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Als Dan nach der Bucht hinunterkam, war die kleine Hütte von den Fischern Quillasch, Tere, Crennell und dem Burschen Davy ausgefüllt. Die Männer trugen ihre Wachstuchjacken, als ob sie direkt aus ihrem kleinen Boot an den Strand gestiegen seien, und auf dem Boden standen, wie gerade aus der Hand gesetzt, drei Körbe mit Kabeljau und Rochen. Das Ginsterfeuer prasselte auf dem Herd, und Davy saß bleich und elend daneben. Es war ihm nicht entgangen, daß Dan die Hütte verlassen hatte. Er war zitternd vor Angst zurückgeschlichen und hatte Mut genug zusammengerafft, um bei der Leiche Wache zu halten.
»Ich konnte es nicht übers Herz bringen, sie hier allein zu lassen,« sagte er, halb schüchtern seine Augen zu Dan erhebend, als derselbe eintrat. Darauf wurde den Männern, die im ersten Moment des Entsetzens Davy fünfzig Fragen gefragt hatten, ohne auf eine derselben Antwort zu bekommen, mit einem Male alles klar. Sie machten Platz für Dan, und er schritt zwischen ihnen hindurch, um wortlos auf die noch unverändert daliegende Leiche herabzublicken.
Nachdem die Männer das Vorgefallene in seinem ganzen schrecklichen Umfang begriffen hatten, flüsterten sie, mit Seitenblicken auf Dan und langen, forschenden Blicken auf die Leiche gruppenweise miteinander. Die Tatsache, daß Ewan wirklich tot war, schien sich ihnen anfangs nicht aufzudrängen. Der Körper trug außer der Wunde über dem Handgelenk kein Zeichen irgend einer Gewalttat, und plötzlich, noch während die Männer auf ihn hinabblickten, fing die Wunde von neuem an zu bluten. Darauf kniete der alte Quillasch, der in dem Ruf stand, ein Geheimmittel zur Stillung des Blutes zu besitzen, neben Ewan nieder und flüsterte, während alle stillschweigend zusahen, der Leiche eine Zauberformel in das taube Ohr.
»Ein paar gute Worte können nicht schaden,« sagte Crennell, der Koch, der ein Quäker war.
Der alte Quillasch flüsterte von neuem in das tote Ohr hinein, und darauf befahl er dem Blute im Namen der drei nach Rom gepilgerten frommen Männer – Christi, Petri und Pauli – gebieterisch Stillstand.
Eine augenblickliche Pause trat ein, und das Blut schien gestillt. Die Männer bebten; Davy, der Junge, erbleichte noch mehr, und Dan stand, wie erstarrt niederblickend, allem zuschauend und doch wieder nichts mit seinen Augen aufnehmend, da.
Darauf erhob der alte Mann sein gebräuntes Gesicht und sagte im heiseren Flüsterton: »Er ist so tot wie ein Stein.«
Den Kehlen der Männer entfuhr ein tiefes Stöhnen; sie traten entsetzt zur Seite. Keiner von ihnen sprach mit Dan, und keiner stellte eine neue Frage an den Burschen; alle aber schienen in unklarer Weise das Vorgefallene zu erraten. Billy Quillasch saß auf einem zur Seite stehenden Baumstumpf, und eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann wandte der alte Mann das Gesicht den Fischern zu und sagte: »Ich halte es damit, daß ein Mann seinem Freunde beistehen soll, ja, das tue ich.«
Darauf entstand eine ungemütliche Bewegung unter den andern Fischern.
