stufe weiter. Sich zuweilen auf den größeren und festesten der hervortretenden Vorsprünge ausruhend, blickte er zum Himmel empor. Die bleigraue Farbe desselben hatte sich in eine tiefblaue, sternenübersäte verwandelt. Der im letzten Viertel befindliche Mond ging sehr spät auf und war oft durch Regenwolken verdeckt. Er schien ein kleines Ende in den Schacht hinein und erhellte den ganzen übrigen Teil desselben. Dan wußte, es mußte früher Morgen sein. Ein Stern, eine große, volle Lichtkugel, blitzte gerade über ihm. Er saß lange ihn beobachtend da, und wandte sich wieder und wieder von seiner anstrengenden Arbeit ab, um zu ihm aufzublicken. Einen Augenblick schlich sich ihm die Vermutung ins Herz, daß der Stern als Sinnbild der Hoffnung ihm gesandt sei. Darauf kehrte er zu seiner Arbeit zurück, und als er sich dann wieder umsah, war der Stern seinem Gesichtskreis entrückt und aus dem Bereich seines Fleckchens Himmel verschwunden. Er war ihm ein schweigsamer Gefährte gewesen.

Dans Mut sank in seiner traurigen Einsamkeit, aber doch arbeitete er weiter. Seine Kraft war fast erschöpft. Der Mond ging unter, und die Sterne erloschen einer nach dem andern. Darauf überschattete eine tiefdunkle Wolke den kleinen Himmel oben. Dan sagte sich, daß es die dem Morgengrauen vorangehende Dunkelheit sein müsse. Er hatte nun einen größeren Vorsprung als alle übrigen erreicht. Es war ganz deutlich zu sehen, daß ein hölzerner Balken darauf gelegen hatte, er ruhte sich auf ihm aus und klickte empor. Denselben Augenblick hörte er das leichte Trippeln kleiner Füße über sich. Es war ein verirrtes Schaf, ein Lamm der vorigjährigen Herde, das verloren umherirrte. Obgleich er es nicht sehen konnte, wußte er, daß es dort war, und es blökte in den Schacht hinab. Das trübselige Geschrei des verirrten Tieres an dem entsetzlichen Ort berührte einen wunden Punkt in Dans Herzen und trieb ihm die Tränen, die ihm bis jetzt versagt gewesen waren, in die Augen. Welche alten Erinnerungen rief es wach? Er konnte sich zuerst nicht darauf besinnen, dann aber erinnerte er sich der so oft gehörten schönen Erzählung von dem verirrten Lamm, das während Ewans Taufe an die Kirchentüre kam. War es zu verwundern, daß seine Gedanken augenblicklich zu Ewans Kind zurückkehrten, zu dem Kinde, das in seiner Unschuld noch nichts von dem ihn betreffenden Kummer wußte? Er wünschte, er selbst könnte noch einmal wieder ein an seines Vaters Hand wandelndes Kind sein und alle vergangenen Jahre zurückrufen und die in ihrem Verlauf begangenen Missetaten wie eine Wolke auslöschen und an Stelle seines befleckten, alten Geistes und seines schweren, blutenden Herzens einen neuen, reinen Geist setzen. Einen Augenblick darauf wanderte das verirrte Lamm, sein klägliches Geschrei in die Nacht hineinrufend, weiter. Dan war abermals allein, diese Erscheinung jedoch hatte seinen Geist neu erfrischt.

Dann wieder stieg der Gedanke in ihm auf, daß es durchaus nicht einerlei sei, dort, wo er sich augenblicklich befände, zu sterben und nie seinem offenen Grabe zu entsteigen, oder angesichts aller Menschen sein Verbrechen zu verbüßen. Er mußte also leben, er mußte leben, und wenn auch nicht um des Lebens willen, so doch, um den Tod seines ärgsten Schreckens zu berauben. Und was die Hindernisse anbetraf, die das Sühnopfer, welches er zu bringen bereit war, hatten vereiteln wollen, so war es nicht Gott, der, um seine Seele aus dem Bereich der Gnade auszuschließen, dieselben gesandt hatte, sondern der Teufel, der ihn versuchen und verhindern wollte, seine Sünde hinwegzuwaschen. Dieser Gedanke belebte ihn, und mit neuen Entschlüssen wandte er sich seiner Aufgabe wieder zu.

Seine Finger waren ihm bis auf die Knochen abgestorben, und sein Zeug klebte ihm wie eine feuchte Umhüllung am Körper. Die Schneiden der kleinen Schere waren fast aufgebraucht und konnten nicht viel mehr leisten. Er richtete sich von neuem auf der Felsenstufe auf und stieß die Schere in die über ihm befindliche steile Wand, und dabei schien ein neues Unglück ihn zu ereilen. Seine Hand stach in die weiche Erde; die Sandsteinader hörte auf und über ihr mußte es lose, unsichere Erde sein!

