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Sechstes Kapitel.
Das trauliche Nest in Bischofs-Hof

Die Kinder des Deemsters und des Bischofs verlebten ihre ersten fünf Jahre gemeinsam in dem traulichen Nest Bischofs-Hof. Diese Einrichtung war, solange sie bestand, beiden Brüdern angenehm. Sie machte Ballamona zu einem öden Heim, der Herr desselben empfand das indes wenig. Der Deemster sah keine oder wenigstens nur ganz vereinzelt Gesellschaft um sich. Er entließ sein ganzes Dienstpersonal bis auf Christopher, der zu seinem bisherigen Gärtneramt noch Pferdeknecht wurde. Das neue Ballamona begann einen moderigen Geruch anzunehmen, und im alten Ballamona wuchs das Moos auf den Mauern und überzogen die Flechten das Dach. Der Deemster stand früh auf und ging spät schlafen. Den größeren Teil des Tages verbrachte er, da er zweimal wöchentlich in Ramsey und in Peeltown Sitzung hatte, im Sattel auf der Reise von einer Stadt seines Gerichtsbezirkes zur anderen. Gegen Einbruch der Nacht war er gewöhnlich wieder zu Hause und saß dann die Abende über einsam am Kamin, mochte in langen Winternächten ein allmächtiges Torffeuer in demselben brennen, oder an Sommerabenden der Herd leer sein. Kaum ein Laut unterbrach die Totenstille des schweigsamen Hauses, es müßte denn irgend ein streitsüchtiger Bauer einen auf seinem Grund und Boden abgefaßten Nachbarn stehenden Fußes und kraft der wirksamsten Vorladung – der überwiegenden Muskelkraft – zum sofortigen Urteilsspruch nach Ballamona angeschleppt bringen. Bei derartigen Gelegenheiten kamen Kläger und Angeklagter wie ein Pack knurrender und schnappender Hunde mit ihren gegenseitigen Zeugen in die Vorhalle hereingepoltert, und Thorkell wandte sich in seinem Stuhle herum und verurteilte den einen oder vielleicht auch beide Bauern, steckte ihr Geld in die Tasche und trieb sie, damit sie ihren Streit durch andere Mittel und Wege im Dunkel der Nacht zum Austrag brächten, alle unbefriedigt wieder zum Hause hinaus.