»O ja, und wenn ein Mann seinem Freunde beistehen soll, so muß er es im Glück oder Unglück, auf oder ab tun,« fuhr Billy nach einigem Hin- und Hergewinde und Gemurmel unter den übrigen Fischern fort. »Man muß einen Mann in allen Lebenslagen kennen lernen, ehe man weiß, was an ihm dran ist, wir aber kennen Herrn Dan. Wir haben unsere Mahlzeiten, unsere Arbeit mit ihm geteilt, und verflucht will ich sein, wenn irgend etwas mich zurückhalten sollte, jetzt für ihn einzustehen, mag er sich über Wasser halten oder untergehen.«
Auf diese Worte entgegnete einer der Fischer mit einem »ja, ja,« und ein anderer ebenfalls mit einem »ja, ja,« und Crennell sagte: »Ein Freund in der Not ist köstlicher als Gold«; und darauf wandte der alte Billy seinen Kopf, ohne jedoch nur einmal in Dans Gesicht zu blicken, halb demselben zu und sagte, sie seien zwar nur rohe Gesellen und verstünden nicht, sich auszudrücken, weil es ihnen an der Übung fehle, wenn aber irgend etwas, wie leicht ersichtlich, nicht ganz in der Ordnung sei und reiner Mund gehalten werden müsse, und er und seine Gefährten für den, der für sie eingestanden wäre, nun auch einmal einstehen könnten, so sei ein Freund ein Freund, und nach diesem Sprichwort beabsichtigten sie zu handeln.
Hierauf erfaßten die ungeschlachten Seebären mit dem großen Herzen in ihrer breiten Brust einander bei den Händen und bildeten einen Kreis um Ewan, dessen bleiches Gesicht in steinerner Starre zu ihnen heraufblickte, und leisteten in der einsamen Hütte am Meere ihr gegenseitiges Gelübde.
Die ganze Zeit über hatte Dan stillschweigend zusehend dagestanden, und Davy hatte während Onkel Billys Worte hörbar am Feuer geschluchzt.
»Wir müssen sie fortschaffen,« sagte der alte Billy leisen Tones, mit auf die Leiche gerichtetem Blick.
»Ja,« sagte Ned Tere.
»Wie spät ist es?«
»Ein Viertel nach zwölf Uhr.«
»Halbebbe. Gegen drei Uhr wird die Gezeit umsetzen,« sagte der alte Quillasch.
Kein weiteres erklärendes Wort war notwendig, alle verstanden, daß sie die Leiche Ewans zur See hinausnehmen und dort nach drei Uhr am nächsten Morgen versenken mußten, so daß dieselbe, wenn sie doch aus ihrem letzten Heim noch einmal wieder hochkommen sollte, vom Kanal hinweggeschwemmt werden würde.
»Auf!« sagte einer der Männer und schob seine Hand unter die Leiche.
»Hu – u jup!«
Dan selbst trat zur Seite, um die Männer hinauszulassen. Er hatte alle ihre Bewegungen mit weit offnen Augen verfolgt. Sie waren ohne ein Wort an ihm vorübergegangen. Als sie fort waren, folgte er ihnen mechanisch, ohne recht zu wissen, was er tat. Davy schlich hinter ihm her.
Die Fischer traten in die Nacht hinaus. Stillschweigend trugen sie Ewans Leiche in das kleine, am Strande liegende Boot und stießen, nachdem alle beisammen waren, ab. Es war jetzt sehr dunkel geworden, bald aber lagen sie quer vor dem Bug der Ben-my-Chree, die drunten im niedrigen Wasser ankerte. Sie hoben die Leiche über den Doppelbord hinüber und folgten ihr in das Fischerboot.
»Es riecht nach 'ner guten Brise,« sagte der alte Quillasch.
Nach fünf Minuten segelten sie mit ihrer schauerlichen Last des Grausens und Verbrechens auf die See hinaus. Sie hatten die Leiche bei den Luken niedergelegt und wieder und wieder wandten sie derselben in der Dunkelheit ihre Köpfe zu. Es war ihnen zumute, als ob dieselbe jetzt noch jede Minute sich erheben und mitten unter sie treten und jedem Manne von Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge gegenüberstehen müsse.
Draußen wehte, als sie in langen Strichen dem Norden zusegelten, ein frischer, auf ihr Backbord stehender Wind. Nachdem sie ein gutes Stück vom Lande weg waren, versammelten sich die Leute im Cockpit und begannen Ewan zu betrauern und sich in Erinnerungen an ihn zu ergehen.
