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Wie dunkel die Nacht, wie düster die Stimmung der Welt auch sein mochte, ein Zimmer gab es in Ballamona, das eine köstliche erblühte menschliche Blume umschloß. Mona war seine Bewohnerin – Mona mit den ruhigen Augen, dem stillen Wesen und dem kleinen Elfenköpfchen. Es war bei ihr, wie bei allen anderen Leuten Weihnachtsabend, und sie schmückte das Haus mit Stechpalme und Mistel von einem großen Berge beider Sträucher, den Christopher in der Vorhalle aufgehäuft hatte. Sie sah sehr schmuck und glücklich den Abend aus in ihrer kurzen, wollenen Taille mit dem weißen Chemisette darin und dem darüber gekreuzten weißen Tuch; in ihrem Stepprock und einer leinenen Schürze, die nicht lang genug herabreichte, um ihre durchbrochenen Strümpfe und Schnallenschuhe zu verbergen. Ihr Zimmer, mit seinem glühenden Torf- und Holzfeuer im weiten Kamin, seiner Lampe auf dem viereckigen, eichenen Tisch und dem an denselben herangezogenen Sofa war ebenfalls freundlich und kosig. In einer Ecke des Sofas lag auf einem wahren Berge roter wollener Kissen murmelnd und gurrend, pappelnd und sprudelnd Monas Pflegekind, Ewans mutterlose Tochter, auf dem Rücken und focht mit den geballten Fäustchen in der Luft umher.
Während Mona die Mistel von der Stechpalme schied, beide zerpflückte und Bogen und Kreuze und Kronen und Rosetten daraus machte, und dann, um sie wie mit Schnee bedeckt erscheinen zu lassen, Mehl auf die roten Beeren und grünen Blätter streute, sang sie einzelne Verse einer alten Manxballade, oder plapperte der Kleinen in der halbartikulierten Sprache, die der Instinkt der Mutterschaft jedem guten Weibe, das Gott erschaffen hat, ins Herz gibt, etwas vor: –
»Habt vor den Carrasdoomännern acht,
Wenn Ihr den Wald betret't;
Meidet die Geisterschlucht bei Nacht. –«
Ein eigensinniges Wimmern unterbrach die Sängerin.
»Still, still, Allin, Herzblatt, still.«
Das Wimmern verstummte, und von neuem ertönte ein Vers der Ballade: –
»In Jorby Curragh sie pflegten zu tragen,
Wo im dunklen Moor die Weiden klagen
Drunten in düsterer, einsamer Schlucht –«
Zum zweiten Male unterbrach das Wimmern den Gesang.
»Still, Herzblatt; Papa wird bald zu Allin zurückkommen, ja; und Allin wird mit Papa plaudern, ja, und Papa wird mit Allin plaudern, ja, und Allin –«
Darauf erscholl ein langes, leises Gurren, ein anmutiger Kopf beugte sich über die Sofalehne und ließ sich, wie eine Lerche auf ihr im Grase verborgenes Nest, gerade auf das Kissen nieder, ein langer, sanfter Kuß auf die zarten, runden Kinderbeinchen, und dann ein nicht enden wollendes Kinderlachen.
Es war ein so anmutiges Bild, wie die Welt es an jenem trübseligen Weihnachtsabend nur zu bieten vermochte. Wie wütend der Sturm draußen auch tobte, dort drinnen war ein kosiges Nest.