Bischofs-Hof dagegen hallte von Kinderstimmen und dem Getrappel kleiner Füße wider, die keine Ecken und Winkel des alten Hauses verschont ließen. Da war Ewan, des Deemsters Sohn, ein hagerer, schüchterner Knabe, der mit seitwärts geneigtem Kopf und träumerischen Augen zuhörte, wenn ihm jemand etwas erzählte. Da war die kleine Mona, Ewans sanfte Schwester, die mit ihren großen Augen und ihrem ruhigen Wesen sich gern verhätscheln ließ und manchmal weinte, wenn niemand wußte weshalb. Und dann war Daniel – Danny – Dan, des Bischofs Sohn, da, ein frecher kleiner Vagabund, der ebenso breit wie lang war, ein Stückchen Männlichkeit in seiner Brust trug, zerzauste blonde Haare und ein meistens beschmutztes Gesicht hatte, viel lachte und fast nie weinte, der Balgerei und frisches Dareinhauen liebte und es höchst verächtlich fand, sich küssen zu lassen. Und dann war der Bischof da – Gottes Segen auf sein Haupt! – der, trotzdem Kerry Quayle als Wärterin auf Bischofs-Hof geblieben war, Vater- und Mutterstelle zugleich bei der mutterlosen kleinen Brut vertrat. Während Mona, ihr liebliches Köpfchen an seine Brust gelehnt, ihm auf den Knien saß und Ewan mit scheuem, seitwärts geneigtem Angesicht, nach draußen gerichtetem Blick und in seiner abwesenden Art und Weise eifrig lauschend sich an seinen Stuhl lehnte, pflegte er ihnen Geschichten zu erzählen oder vorzusingen. Und wenn Danny dann in herrischer Verachtung solcher Dinge den Gesang oder die Geschichten unterbrach und den Stuhl hinauf auf die Schulter des Bischofs kletterte, wurde Mona wohl auf ihre Füße gestellt, und das größte unter den vier anwesenden Kindern ließ sich auf Hände und Kniee herab und kroch, mit dem großen kleinen Reiter auf dem Rücken, wie ein Pferd wiehernd oder wie ein Hund bellend, den Fußboden entlang oder stellte sich, als ob es die vierfache Barriere des umgefallenen Kinderstuhles überspringen wollte. Dann, nachdem Danny aus dem Sattel gerutscht und aus dem rastlosen kleinen Reiter ein Kutscher geworden war, der an der Mähne seines Pferdes zupfte und zerrte, bis dem Bischof sein langes Haar über das Gesicht fiel, welch ein Freudenjubel, welch auf dem Boden Umherrollen, welch mit den Beinen Strampeln rief es hervor! Und wenn dann die Abendbrotzeit kam, und der Mehlbrei hereingebracht wurde, und die kleine Mona, weil sie ihn essen sollte, zu schluchzen und Ewan, weil es Gerstenbrei und kein Haferkuchen war, zu murren begann, und Dan in schweigsamem Eifer sich über seinen Teller hermachte und lärmend nach mehr, als ihm zuträglich war, verlangte, zu welchen Ausflüchten und Versprechungen der Bischof dann seine Zuflucht nahm, welch listige Kniffe er sich ersann, in welch einen schlauen alten Fuchs sein ehrliches Haupt sich dann plötzlich verwandelte! Und wenn Kerry mit Wanne und Handtüchern erschien und die drei nackten kleinen Körper ihr Bad bekamen, und der Bischof sich zu seiner unvollendeten Predigt zurückgeschlichen hatte, und Monas nasse kleine Hände Kerrys Rock ergriffen und Ewan in seinen drei Zoll Wasser steil aufrecht stehend den Schwamm unter vielem Prusten über anderthalb Zoll seiner Backe fahren ließ, und Dan auf seinen Schenkeln auf dem Boden der Wanne sitzend nach allen Seiten hin Wasser verplanschte und jeden Plansch mit einem mutwilligen Schrei begleitete, dann lockte der fröhliche Lärm den Bischof aus seinem düstern Studierzimmer, wo auf dem mit Papieren bedeckten Tisch die beschirmte Lampe brannte, in die Kinderstube zurück. Und wenn schließlich die schwere Arbeit des Tages beendet war, und die noch schwerere Arbeit der Nacht begann und drei müden, ausweichenden kleinen Köpfchen die Nachtkleider übergeworfen wurden, trug wohl der Bischof selbst drei strampelnde, kreischende kleine Ferkelchen ans Bett, Mona als Kleinste in seinen Armen, Ewan als Größten auf seinem Rücken und Dan, weil er nicht höher kommen konnte, auf seinen Achseln. Darauf konnte man drei Paar kleine Knie neben der Bettseite niederknien, und bald drei kleine Köpfe auf dem Kopfkissen sich hin und her werfen, und den Bischof mit verweisendem Kopfschütteln sich über die Steppdecke beugen sehen. Und darauf trat Stille ein, die nur dann und wann eine im Halbschlaf gelispelte Frage oder eine oder zwei Reihen eines hergesagten und dann verstummenden Kinderreimes unterbrachen. Und nachdem dann endlich das tiefe, lange Schweigen des Schlafes herrschte, schlich der Bischof auf den Zehenspitzen in sein halbdunkles Zimmer mit der überschatteten Lampe und der darunter liegenden, halb beendeten Predigt zurück.

Auf diese Weise verstrichen fünf schnelle fröhliche Jahre, und obgleich sie das Jahr der Hungersnot und das Jahr der Pest und manche andere, Bischofs-Hof am schwersten betreffende düstere Wolken mit sich brachten, schlossen sie doch eine Welt von Glückseligkeit ein. Dann, als Ewan sechs und Mona und Danny fünf Jahre alt waren, und die Knaben ihre Manchesterhosen selbst zuknöpften, kam der Deemster von Ballamona herüber und nahm das kleine Kolibrinest aus.

»Gilcrist,« sagte Thorkell, »du verdirbst die Kinder, und ich muß dir die meinen nehmen.«

Des Bischofs ernstes Gesicht erbleichte, und als er nach einer Pause antwortete: »Nein, nein, Thorkell, das ist dein Ernst nicht,« durchtönte ein leises Beben seine Stimme.