»Ja, des jungen Pastors Kreuzfahrt ist zu Ende, und ein wirklich guter Mann war er.«
»Ach ja; es gibt Pastoren genug, aber seinesgleichen nicht.«
»Armer Pastor Ewan,« sagte Quillasch, »ich erinnere ihn, wie er als kleiner Bube in den Armen seiner Mutter lag – und eine feine Dame war sie. Und er selbst so ruhig, aber desto mehr Gedanken im Kopf, mit dem Haupt ein wenig dem Steuerbord zugeneigt und Augen, wie die einer Gallionsfigur, nur lebendiger und viel weicher. Und Mut hatte er dazu. O Himmel, ihr hättet ihn nur mitunter gegen Herrn Dan sich auflehnen hören sollen.«
»Mut! Ein Hitzkopf war er, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn das sein Tod gewesen wäre.«
»Nun, Mann, was das betrifft, so laßt gut sein. Wer von uns allen lehnte sich nicht manchmal in einer kleinen Brise zu sehr dem Backbord oder dem Steuerbord zu? Gott wird wegen seiner Hitzköpfigkeit nicht hart mit ihm verfahren. Nein, nein, Gott ist nie hart gegen ein warmes Herz, auch wenn es einen Hitzkopf mit sich vereint.«
»Ach, aber wie weichherzig er war!« sagte Crennell, der Quäker. »Und 'ne Stimme wie 'ne Orgel, die sanft und leise und zitternd wie 'ne Flöte klingt! Erinnert ihr wohl noch den Tag, als die alte Betty Kelly ihr kleines Mädchen am Fieber verlor, die Kleine mit dem schlanken kleinen Blumenstiel von Körper und dem wie 'ne Blume zur Seite geneigten Kopf und Augen, als ob 'n paar Hummeln darin spielten? Erinnert ihr euch des süßen Kindes? Nun, der junge Pastor Ewan ging doch wohl stehenden Fußes nach Balligbeg, und die alte Betty schrie und jammerte fürchterlich und sagte, sie wollte ebenfalls sterben! Ja, das wollte sie, und für wen sollte sie leben? aber, Jungens, wie der Pastor ihr da zuredete, und wie er mit ihr betete – ach, Menschenkinder, er dichtete die Naht des alten Geschöpfes wunderbar.«
»Und dabei war der Mann zugänglich, zugänglich wie nur einer,« sagte der alte Quillasch. »Als er 'n Junge war, hieß es: »Wie geht's, Billy Quillasch?« Und als er von dem Seminar in Bischofs-Hof mit aller Gelehrsamkeit und der feinen englischen Sprache und was sonst noch, heimkam, hieß es: »Und wie geht's Euch heute, Billy?« »Nun, so ziemlich, Herr Ewan.« Ja, ja, 'n gütiges Herz und keinen Funken von Stolz in der Brust hatte er.«
Des alten Mannes Erfahrungen mit Ewan waren nicht aufregend zu erzählen, sie brachten ihm aber die Tränen in die Augen, und er wischte sie mit seinem Ärmel fort.
»Und dabei doch sehr hitzköpfig, und wenn er einmal in Harnisch geraten war, dann hieß es, verschalke deine Luken, Jungens – 'n Sturm ist im Anzuge,« sagte Ned Tere.
Plötzlich wandten sie ihr Gesicht in der Dunkelheit der Richtung zu, wo Dan auf den verschalkten Luken, mit auf die Knie gestützten Ellbogen und dem Kopf in den Händen vergraben, saß, und sie fühlten sich über all das Ewan gespendete Lob halb beschämt. Jedes Wort mußte wie ein Dolchstich Dans Seele getroffen haben. Darauf, ohne selbst kaum zu wissen, weshalb, begannen sie sich den Kopf zu zerbrechen, wie sie ihr Versehen wieder gut machen könnten und fingen vom Deemster und von seinem Verhältnis zu seinem Sohn zu sprechen an.
»Kein Herz für Ewan – 's war nicht viel Liebe zwischen ihnen verloren – zwischen dem Deemster und Ewan, 's war unnatürlich, 's war, als ob der Mensch 'ne Schlange in seiner alten Brust hatte, die gegen den jungen Pastor anzischte.«
Darauf sprachen sie von Jarvis Kerrisch.