Der Atem versagte ihm bei dieser Entdeckung. Einen Augenblick vorher war ihm das Leben sehr kostbar erschienen. Mußte er schließlich doch alle Hoffnung aufgeben? Diese Furcht würde ihn länger gequält haben, wären ihm nicht Jarvis Kerrischs Worte, die er auf dem nahe am Schacht vorüberführenden Wege gesprochen hatte, ins Gedächtnis zurückgekommen. Sie hatten ganz klar und deutlich gesagt, daß Quillasch und die Fischer als seine Mitschuldigen verfolgt würden. Ohne seine Zeugenaussage würden sie jedenfalls, unschuldig wie sie auch sein mochten, und ob er tot in diesem Schacht läge oder nicht, verurteilt werden. Es wurde ihm klar, daß er aus diesem lebenden Grabe entkommen mußte, und keine Hindernisse ihn davon zurückhalten durften.

Er hielt inne und überlegte. So viel er sich erinnern konnte, hatte er etwa dreißig Stufen in den Sandstein ausgehöhlt und mußte also gut dreißig Fuß von dem Wasser und etwa zehn Fuß von der Oberfläche entfernt sein. Nur zehn Fuß und dann Freiheit. Und doch schienen gerade diese zehn Fuß unüberwindliche Hindernisse zu bieten. Löcher in die weiche Erde zu graben und an ihnen emporzuklettern schien ein gewagtes Unternehmen. Ein größerer Klumpen Erde konnte jeden Moment über oder unter ihm nachgeben, und dann würde er von neuem in den Abgrund zurückstürzen, und wenn er von der Seite des Schachtes hinabfiele, würde er wahrscheinlicher als bei seinem ersten Falle von oben gegen einen der Vorsprünge geschleudert und getötet werden, ehe er das Wasser unten erreichte.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als bis zum Morgengrauen zu warten. Vielleicht würde das Tageslicht ihm eine weniger gefährliche Weise des Entkommens enthüllen. Langsam klärte sich die düstere, starre, undurchdringliche Finsternis. Es schien ein Geist auf die Nacht gehaucht und sie vertrieben zu haben. Als die weiche morgendliche Färbung seinen nun erweiterten Himmel sprenkelte, konnte Dan den leisen Schlag der Wellen gegen das Ufer vernehmen. Die Küste stieg schweigend, feierlich und einsam, verlassen im Morgengrauen vor seinem inneren Auge auf. Das Licht kroch zu ihm in sein Gefängnis herab, und er blickte in den tiefen, dunklen Pfuhl unter sich.

Und dann erwachte ein neuer Hoffnungsstrahl in seinem Herzen. Rund um die Öffnung des Schachtes herum sah er Holzlatten entlang laufen, die dazu gedient haben mußten, die Erde aufzudämmen und zwei Gruben für die auf- und abgehenden Fahrstühle herzustellen. Seine Seele schickte ein Dankgebet empor. Die Welt war wieder voll von Gottes Barmherzigkeit, selbst für ihn. Er konnte von Latte zu Latte klimmen und so die Oberfläche erreichen. Eine der Latten mit seiner emporgestreckten Hand erreichend, schwang er sein Knie auf die nächste hinauf. Einen Zwischenraum hatte er auf diese Weise überwunden, aber mit wie steifen Gelenken, mit wie kraftlosen Fingern! Einen zweiten und noch einen andern Zwischenraum ließ er hinter sich zurück, und dann trennten ihn nur noch vier Fuß von dem Ginster, der in dem vollen Licht der Sonne über der Öffnung seines nächtlichen Grabes wogte.

Der jahrelange Regen jedoch hatte die Latten morsch gemacht. An einigen Stellen zerbröckelten sie und waren sie verfault. Gott! wie die eine, auf der er gerade ruhte, unter ihm krachte! Noch eine Minute, und seine langwierige Arbeit würde ihr Ende erreicht haben. Noch eine Minute, und sein toter Körper würde für immer in diesem Grabe begraben dort unten zurückbleiben. Das würde in Wahrheit eine Auferstehung sein. Ja, in Wahrheit, Gott möge ihm beistehen!

Eine halbe Stunde später schritt Dan Mylrea überströmenden Auges und vollen Herzens Ballamona und dem Hause des Deemsters zu. Der Wiederschein der gerade aufgegangenen Sonne und der strahlende Glanz einer neu geborenen Hoffnung färbten seine abgezehrten und bleichen Wangen. Welche Schrecken konnte das Leben jetzt noch für ihn haben? Keine. Und ebenso würde der Tod nun auch bald seinen Stachel verlieren. Sühnopfer! Sühnopfer! Es würde alles kommen, wie er es sich gedacht hatte; ein verschwendetes Leben für ein wohl ausgenutztes; das Leben eines bösen für das Leben eines guten Menschen, es war ja alles, was er zu geben hatte – alles, alles!

Und wenn er seine Gabe erst dem barmherzigen Vater zu Füßen legte, würde sie nicht verschmäht werden.


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