»Ja, es ist mein Ernst,« sagte der Deemster. »Ein Vater sollte mit seinen Kindern umspringen, wie die Welt es dermaleinst tun wird, wenn sie niemand anderes als die Welt mehr zum Vater haben, das ist mein Grundsatz, und den will ich, soweit es die Meinen anbetrifft, befolgen.«

»Das wäre eine harte Behandlung,« sagte der Bischof, und die Tränen traten ihm in die Augen.

»Schone die Rute und du verdirbst dein Kind,« sagte Thorkell.

»Vielleicht hast du recht,« erwiderte der Bischof mit unsicherer Stimme und brachte keine Silbe mehr über die Lippen.

Der Deemster hielt Wort, er holte Ewan und Mona nach Ballamona zurück. Sie hatten dort keine Kinderfrau und waren sich viel selbst überlassen. Sie bekamen dreimal am Tage Haferkuchen und Gerstenschleim, dies sollte ihre Knochen und ihr Gehirn entwickeln; sie wurden Sommer und Winter in eiskaltem Wasser gebadet, dies sollte sie abhärten; sie trugen ausgeschnittene Kleidchen, dies sollte ihre Lungen stärken; sie mußten im Dunkeln zu Bette gehen und schliefen, zitternd aneinander geschmiegt, ein, dies sollte ihren Mut stählen und ihnen den Aberglauben benehmen.

Wenn der Geist und die Gesundheit der Kleinen unter dieser spartanischen Behandlung nicht Schaden nahmen, so war es nur, weil die Natur kräftiger als die Gewohnheit war, und weil Gott es mit einem zerschlagenen Kinderherzen besonders gut meint. Nie hörte man sie überlaut in des Deemsters Nähe lachen, nie sah man sie ihn an der Weste zupfen oder beim Haar zerren oder ihm auf den Rücken klettern, nie sah man den Deemster sich zum Aufsteigen kleiner Beinchen niederbeugen. Das Haus war durch ihre Anwesenheit nicht geräuschvoller oder schmutziger oder unordentlicher; ihre Stimmen durchtönten es nicht, und ihre geschäftigen Finger warfen die Dinge nicht durcheinander, wie sie es unter Vetter Dans tätiger Hilfe in Bischofs-Hof getan hatten, bis jedes Zimmer des behaglichen alten Hauses unter Nicken und Winken zu flüstern schien: »Hier wohnt ein Kind, dies ist sein eignes Heim, und es ist Herr des ganzen Hauses.« Nachdem sie sich jedoch in ihr eignes kleines Gemach, das, um sie nicht zu »verpimpeln«, ungeheizt blieb, geschlichen hatten, wären alle Masken der Welt, die je angefertigt wurden, um das Leben wie eine düstere Tragödie erscheinen zu lassen, nicht imstande gewesen, die Fröhlichkeit, die stets bereit war, auf ihren kleinen Gesichtern auszubrechen, zu verbergen. Dort lachten und tobten und krähten und sangen sie, und Ewan spielte Prediger, wobei die Lehne eines Stuhles die Kanzel, seine Schürze den Talar vorstellte, und Mona, mit ihren großen Augen auf dem Boden davorsitzend, Chor und Gemeinde zu gleicher Zeit vertrat. Und wenn ihnen dann plötzlich mitten im Spiel Danny einfallen sollte, dann neigte sich Ewans Kopf zur Seite und sein Blick nahm einen träumerischen Ausdruck an, und Mona ließ ihre Unterlippe plötzlich hängen, und der Sonnenschein verlosch wie mit einem Schlage auf ihrem lachenden Gesichtchen.