»Ach, 'n echter Schleicher und Anstifter und rührt und rührt und rührt den Teufelsbrei auf.«
»Ach ja, der Deemster hat manch einem Menschen 'n Fußtritt gegeben, aber ich glaube, er wird es zu verantworten haben, wenn der große Gerichtstag einmal kommt. Ich bin fest überzeugt, daß das alte Stinktier auch in dieser Angelegenheit nicht schuldlos ist.«
Dan sagte nichts. Allein und ohne irgend ein Lebenszeichen von sich zu geben, saß er nahe dem Platze, wo die Leiche neben der Luke lag, und ein wenig hinter ihm hatte Davy Fähl sich auf das Verdeck gestreckt. Des Knaben Kopf ruhte in seiner Hand, und seine Augen waren mit dem treuen Ausdruck eines Hundes auf die dunklen Umrisse von Dans Gestalt gerichtet.
Sie umsegelten die Landspitze von Ayr, als plötzlich der Wind einer Totenstille Platz machte. Die Dunkelheit schien zusehends zuzunehmen.
»Es kommt mehr Schnee – laßt das Boot treiben,« sagte der alte Billy Quillasch, und die Männer gingen in die Kajüte, nur Dan mit der Leiche und Davy blieben auf Deck.
Darauf hörte man durch die Stille und leere Dunkelheit große Regentropfen auf das Deck fallen. Plötzlich kam ein zehn Minuten langer Schauer, und nach demselben lichtete sich die Dunkelheit, und die Sterne traten hervor. Dies war gegen zwei Uhr, und bald darauf ging der Mond auf, um jedoch nach kurzer Zeit schon hinter einer dichten, düsteren, turmähnlichen Wolke, die sich am Horizont aufbauschte, wieder zu verschwinden.
Als Dan das Deck betreten hatte, war ein dumpfes, düsteres Herzweh das einzige Gefühl, dessen er sich bewußt war. Die Welt war tot für ihn. Er war sich zu dieser Zeit weder des Zweckes der Verheimlichung seines Verbrechens, noch des Zweckes seines von Mona ihm aufgedrungenen Sühnopfers bewußt. Er war gänzlich abgestumpft. Seine Seele schien tot in ihm. Es kam ihm vor, als ob sie nur in einer andern Welt wieder zum Leben erwachen könne. Er hatte den alten Billy beobachtet, als er die Zauberformel in Ewans totes Ohr geflüstert hatte. Unvorsätzlich und unfreiwillig hatte er die Männer, seit sie das Boot betreten hatten, mit seinen Blicken verfolgt. Innerlich zusammenschauernd, erwachte sein marterndes Empfindungsvermögen von neuem. Hatte er nicht selbst seine Seele für immer verkauft? Daß er ein warmes, menschliches Leben genommen hatte; daß Ewan, der am Leben gewesen war, wenige Schritte von ihm tot dalag – alles dieses quälte ihn nicht halb so, als der entsetzliche Gedanke, daß er, er selbst vorzeitig und unvorbereitet in die ewige Verdammnis fahren sollte. »O, kann sich dies alles wirklich zugetragen haben?« Jedesmal, so oft er aus dem Halbschlaf seines gelähmten Bewußtseins erwachte, legte er sich diese Frage vor. Ja, es war wahr, es hatte sich zugetragen. Nein, es war kein Alpdruck. Er würde nie fröhlich und in dem Bewußtsein, daß es nicht wahr sei, im Morgensonnenschein wieder erwachen. Nein, nein, es war wahr, wahr, wahr, bis zum Tage des jüngsten Gerichtes, bis er und Ewan sich wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, und eine furchtbare Stimme ihm gebieten würde: »Geh und hebe dich fort von hier.«
Und weiter dachte Dan an Mona, und sein Herz war dem Brechen nahe. Mit einem stummen Verlangen in den Augen richtete er den Blick durch die Dunkelheit dem Lande zu, und während das Boot vor dem Winde hersegelte, schien es ihn für immer von ihr zu entfernen. Das zwischen ihnen liegende Wasser glich dem Fluß, der bis in alle Ewigkeit die Seligen von den Verdammten trennt.