Mona erwartete Ewan den Abend in Ballamona und lauschte auf sein Kommen. Als er vor etwa drei Stunden sie verlassen hatte, waren sie freilich etwas zornig voneinander geschieden, daran dachte Mona indes nicht mehr. Ihr war Ewans aufbrausender Zorn ebensowenig neu, wie sein versöhnliches Gemüt. Er würde, wie er gestern versprochen hatte, heute abend kommen, und wenn auch Unfriede zwischen ihnen geherrscht hatte, würde er es um die Zeit vergessen haben. Zwanzig Male wohl blickte sie auf die über dem Kamin tickende kleine Uhr mit dem Löwenhaupt und dem Hundekopf als Pendel. Viele Male rief sie, sowie ein Fußtritt in der Halle laut wurde, mit lauschend geneigtem Haupt und leicht geöffneten Lippen und leuchtenden Augen der Kleinen ein »Horch« zu. Ewan jedoch kam nicht, und das Kind wurde, als seine Schlafenszeit sich näherte, immer ungeduldiger. Schließlich zog Mona es aus und trug es in seine Wiege in das anstoßende Gemach und sang, während das Kind, unter der eichenen Bedachung mit den häßlichen, eingeschnitzten Tieren darauf, schwer gegen seine Müdigkeit kämpfte, ihm leise vor, bis der Schlaf sich seiner bemächtigte, und alles Ruhe und Frieden war. Dann ging Mona, ein Talglicht auf dem zwischen Wiege und Bett stehenden Tisch anzündend, damit die Kleine, wenn sie zufällig aus dem Schlafe erwache, sich nicht ängstigen und aus Furcht vor der Dunkelheit zu weinen beginnen sollte, in ihr Wohnzimmer zurück, um den letzten Strauß Stechpalme und Mistel noch zu verwenden.
Der allerletzte Rest war ein Zweig Stechpalme mit einem Büschel roter Beeren daran, und Mona hing ihn über das von einem berühmten englischen Maler gemalte Kinderbild ihres Bruders. Der Deemster hatte das Bild nach der peinlichen Szene wegen der Anleihe und Bürgschaft in Bischofs-Hof aus dem Eßzimmer in eine Rumpelkammer verbannt, wo Mona es, mit dem Gesicht gegen die Wand gekehrt, gefunden hatte. Sie betrachtete dasselbe heute mit neuem Interesse. Als sie den Zweig Stechpalme darüber befestigte, entdeckte sie zum ersten Male eine Ähnlichkeit mit der kleinen Allin, die sie eben zu Bette gebracht hatte. Wie sonderbar erschien es ihr, daß Ewan selbst einmal ein kleines Kind wie Allin gewesen war!
Dann fiel es ihr auf, daß Ewan recht spät sei, und sie fing an, sich in Vermutungen über die Ursache seines verzögerten Kommens zu ergehen. Ihres Vaters Haus wurde ein immer trüberer Aufenthalt für sie. Den Deemster sah sie weniger als je. Jarvis Kerrisch, der ihr fremd stehende Bruder, war sein Gefährte; und Trost und Erheiterung suchend, hatte sie selbst sich enger an Ewan angeschlossen.
Dann setzte sie sich auf das Sofa nieder, um einige lose, abgefallene Beeren zu einer Kette aufzuziehen und dabei an Dan zu denken – an den tollen, mutwilligen, übermütigen, eigenwilligen, mutigen, lieben, lieben Dan – an Dan, der ihrem Herzen in ihrer großen Einsamkeit so viel, so unendlich viel war. Mochten andere Leute auf ihn schelten, soviel sie wollten; er war zu sehr mit ihren teuersten Erinnerungen verknüpft, als daß sie irgend welcher Treulosigkeit Raum hätte geben können. Dan würde ihr Vertrauen auf ihn doch noch rechtfertigen. O ja, er würde ein großer Mann dermaleinst werden, alle Welt würde es zugestehen, und sie würde dann sehr stolz darauf sein, daß er ihr Vetter – ja, ihr Vetter oder vielleicht, vielleicht – Und dann, ohne zu wagen, diesen bestrickenden Gedankengang auch nur im innersten Herzen, in das niemand hineinblicken konnte, um den Mangel an etwaiger Mädchenhaftigkeit wahrzunehmen, weiter auszuspinnen, nahm Mona aufs neue ihr Zuflucht zu der alten Manxballade und sang einen anderen Vers derselben leise vor sich hin: –
»Wer hätt' nicht gehört von Adair, dem jungen?