Nachdem der Bischof die Kinder hatte hergeben müssen, fühlte er eine große Leere im Herzen; dem kleinen Danny verursachte die stattgefundene Veränderung indes wenig Kummer. Er lachte ebenso laut und weinte überhaupt nicht, und als er am Morgen erwachte und sie nicht mehr dort fand, kannte ihre Stätte sie fortan nicht mehr. Unbewußt vermißte er seine Spielgefährten wohl, aber das hatte nur die Folge, daß der Bischof mehr als je zuvor als Genosse verlangt wurde, und der Bischof war stets bereit. Fort jagten diese beiden guten Kameraden durch die Gebüsche zusammen, und wenn der Bischof sich hinter einen Baum versteckte, fand Danny ihn selbstredend sofort, und wenn Danny es war, der sich versteckte, suchte der Bischof weit und breit, ohne das fröhliche Kichern hinter einem nur armweit entfernten Ginsterbusch zu hören, bis Danny unter schallendem Gelächter wie eine Lawine hervorgeschossen kam. Ebenfalls sprachen sie ein und dieselbe Kindersprache, denn Dannys geschäftige Zunge konnte kein r aussprechen und machte aus einem f ein s. »Wie viele Wäder hat Euer Wagen, Suhrmann?« »Sier.« »'s ist heute 'n slimmer Srosttag, Meister.« »Na, denn kommt wein und wärmt Euch am Seuer.«

Merkwürdiger- und unbewußterweise entwickelte sich beim Bischof eine Art natürlicher Zusammengehörigkeit mit diesem, seinem kleinen, geschworenen Verbündeten. Wenn kein Laut die Stille unterbrach, schien er den kleinen Mann durch drei dicke Steinwände hindurch und zwei Treppen hinauf schreien zu hören. Wenn das Kind eine halbe Meile vom Hause entfernt fiel und sich wehe tat, hatte der Bischof im Hause das Gefühl, als ob er selbst auf einen spitzen Stein gefallen sei und sich sein Knie zerschunden hätte. Wenn Danny eine hohe Mauer erkletterte, überkam den Bischof in seinem Studierzimmer ein Schwindel.

Wie merkwürdig diese innere Zusammengehörigkeit zwischen dem Bischof und seinem Sohn auch erscheinen mag, so war die Seelenverbindung mit Danny und seiner alten Wärterin doch noch wunderbarer. Der Bischof hatte nur eine Vorahnung der seinem Liebling drohenden Gefahren, Kerry aber schien durch Ausübung irgend einer namenlosen Geistesfähigkeit jeden Moment bei Tag und Nacht von des Kindes Aufenthaltsort unterrichtet. Halbblind wie sie zur Zeit der Geburt des kleinen Ewan schon war, hatte sie seit der Zeit ihr Augenlicht fast gänzlich verloren und diese außerordentliche Fähigkeit schien in Wahrheit ein zweites Gesicht. Sie beschränkte sich jedoch auf Danny, ihren Schützling allein, in Hinsicht auf ihn war sie indes eine wahre Sehergabe.

»O!« rief sie, von ihrem Spinnrad aufspringend, »der kleine Schelm, wie man zu sagen pflegt, ist in der Kapelle.«

»Unmöglich!« antwortete der Bischof, »ich habe nur gerade die Türe zugeschlossen.«

Kerry und der Bischof gingen jedoch, um den Flüchtling zu suchen, in die Kapelle und fanden ihn wirklich dort. Er war durch ein offenes Fenster hineingekrochen, hatte die Lichter am Lesepult angezündet und war damit beschäftigt, sich seine schmutzigen Hände im Taufbecken zu waschen.

»O, Himmel!« rief Kerry, ihre Hände und ihr fast blindes Gesicht entsetzt erhebend, »wie sagt das Sprichwort gleich? Die kleine Schierlingstanne ist die Schwester der großen Schierlingstanne«; womit sie ausdrücken wollte, daß die geringere Sünde der größeren verwandt sei, und daß der in der Ausübung der Kirchenschändung betroffene kleine Danny eines Tages eines größeren Vergehens sich schuldig machen würde.

»Unsinn, Weib, Unsinn, ein Kind ist ein Kind,« sagte der Bischof, den Übeltäter fortführend.