Und während hinter ihm die Männer sich unterhielten, und ihre Stimmen ihm wie ein verschwommenes Brausen vor den Ohren klang, erlosch sein letzter Hoffnungsschimmer. Als Mona ihn zu der Idee des Sühnopfers überredet hatte, war es ihm wie ein Sonnenstrahl vorgekommen, daß sie, wenn er auch niemals, niemals hier aus Erden ihre Hände wieder umfangen sollte, im Himmel ihm doch angehören, und er sie immer und ewig lieben dürfe. Aber nein, nein, nein; der unüberschreitbare Golf lag nun zwischen ihnen.
Den größten Teil dieser Zeit blieb Dan nur mit dem Toten und Davy Fähl als Gesellschaft auf Deck, während das Boot, abgesehen von dem seine Wände leise umspülenden Wasser bewegungslos dalag. Die Sterne erloschen, und Dunkelheit herrschte von neuem, und noch während derselben zeigten die ersten am östlichen Himmel sich hinziehenden grauen Streifen den Anbruch des Tages an. Über die Grenzen einer neuen Nacht wollte das sanfte Tageslicht sich wieder nahen, Dan aber erschienen die unabsehbaren Wasserflächen, nun, da das hervorbrechende Licht die dichten Nebel verjagte, noch einsamer, noch verlassener als zurzeit, da die Dunkelheit bleiern auf ihnen lag. Nach der einen Seite hin war kein Gegenstand auf dem Wasser sichtbar, bis Himmel und Meer in weiter Entfernung in einem großen Halbkreis sich zu vereinen schienen. Auf der andern Seite lag das Land, das er einstmals seine Heimat nannte.
Als das graue Licht die Dunkelheit verjagte, saß Dan noch immer abgehärmt und bleich auf den Luken. Davy lag einen oder zwei Schritte von ihm auf Deck. Eine leichte Brise erhob sich im Südwesten. Das Boot war viele Meilen getrieben und befand sich nun fast fünf Meilen westlich von Peeltown. Die Männer kamen von unten herauf, und das kalte, bleiche Gesicht neben den Luken blickte zu ihnen und zum Himmel empor.
»Wir müssen sie jetzt versenken,« sagte Billy Quillasch.
»Ja, die Flut hat eingesetzt,« sagte Crennell.
Kein weiteres Wort wurde gesprochen. Ein Mann ging hinunter und holte ein altes Segel herauf, dazu zwei schwere eiserne, zum Netzsenken dienende Gewichte aus dem untern Raum. Keine Befehle, keine Rufe wurden laut. Stillschweigend nahmen die Männer den dort kalt und starr liegenden Gegenstand auf, wickelten ihn in das Segeltuch und taten eines der Gewichte an das Kopf-, das andere an das Fußende. Darauf setzte sich einer der Männer – es war der alte Billy selbst, weil er in seinen jungen Tagen einmal Takelmeister gewesen war – mit einer Segelmachernadel und Bindfaden nieder und begann, die Leiche in das Segel einzunähen.
»Wird der Bindfaden auch halten?« fragte einer.
»Er wird ihm seine Reise hinaus halten – 's ist eine kurze,« sagte der alte Billy.
Furcht und Schweigen hatte sich der Männer bemächtigt. Als alles fertig war, holten sie von unten ein flaches Brett, das zum Netzausschießen gebraucht wurde, legten die Leiche hinauf und hoben dann mit dem Spinnaker ein Ende des Brettes auf den Dollbord. Es war ein feierlicher, schauriger Anblick. Oben am Himmel trieb das Morgengrauen die schweren Nachtwolken noch vor sich her.
Dan saß mit seinem Kopf in den Händen und mit seinem vergrämten Gesicht dem Deck zugekehrt auf der Luke. Niemand sprach mit ihm. Eine Art Furcht vor ihm hatte sich der Männer bemächtigt. Sie überließen ihn sich selbst. Davy Fähl war aufgestanden und lehnte sich gegen das Kielschwert. Alle übrigen Leute hatten sich mit abgezogenen Mützen auf dem Backbord versammelt. Darauf ließ der alte Quillasch sich auf ein Knie herab und legte, während zwei Männer das andere Ende der Planke hochhoben, seine Hand auf die Leiche. »Gott gebe Euch Frieden,« murmelte der alte Fischer.