Dessen Seelentreue so vielfach besungen.
Weh mir! wie glühend sein Lob sein mag,
Adair war ein Held und ein Mann, doch schwach!«
Plötzlich fuhr sie sich mit der Hand über die Stirne, und die Worte des alten Liedes schienen eine neue Bedeutung für sie zu gewinnen. Kaum war ihre Stimme verstummt, und der letzte leise Ton ihres Gesanges in dem stillen Zimmer verhallt, als es ihr vorkam, als ob sie zweimal ihren Namen rufen höre – »Mona! Mona!«
Die Stimme schien Ewans Stimme zu sein und aus ihrem Schlafzimmer zu kommen. Sie erhob sich vom Sofa und ging in ihr Schlafgemach. Es war niemand als das schlafende Kind darinnen. Die Kleine lag den Moment gerade in einem unruhigen Schlummer und warf sich unter schwachem Wimmern ruhelos hin und her. Es war sehr sonderbar. Es war Ewans Stimme gewesen, und sie hatte tief und bebend wie die Stimme eines sich in Gefahr Befindenden geklungen.
Gleich darauf verfiel das Kind wieder in ruhigen Schlaf, und alles war so still wie vorher, so daß Mona in das Wohnzimmer zurückging. Kaum hatte sie sich indes gesetzt, als sie sich von neuem von der Stimme zweimal beim Namen rufen hörte: »Mona! Mona!« und in denselben bebenden Tönen, aber ganz deutlich und klar.
Darauf erhob sie sich zitternd und ging in ihr Schlafzimmer zurück, woher die Stimme zu kommen schien. Niemand war dort. Die Kerze flackerte unruhig hin und her, und das Kind fing plötzlich im Schlafe an zu schreien – jenes unheimliche, nächtliche Schreien, das das Blut des wachend dabei Stehenden gefrieren macht. Es war höchst, höchst sonderbar.
Der Ohnmacht nahe und kaum imstande, sich aufrecht zu halten, ging Mona in ihr Wohnzimmer zurück und öffnete die nach der Vorhalle hinausführende Tür. Alles schien stumm. Die gegenüberliegende Tür zu ihres Vaters Studierzimmer war geschlossen, und von drinnen ertönte Sprechen – das lebhafte Sprechen zweier Männer.
Mona ging zurück, schloß ihre Türe vorsichtig und schritt, allen Mut zusammennehmend, ans Fenster und zog die schweren Vorhänge zurück. Die sie haltenden Ringe rasselten lärmend auf der Stange. Mit dicht an die Scheiben gedrücktem Gesicht und ihre Augen vor dem Licht der hinter ihr stehenden Lampe beschattend, blickte sie nach draußen. Sie sah, daß seit sie beim Dunkelwerden die Lampe angezündet hatte, Schnee gefallen sein mußte. Der Boden und die blätterlosen Zweige der Bäume waren schneebedeckt. Weiter konnte sie nichts sehen. Sie öffnete sogar das Fenster und rief: –
»Wer ist da?« erhielt jedoch keine Antwort. Der Wind heulte um das Haus herum, und die See brauste in der Entfernung. Dann schloß sie das Fenster wieder und trat, ohne die Vorhänge zuzuziehen, in das Zimmer zurück und um ihre Gedanken gewissermaßen von den geheimnisvollen Wahrnehmungen, die sich ihr offenbart hatten, abzuziehen, setzte sie sich an das an der ferneren Seite der zwischen Fenster und Kamin befindlichen Wand stehende Klavier.
Zuerst liefen ihre Finger zaghaft über die Tasten, sie gewannen jedoch an Kraft, und die Tonfülle schien ihre Furcht zu zerstreuen.