Am selben Tage – es war der Donnerstag in der Pfingstwoche – sollte auf Bischofs-Hof Kirchenversammlung gehalten werden, und die Geistlichen hatten schon begonnen, sich in der westlich auf die See hinausblickenden Bibliothek zu versammeln. Um Danny vor fernerem Unheil zu bewahren, führte der Bischof ihn in sein eignes Zimmer. Er goß dort Wasser in eine Schale, um seine Augen, die in letzter Zeit Zeichen von Schwäche gezeigt hatten, zu baden. Zu diesem Zwecke mußte er seine Brille abnehmen und legte sie neben sich auf einen Tisch. Danny beobachtete alle diese Vorgänge mit schelmischen Blicken, und als des Bischofs Gesicht über die Schale niedergebeugt war, ergriff er schnell die Brille und ließ sie zwischen seinen Hals und Kittel hinabgleiten. Unter Puffen und Schnaufen schüttelte der Bischof das Wasser von seinem Gesicht und trocknete es, und nachdem ein Kammstrich sein langes Haar zurückgekämmt hatte, streckte er seine Hand nach der Brille aus. Er konnte sie auf dem Tisch nicht fühlen, und als er sich nach ihr umblickte, konnte er sie nicht finden, und dann rief er Danny zu, sie zu suchen. Sofort hielt der kleine Bösewicht auf Hände und Kniee niederkauernd an allen möglichen und unmöglichen Plätzen Umschau, jedoch mit ebensowenig Erfolg. Die Kirchenversammlung wartete auf ihren Bischof, die Brille jedoch wollte sich nicht finden lassen, und ohne sie war der Bischof für alle Bücherweisheit blinder als eine Fledermaus. Schließlich hielt der Bischof mit Suchen inne und dem kleinen auf seinen Schenkeln sitzenden und hörbar kichernden Manne fest in die Augen blickend, fragte er:

»Wo ist meine Brille, Danny?«

Danny lachte hell auf.

»Wo ist meine Brille, Danny, Junge?«

Danny, der Junge, lachte noch heller.

Aus einer solchen Antwort war nicht viel zu machen, und so kniete der Bischof von neuem nieder, um zu sehen, ob der Unband die Brille unter den Kaminvorleger oder unter den Sessel oder in den Rasiernapf versteckt hätte. Und während der ganzen Zeit hüpfte Danny mit um die Knie verschlungenen Armen und großen starren Augen wie ein Frosch im Zimmer auf und nieder und krähte und lachte, bis er dunkelrot im Gesicht wurde, und die Tränen ihm die Backen niederrannen.

Die blinde Kerry kam, um zu sagen, die Herren ließen fragen, wann der Bischof, wie man zu sagen pflegt, bereit sein würde? Und zwei Minuten darauf durchschritt dieser eine Reihe sich bei seinem Eintritt erhebender Geistlicher, die, wie seine hohe Gestalt sich leicht im Gruß gegen jeden einzelnen von ihnen neigte, ihm, einer nach dem andern, eine tiefe Verbeugung machten.

»Ich bitte wegen dieser Verspätung um Verzeihung, meine Herren,« sagte er ernsthaft und ließ sich am oberen Ende seines Tisches nieder.

Kaum hatten die Geistlichen ihre Plätze eingenommen, als die Zimmertüre geräuschvoll aufgerissen wurde, und ein Strahl lachenden Sonnenscheines in das durch die zwanzig langen schwarzen Röcke noch düsterer erscheinende Zimmer huschte – Danny selbst, erst mit dem rechten, dann mit dem linken und schließlich mit beiden Beinen zugleich springend und auf seinem kleinen abfallenden Nasenrücken eine Brille balancierend.

Es befand sich an diesem Tage auch der Erzdekan unter den Anwesenden, und nachdem der Eindringling durch die blinde Kerry, die ihm sofort nachgestürzt kam, abgeführt worden war, schüttelte er das Haupt und sagte, mit seinem kleinen Apfelgesicht so weise wie möglich dreinschauend –

»Ach, Mylord, Ihr werdet das Kind durch Güte töten. Möget Ihr nie eine schlechte Ernte Euch bereiten.«

Der Bischof antwortete nicht, sondern hauchte auf seine zurückeroberte Brille und rieb sie dann mit seinem rotseidenen Taschentuch ab.