»Gott gebe Euch Frieden!« wiederholten die andern, und Ewans Leiche glitt in die weite Meeresfläche hinab.
Und dann geschah eines der wunderbaren Ereignisse, die, wie alle Seefahrer behaupten, nur dreimal in der Geschichte der See vorgekommen sind. Kaum war das Wasser über der Leiche zusammengeschlagen, als ein leises Grollen unter dem Wellenzirkel, in den sie versunken war, ertönte. Die aus ihren Plätzen zu Kopf und zu Füßen der Leiche herausrutschenden Gewichte waren die Ursache des Geräusches. Die Nähte hatten nachgegeben, und die Gewichte das Segeltuch, in das die Leiche gewickelt gewesen war, auseinander gerissen. Im nächsten Moment waren sie aus dem Segeltuch heraus und in die See hinabgerollt. Darauf geschah etwas Grausenerregendes. Die von den Gewichten befreite Leiche erschien auf der Oberfläche. Das noch nicht gänzlich vom Wasser durchzogene Segeltuch breitete sich in der nun wieder wehenden Brise wie ein Segel aus. Die Flut, die eben erst eingesetzt hatte, war noch zu schwach, und die wie ein Boot auf dem Wasser dahergetragene Leiche begann, quer vor dem Bug des Fischerbootes vorbei, geradeswegs dem Lande zuzutreiben. Dies waren der Wunder aber noch nicht alle. Augenblicklich darauf stieg ein langer, leuchtender Streif im Wasser auf und erstreckte sich weiß wie ein Mondstrahl, aber ohne einen Mond am Himmel, den ihn hätte werfen können, von der Vierung des Bootes bis zum Strande hin. Mehrere Sekunden flammte er, wie ein den Lauf der Leiche auf dem Wasser bezeichnender Finger Gottes, auf der Oberfläche auf. Alte Seefahrer, die die Zeichen der See und des Himmels richtig zu deuten verstehen, werden sich diese Erscheinung, wenn sie dem, was von dem Witterungswechsel dieser Nacht gesagt worden ist, gefolgt sind, zu erklären wissen.
Die Mannschaft der Ben-my-Chree hatte für diese beiden Ereignisse nur eine schauerliche Auslegung. Die Männer standen und starrten in sprachlosem Schrecken einander ins Gesicht. Sie verfolgten die Leiche, solange es ihnen möglich war, mit den Augen, bis dieselbe – nachdem das sonderbare Licht verschwunden war – im Zwielicht des Morgengrauens zu einem kleinen Pünktchen zusammenschrumpfte und nicht länger wahrgenommen werden konnte. Es war, als ob ein Racheengel ihnen den Ermordeten aus der Hand gerissen hätte. Das schlimmste jedoch war der Hintergedanke, daß die Leiche von Ewan Mylrea ans Land gespült, der Mord bekannt werden würde und sie selbst, die nur der Gedanke, Dan Mylreas Verbrechen zu verheimlichen, getrieben hatte, nun in den Augen des Gesetzes Teilnehmer oder Mitschuldige an dem Morde werden würden.
Dan bemerkte den Vorgang ebenfalls und war in einem Augenblick wie umgewandelt. Er selbst legte diesem Ereignis eine andere Deutung unter. Es war Gottes Fingerzeig für den schuldbeladenen Mann und bedeutete so viel wie, »Blut verlangt Blut«. Die Leiche wollte sich nicht versenken, das Verbrechen sich nicht verheimlichen lassen. Das Reugeld mußte gezahlt werden. Er warf in einem Moment alle unbestimmte Furcht, alles lähmende Entsetzen von sich ab. Buße! Buße! Buße! Gott selbst verlangte sie. Mit den Worten: »Kommt, Jungens, wir müssen zurückgehen; holt herzhaft aus und vorwärts,« sprang er empor.
Es waren die ersten Worte, die Dan während der Nacht sprach, und seine Stimme hatte in den Ohren der Männer einen schauerlichen Klang.