»Es ist nichts,« dachte sie bei sich, »ich habe mich über das, was Ewan heute sagte, aufgeregt und bin nervös – das ist es.«
Während des Spielens hatte sie ihre Augen nicht auf die Tasten, sondern über ihre Schultern hinüber auf das unverhangene Fenster gerichtet. Plötzlich überkam sie eine Empfindung, die sie zusammenschaudern ließ. Es war ihr, als ob von draußen ein paar Augen, ungesehen von ihr, mit unverwandtem Blick auf sie gerichtet waren.
Das Blut stieg ihr zu Kopf, ihr schwindelte, sie hielt mit Spielen inne und griff mit einer Hand nach dem Lichtende auf dem Klavier. Dann wieder hörte sie sich von derselben tiefen, bebenden Stimme beim Namen gerufen – »Mona! Mona!«
Schwach und fast taumelnd erhob sie sich und ging noch einmal ins Schlafzimmer. Und wie vorher lag das Kind in unruhigem Schlaf. Es kam ihr vor, als ob die Luft ihr den Atem benähme, und als nun gar plötzlich ein nicht zu verkennendes Geräusch an ihr Ohr schlug, wollten ihre Füße sie kaum tragen.
Das Fenster ihres Wohnzimmers wurde von draußen geöffnet, und als sie genügend Mut gefaßt hatte, um nach demselben zurückzukehren, sah sie Dan Mylrea zum Fenster hereinsteigen.
»Dan!« rief sie aus.
»Mona!«
»Hast du mich gerufen?«
»Wann?«
»Eben – vor ganz kurzer Zeit?«
»Nein.«
Ein Schauder durchlief Dans ganzen Körper. Mona bemerkte es, und eine dumpfe, noch nicht in Gedankenform gekleidete Vorahnung irgend eines Unglücks bemächtigte sich ihrer.
»Wo ist Ewan?« fragte sie.
Dan versuchte ihrem Blick auszuweichen. »Weshalb fragst du nach ihm?« sagte er mit stockender Stimme.
»Wo ist er?« fragte sie noch einmal.
Es drehte sich alles mit ihm im Kreise herum, und er sucht an dem Sofa Halt. Um diese an ihn gerichtete Frage zu beantworten, war er ja hergekommen, seine Zunge jedoch schien ihm am Gaumen zu kleben.
Sehr bleich und beinahe erstarrt vor einer großen empfundenen aber nicht verstandenen Furcht waren Monas Augen, wie Dan gleich einem trunkenen Menschen taumelte, auf ihn gerichtet.
»Er hat mich drei Male gerufen. Wo ist er? Er hätte heute abend hier sein sollen,« sagte sie.
»Ewan wird heute abend nicht kommen,« antwortete Dan kaum hörbar; »nicht heute abend, Mona, noch morgen – noch je, – nein, Ewan wird nie wiederkommen.«
In ihrer entsetzlichen Vorahnung begriff sie die Bedeutung seiner Worte sofort, und fast ehe er weitersprechen konnte, entfuhr ein Schrei ihren Lippen.
»Ewan ist tot – er ist tot; Mona, unser Ewan ist tot,« fügte Dan zögernd hinzu.
Sie fiel auf das Sofa nieder und rief in dem Übermaß ihrer ersten Verzweiflung: »Ewan, Ewan, es ist unmöglich, daß ich ihn nie wiedersehen soll!« und dann begann sie zu schluchzen. Die ganze Zeit über stand Dan über sie gebeugt, sich schwer stützend, um nur auf den Füßen stehen zu können, sichtbar zitternd und mit einem Blick unsäglicher Verzweiflung sie betrachtend, als ob er nicht Kraft genug besäße, seine Augen von ihr zu wenden.
»Ja, ja, unser Ewan ist tot,« wiederholte er in einem ihm aus dem Herzen kommenden Flüsterton. »Der treueste Freund, der zärtlichste Bruder, die reinste Seele, der Teuerste, Bravste, Edelste, Aufrichtigste. – O Gott! O Gott! tot, tot! Schlimmer, tausendmal schlimmer – Mona, er ist ermordet.«
Bei diesen Worten richtete sie sich mit einem verstörten Blick in den Augen auf.