»Ich halte es mit dem Grundsatz meines Schwiegersohnes, des Deemsters,« fuhr der Erzdekan fort. »Laßt ein Kind derartig in seines Vaters Hause behandelt werden, wie die Welt es später einmal behandeln wird.«

»Nein, nein, sondern viel liebevoller,« sagte der Bischof. »Wenn es ein guter Mensch wird, zehn gegen eins, wird die Welt ihm die Peitsche zu kosten geben – mag er sich dann seines Vaters Haus als eines Hafens der Liebe erinnern.«

»Aber, Mylord,« sagte der Erzdekan, »wie steht es denn mit der Vorschrift über die Vernachlässigung der Rute?«

Der Bischof senkte, ohne zu antworten, das Haupt.

Gelegentlich brachte der Bischof Danny wohl einmal während dieser Kinderjahre nach Ballamona hinüber, und dann stürzten die beiden kleinen, in ihres Vaters Hause Gefangenen und aus dem Hafen der Liebe Verbannten dem Bischof in die Arme, Mona sich gegen sein Kinn schmiegend, Ewan seine Beine umklammernd und den Flachskopf gegen das ihm aus der Westentasche hängende Petschaft lehnend. Was aber Danny und seine Verwandten und die Verwandten und Danny anbetraf, so pflegten sie nach Kinderart erst eine Weile steif und stumm sich einander gegenüber zu stehen und mit gemessenen Blicken zu betrachten, bis ein Lächeln die drei harten kleinen Gesichter auftaute, und sie unter gemeinsamem Jubel und mit geballten Fäusten aufeinander einstürmten. Danny ließ es nie an einer derartigen Begrüßung fehlen, und da er zu sehr Junge war, um sein Willkommen allein auf Ewan zu beschränken, puffte er mit männlicher Unparteilichkeit ebenso auf Mona ein.

Dann aber kam wieder eine Zeit, wo eine derartige Begrüßung unnötig war, denn die Kinder wurden miteinander zur Schule geschickt und sahen sich täglich. Es gab nur eine Schule, die sie besuchen konnten, und das war die Gemeindeschule von James Quirk, der der Behauptung Jabez Gahns, des Schneiders, gemäß, »seine Silben nicht voneinander trennen konnte.«

Die Gemeinde hatte ihr neues Schulhaus in der Nähe der Kirche gebaut, so daß es gerade auf halbem Wege, zwischen Bischofs-Hof und Ballamona lag. Ebenso lag es auf halbem Wege des zur See herabführenden Pfades, und dies war eine Quelle nie endenden Entzückens. Nach der Schule zogen die Kinder an langen Sommerabenden in lärmendem Verein an den Strand hinab, der Sohn des Bischofs mit dem Sohn des Schusters, des Deemsters kleine Tochter mit dem großen Mädchen von Jabez, der sein Kind als Freischülerin zur Schule schickte. Zerlumpt und wohlgekleidet, schmutzig und sauber, und der größere Bube den kleineren »verhauend« und es sich keinen Augenblick kümmern lassend, ob er den Namen des Deemsters oder Bills des Tölpels trug. Hand in Hand sprangen und hüpften Danny und Ewan mit Mona zwischen sich den Strand hinab, dorthin, wo die roten Felsen der Landspitze in die See hinausragten und das Weltall begrenzten; plaudernd und singend, ihr welliges Haar in dem Winde ausschüttelnd, bald Danny beiseite zerrend, um ihm ein Stück Seetang zu zeigen, bald Ewan am Rock zupfend, um ihn eine Muschel bewundern zu lassen, trippelte Mona so dicht an den Rand der See hinab, bis die weißbärtigen Wogen ihre Schuhe bespülten, und sie mit einem halb wirklich erschreckten, halb affektierten, lachenden Schrei zurücksprang. Oder die Knaben warfen ihre Kleider ab und badeten sich, und Mona, die ja doch nur ein Frauenzimmer war, gab auf die Kleider der Männer acht, oder sie erschreckten die Seemöwen durch ihr vereintes Geschrei, und Danny ahmte Mutter Careys Hühner Sturmvögel. nach und versuchte sich in dem trübseligen Ruf des Seeraben und [be]warf den langhalsigen auf dem Felsen sitzenden Vogel mit Kieselsteinen oder kletterte über den schlüpfrigen Seetang oder über das scharfe Schiefergerölle hinüber dorthin, wo der Seelavendel an den Abhängen wuchs, und wo die Seeente ihre Eier legte, um dann von irgend einer schwindelnden Höhe auf den mit verhaltenem Atem dastehenden Ewan und auf die schluchzende und zitternde Mona herabzurufen.