»Ermordet? Nein, das ist unmöglich. Er war von allen geliebt. Es gibt keinen Menschen, der ihn töten würde – es gibt keinen Menschen mit einem so schlechten Herzen auf der ganzen Welt.«
»Ja, Mona, das gibt es doch,« sagte er, »es gibt einen Menschen mit einem so schlechten Herzen.«
»Wer ist es?«
»Wer? Er ist das niederträchtigste Geschöpf auf Gottes Erde. O Gott im Himmel! weshalb ward er überhaupt geboren?«
»Wer ist es?«
Er senkte, vor ihr stehend, das Haupt, und dicke Schweißtropfen fielen ihm von der Stirne.
»Verflucht sei die Stunde, da der Mensch geboren ward,« sagte er in einem schauerlichen Flüsterton.
Darauf überkam Mona eine stürmische Verzweiflung, und ihre Tränen wollten nicht versiegen. In der Bitterkeit ihres Herzens rief sie –
»Ja, verflucht, fürwahr, verflucht für immer. Dan, Dan, du mußt ihn töten, du mußt den Menschen töten.«
Allein der Laut nur dieser ihren eigenen Lippen entfahrenden Worte vertrieb sofort alle Rachegedanken in ihr, und sie rief: »Nein, nein, das meine ich nicht.« Und dann kniete sie um Vergebung für ihre Gedanken zu erflehen nieder und betete: »Vater, vergib mir. Ich wußte nicht, was ich sagte. Aber Ewan ist tot! O, Vater, unser teurer Ewan ist ermordet. Irgend ein böser Mensch hat ihn getötet. Die Rache ist dein. Ja, ich weiß das. Vergib mir, Vater. Aber ich kann es nicht fassen, daß Ewan für immer uns verlassen hat und jene elende Seele weiterleben soll. Die Rache ist dein; aber o Vater, laß deine Rache ihn treffen. Wenn es dein Wille ist, laß ihn deine Hand fühlen. Verfolge ihn, Vater, verfolge ihn mit deiner Rache –«
Sie hatte sich mit weit offenen, emporgerichteten Augen und über dem Kopf gefalteten, zitternden Händen neben dem Sofa auf die Knie geworfen. Dan stand an Monas Seite, und während ihres Gebetes schien sich die Brust ihm zuzuschnüren und sein Atem ihn zu ersticken, und ein tiefes Stöhnen entrang sich seinem Herzen. Endlich ergriff er sie bei den Schultern und rief, sie unterbrechend: »Mona, Mona, was sprichst du da – was sprichst du da! Halt ein, halt ein!«
[Sie stand auf. »Ich habe unrecht getan,« sagte sie ruhiger. »Er steht in Gottes Hand, seine Strafe liegt in Gottes Hand.«]
Darauf sagte Dan mit einer herzbrechenden Stimme –
»Mona, es war nicht seine Absicht, Ewan zu töten – sie rangen miteinander – es geschah alles in der Heißblütigkeit.«
Wieder versuchte er, ihrem Blick auszuweichen, und wieder beobachtete sie bleich und regungslos sein Gesicht.
»Wer ist es?« fragte sie in entsetzlicher Ruhe.
»Mona, kehre dich ab, und dann will ich es dir sagen,« antwortete er.
Darauf schien alles vor ihren Augen zu schwimmen, und ihre bleichen Lippen wurden aschfarbig.
»Weißt du es nicht?« fragte er flüsternd.
Sie wandte sich nicht ab, und er war genötigt, ihr in das Gesicht zu sehen. Seine ausdruckslosen Augen waren auf sie gerichtet.
»Weißt du es nicht?« flüsterte er noch einmal und fügte dann in kaum hörbarer Stimme hinzu: »Ich war es, Mona.«
Bei diesen Worten schien sie vor Entsetzen zu erstarren. Ihre Züge veränderten sich zur Unkenntlichkeit. Sie wich vor ihm zurück und streckte wie abwehrend ihre zitternden Hände gegen ihn aus.
»O Grauen! Berühre mich nicht!« rief sie leise mit versagendem Atem.
»Schone mich nicht, Mona,« sagte er tief aufschluchzend. »Schone mich nicht. Du tust recht, mich nicht zu schonen. Ich habe meine Hände mit deinem Blut befleckt.«
Darauf sank sie, ihren Kopf mit beiden Händen haltend, auf das Sofa nieder, während er neben ihr stehend, ihr alles berichtete – die ganze bittere, schreckliche Wahrheit – und allmählich nahm sie die verwirrte Erzählung in sich auf, durchschaute die blinde Leidenschaft und Qual, die Ewan und Dan zu einem solchen Ende gebracht hatten, und erkannte ihren eigenen unbewußten Anteil an demselben.
Und er seinerseits erkannte die Folgen seines eigenwilligen Zornes, und wie jämmerlich die Ursache desselben gewesen war, so geringfügig und so abgeschmackt, wie solcherlei Ursachen meistens sind. Und nun saßen diese beiden, die auf der Flut des Lebens Schiffbruch erlitten hatten, und weinten miteinander und fragten sich, welche Qual wohl in der Hölle unserer noch warten könne, wenn die irdische Welt dem Menschen in seiner Blindheit schon so viel derselben zu durchkosten gäbe!
Dan verfluchte sich und sagte –
»O, welch ein Wahnsinn allein schon der bloße Gedanke, daß der Überlebende je wieder eine glückliche Stunde mit dir verleben könne, Mona. Ja, selbst wenn das Verbrechen verborgen bliebe, es würde doch jede Stunde an ihm zehren und ihn vernichten. Und hier stehe ich nun nach kaum vollbrachter Tat, mit meiner Sündenlast, die überschwer für mich zu tragen ist, doch vor dir. Ich bin ein Feigling – ja, ich bin ein Feigling. Du wirst dich von mir lossagen, Mona, und dann werde ich ganz verlassen sein.«
Sie blickte ihn unaussprechlich mitleidsvoll an, und das Herz schwoll ihr, während sie seiner verzweifelten Stimme lauschte, in der Brust.
»O, Himmel! und ich bat Gott, dich zu verfluchen,« sagte sie. »O, welch eine sündhafte Bitte das war! Wird Gott sie erhören? Barmherziger Vater, erhöre sie nicht. Ich wußte nicht, was ich sagte. Ich bin ein blindes, unwissendes Geschöpf, du aber siehst und weißt das am besten. Bemitleide ihn und vergib ihm. O, nein, der himmlische Vater wird mein gottloses Gebet nicht erhören.«
Und so redete und betete sie in krampfhaften Ausbrüchen. Es war, als ob ein Sturmwind ihr allen Seelenhalt geraubt habe. Dan hörte ihr zu und beobachtete sie nassen Blickes.
»Und du betest für mich, Mona?« sagte er.