Welch herrliche Zeiten für Danny! Wie er täglich zuzunehmen und zu wachsen schien! Ehe er zehn Jahre alt war, hatte er Ewan um einen halben Zoll überholt und mit jedem Jungen unter zwölf Jahren einen Faustkampf bestanden. Dann wieder welch ein Spaß, an den Strand zu den Fischern hinunterzugehen, zwischen den Booten sich herumzutreiben, wie toll an Ruder oder Segel zu reißen, das Wasser auszuschaufeln, abzustoßen und über die weißen Stoßwellen dahinzureiten und vor lauter Mutwillen dieselben mit einem Jauchzer zu übertönen.

»Ach, Mann,« sagte Billy Quillasch, »es ist einfach das Glück, das aus dem Jungen spricht.«

Danny und Billy Quillasch waren treue Kameraden, und der kleine Strandläufer lernte alle derben Seemannsausdrücke von ihm und ging nach Hause, um sie gegen seinen Vater abzufeuern.

»Es gibt einen Sturm heute,« sagte der Bischof, eines Tages zu den eilenden Wolken hinaufdeutend.

»Ja ja,« antwortete Danny, mit seinen kleinen Augen seitwärts hinaufblickend, »der lange Katzenschwanz ist schon vor einer ganzen Zeit abgefallen, und jetzt hängt der runde dicke Roche da drüben gewaltig niedrig.« »Der Wind steigt auf,« sagte der Bischof bei einer anderen Gelegenheit. »Ja, David sammelt die Pfennige für den Pastor,« sagte der junge Heide.

Die Schule war ebenfalls nur ein anderes Spielfeld für Danny, ein etwas ruhigeres, aber nicht weniger belustigendes. Der Schulmeister war seit der Zeit, da der Bischof ihn für befähigt erklärt hatte, in einer englischen Schule zu unterrichten, sehr taub geworden. Diese Schwerhörigkeit versuchte er so viel wie möglich zu verbergen, denn die Unzufriedenheit der Gemeindemitglieder stand noch in zu lebhafter Erinnerung bei ihm, und er fühlte eine natürliche Abneigung, seine Stelle einzubüßen. Seine Schüler ließen sich aber nicht so leicht hinters Licht führen, und Danny, der freche, junge Taugenichts, machte sich des Lehrers Leiden zunutze. »Buchstabiert mir das Wort ›Arithmetik‹,« sagte der Lehrer zu den um sein Katheder versammelten Jungen. Und Danny antwortete dann wohl mit einem tragikomischen Gesicht: »Zweimal eins ist zwei, zweimal zwei ist vier.« »Gut,« erwiderte der Schulmeister. »Und nun, mein Junge, sage mir deine Multiplikationstabelle auf – zweimal.« Und dann, während der Lehrer in anscheinend aufmerksamem Lauschen den Kopf zur Seite neigte, und die anderen Jungen, in dem Versuch das Lachen zu verbergen, ihre Züge krampfhaft verzerrten oder offen kicherten, wiederholte Danny mit dem ernsthaftesten Gesicht der Welt das bekannte kleine Lied, »Jemmy war ein Welschmann, Jemmy war ein Dieb – Jemmy –«

»Sprich nicht so schnell, mein Junge,« unterbrach der Lehrer ihn, »sage deine Zahlen deutlicher.« Dann begann Danny noch einmal mit deutlicherer Betonung: »Jemmy Quirk war ein Welschmann, Jemmy –« Darauf schwoll das Gekicher und Gepruste zu einem Aufruhr an, und der Lehrer rief, mit seinem Rohrstock auf das Katheder hauend: »Stille, Jungen, und laßt den Knaben sein Einmaleins sagen. Mancher von euch großen Lümmeln könnte sich ihn unbeschadet zum Beispiel nehmen. Weiter, Daniel – so weit war es ganz recht – zweimal fünf ist zehn, zweimal sechs –«