»Wer, wenn ich es nicht tue, soll sonst für dich beten? In der ganzen Welt wird es keinen Menschen geben, der ein gutes Wort für dich einlegt, wenn ich übel von dir rede. O, Dan, es wird bekannt werden, und jeder einzelne Mensch wird wider dich sein.«
»Und kannst du wirklich dem Mörder deines Bruders einen freundlichen Gedanken schenken?«
»Du bist in einer solchen Trübsal; du bist so elend.«
Darauf erschütterte ein heftiges Beben Dans große Gestalt, und in unsäglichem Schmerz rief er aus – »Erbarmen, Erbarmen, hab' Erbarmen! Was habe ich verloren? Welch eine Liebe habe ich verloren?«
Bei diesen Worten hielt Mona mit Weinen inne; sie blickte durch ihre noch feuchten [Wimpern] zu Dan auf und sagte in einem veränderten Ton –
»Dan, halte mich nicht für unweiblich. Wenn du den rechten Weg gewandelt wärst, und die Erwartungen, die ich auf dich gesetzt hatte, erfüllt hättest, wenn du der große und gute Mensch geworden wärest, wie ich es so sehnlichst erhofft hatte, dann würde ich, wie sehr es mich auch zu dir getrieben hätte, eher gestorben sein, als dir mein Geheimnis verraten haben. Nun aber, nun, da alles dieses sich nicht erfüllt hat, nun, da es eine vernichtete Hoffnung ist, nun, da du nach Gottes Willen vor den Augen der ganzen Welt geschändet werden wirst – o, halte mich nicht für unweiblich, Dan, wenn ich dir sage, daß ich dich liebe, und daß ich dich immer geliebt habe.«
»Mona!« rief er mit leiser leidenschaftlicher Stimme, sich ihr mit ausgestreckten Händen um einen Schritt nähernd. Ihr Gesichtsausdruck war sprechender als Worte.
»Ja; und daß, wo immer du hingehst, ich auch hingehen muß, und wenn es auch in Schande und Schmach ist.«
Sie hatte sich liebend, verlangend, mit hochatmender Brust ihm zugekehrt. Mit einem tiefen Schrei umfing er sie mit den Armen, und die Welt der Qual und Sorge war auf einen Augenblick vergessen.
Zu schnell jedoch kehrte sie in ihrer ganzen Bitterkeit zu beiden zurück, und heftig schaudernd schob Dan das Mädchen von sich.
»Unsere Hände vereinigen sich über einem Grabe, Mona. Zu spät sind wir zur Erkenntnis unserer Liebe gelangt. Wir sind Seefahrer, die nur eine Kabellänge vom Lande entfernt, durch eine grausame, nie zu überschreitende See von ihm getrennt sind. Angesichts aller Hoffnung sind wir hoffnungslos. Unsere Liebe hat sich uns vergebens geoffenbart. Sie ist eine Vision dessen, was in den nun für immer entschwundenen Tagen hätte sein können. Unsere Hände können sich nie ineinander legen, denn, o Gott! eine kalte Hand trennt uns und liegt zwischen den unseren.«
Darauf begann Mona von neuem zu weinen, plötzlich jedoch erhob sie sich wie von einer neuen Idee durchdrungen.
»Sie werden dich ergreifen,« sagte sie, »wie konnte ich es nur so lange vergessen? Du mußt von der Insel fliehen. Du mußt heute abend fort. Morgen wird alles entdeckt sein.«
»Ich werde die Insel nicht verlassen,« sagte Dan fest entschlossen. »Kannst du mich von dir schicken?« fragte er mit einem flehenden Blick. »Ja, du tust wohl daran, mich fortzuschicken.«
»Mein Geliebter, ich schicke dich nicht von mir. Wenn es auf mich ankäme, würde ich dich für immer hier behalten. Sie werden dich aber ergreifen. Schnell, die Welt ist weit!«
»Es gibt keine Welt für mich, Mona, als hier. Dich jetzt verlassen hieße, dich für immer verlassen, und lieber als einer solchen Verbannung entgegensehen, würde ich durch eigene Hand sterben.«
»Nein, nein, nicht das, niemals, niemals das. Das würde deine Seele gefährden, und dann würden wir für immer getrennt sein.«
»Das sind wir schon, Mona,« sagte Dan feierlich. »Wir sind für immer getrennt – wie die Seligen von den Verdammten getrennt sind.«
»Sage das nicht – bitte, sage das nicht!«
»Ja, Mona,« sagte er mit entsetzlicher Ruhe, »wir haben mein Verbrechen in seinem Verhältnis gegen Ewan, gegen dich, gegen mich selbst, gegen die Welt und ihre Gesetze betrachtet. Es ist aber ebensowohl ein Verbrechen gegen Gott, und jedenfalls ist es eine unverzeihliche Sünde.«
»Sage das nicht, Dan. Es ist ein großer Hoffnungsanker dabei.«
»Welches wäre der, Mona?«
»Ewan ist nun bei Gott. Diese selbe Minute, während wir hier zusammenstehen, blickt Ewan in Gottes Angesicht.«
»Ah!«
Dan sank vor ehrfurchtsvoller Scheu bei diesem Gedanken auf die Knie, nahm seine Mütze, die er bis dahin aufbehalten hatte, vom Kopf und beugte das Haupt.