Einer der Schüler, ein schmächtiger, stiller Junge, nur wenig älter als Danny selbst, im Lernen ihm jedoch weit voraus, hatte kein Verständnis für das Komische solcher Szenen, und eines Abends nachdem die Schule beendet war, blieb dieser ernsthafte kleine Bursche zurück und platzte mit dem ganzen Unfug heraus. Er erntete nicht den erwarteten Lohn, denn in schrecklicher Wut über die Zumutung, daß er taub sein solle, verhaute James Quirk den Angeber aufs jämmerlichste. Und selbst damit war die Strafe für seinen Verrat noch nicht beendet. Die Kunde von seiner Angeberei und seiner Tracht Prügel erreichte in weniger als einer halben Stunde, durch das schnellste aller Telephone, die Schuljungenzunge, das weiteste aller Königreiche, die Schuljungenwelt, und am selben Abend als Mona auf ihrem Heimwege die auf der gelbscheinenden Ginsterebene wachsenden Glockenblumen pflückte, und Ewan die Hummel durch die dick von Mücken belebte Luft jagte, stürmte Danny mit bleichem Gesicht in einem weiten Bogen über das Moor dorthin, wo neben dem zur Gebirgskuppe führenden Pfad eine Hütte stand. Am Ziele angelangt, sprang er mit einem Satz zur Türe hinein, ergriff einen Jungen am Rockkragen, zog ihn auf den Pfad hinaus und durchbläute ihn in schweigender Wut, während der Junge ein großes Geschrei erhob und zu entfliehen versuchte.

Nach einem Augenblick kam ein altes Weib auf ihren Krückstock gestützt aus der Hütte herausgehumpelt, und sich mit dieser Waffe Danny zuwendend, versetzte sie ihm ein paar scharfe Hiebe über Kopf und Rücken.

»O, diese Brut,« schrie sie ihm zu, »fort mit dir – du Satan – sollt' man's glauben – 's liegt dir im Blute – fort – oder ich zerbreche dir jeden Knochen im Leibe.«

Danny schenkte den Hieben des alten Weibes ebensowenig Beachtung wie ihren Worten und hatte gerade seine Hand zum Schlag gegen den unter seiner Faust laut heulenden Verräter erhoben, als plötzlich neben ihnen auf dem Pfade Pferdegetrappel laut wurde, und eine strenge Stimme über ihren Häuptern rief: »Halt, halt, oder soll ich erst meine Peitsche auf euren Rücken niederbringen?«

Es war der Deemster. Danny sprang zur Rechten, und das alte Weib mit dem Jungen zur Linken des Pferdes.

»Was soll dies heißen?« fragte der Deemster, sich an seinen Neffen wendend; Danny aber stand schwer atmend, mit feuersprühenden Augen, geballten Fäusten und wie Eisen hervorstechenden Knöcheln da, antwortete aber nicht.

»Wer ist dieser heulende Feigling?« fragte der Deemster, mit verächtlicher Gebärde auf den sich halb hinter das Kleid des alten Weibes verkriechenden Jungen zeigend.

»Feigling ist er?« erwiderte das Weib. »Feigling sagt Ihr?«

»Wer ist der Balg, Frau Kerrisch?« fragte der Deemster mit scharfer Stimme.

Auf diese Frage zog Frau Kerrisch, denn sie war das Weib, den hinter ihrem Rock versteckten Jungen hervor, riß ihm die Mütze vom Kopf, strich ihm mit ihrer runzligen Hand über die Stirne bis an das Haar hinauf, und sagte, sein Gesicht dem Deemster zuwendend:

»Seht ihn Euch an, Deemster; seht ihn Euch an. Ihr kommt nicht oft in diese Gegend, also seht ihn Euch an, während Ihr einmal hier seid. Habt Ihr je vorher sein Bild gesehen? Nein, nie? Nie ein Gesicht wie das seine gesehen? Nicht? Nicht, wenn Ihr in den Spiegel blickt, Deemster?«

»Macht, daß Ihr hinein kommt, Weib,« rief der Deemster, mit gesenkter, heiserer Stimme und gab seinem Pferde die Sporen.

»Was diesen jungen Teufel anbelangt,« schrie das alte Weib, den Knaben zurückstoßend und mit ihrem Stock auf Danny weisend, »er wird Euch noch einmal den Fuß in den Nacken setzen, Deemster – denkt an meine Worte.«


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