»Ja, er starb im Zorn und im Streit,« sagte Mona; »aber Gott ist barmherzig. Er kennt die Schwäche seiner Geschöpfe und hat Mitleid mit ihnen. Ja, unser teurer Ewan ist bei Gott, er weiß nun, wie du leidest, mein armer Dan; und er erkennt seine eigene Schuld und bittet für dich.«
»Nein, nein, Mona; es war alles mein Tun. Er würde nicht gerungen, er würde den letzten Moment noch Frieden geschlossen haben, aber ich trieb ihn dazu. ›Ich kann nicht mit dir ringen, Dan,‹ sagte er. Ich sehe ihn vor mir, wie er während des Sonnenunterganges diese Worte zu mir sprach. Nein, es war kein Ringen, es war Mord, und Gott wird mich dafür bestrafen, mein armes Mädchen. Der Tod ist meine gerechte Strafe – ewiger Tod.«
»Warte, ich weiß was wir tun müssen.«
»Was, Mona?«
»Du mußt Buße tun.«
»Wie?«
»Du mußt dich dem Gesetz überliefern und dich seiner Strafe unterziehen. Dadurch wirst du Erlösung und Vergebung bei Gott finden.«
Er hörte ihr zu und sagte –
»Und das also soll das Ende unserer in der Stunde des Todes geborenen Liebe sein. Mona, selbst du willst mich dem Gesetz überliefern?«
»Sage das nicht. Du wirst durch Buße erlöst werden. Daß Ewan getötet wurde, war schon Unglück genug, aber daß du unter Gottes Zorn stehen solltest, ist schlimmer, als wenn wir alle, alle ermordet wären.«
»Dann müssen wir uns also Lebewohl sagen. Die Strafe auf mein Verbrechen ist der Tod.«
»Nein, nein; nicht das!«
»Ich muß sterben, Mona. Dies also ist nun unser letztes Lebewohl.«
»Und selbst wenn es das wäre, so ist es das beste. Du mußt dich mit Gott versöhnen.«
»Und du, meine letzte Rettung, selbst du schickst mich in den Tod? Nun, es ist recht, es ist gerecht, es ist gut so. Lebewohl, mein armes Mädchen; dies ist ein trauriges Scheiden.«
»Willst du mich nie vergessen, Mona?«
»Dich vergessen! Wenn meine Tränen um Ewan lange getrocknet sind, werde ich dich noch beweinen.«
In diesem Moment ertönte ein schwaches Wimmern.
»Still!« sagte Mona, und erhob ihre Hand.
»Es ist das Kind,« fügte sie hinzu. »Komm, sieh es dir an.«
Sie wandte sich um und schritt dem Schlafzimmer zu. Dan folgte ihr gesenkten Hauptes. Die Kleine war wieder unruhig geworden, nestelte sich nun jedoch mit einem langen Atemzuge zum neuen, süßen Schlummer zurecht.
Beim Anblick des Kindes durchfuhr ein abermaliger Schauer Dans Körper. »Mona, Mona, weshalb mußtest du mich hier hereinbringen?« sagte er.
Die Größe seines Verbrechens drängte sich ihm, wie er auf des Kindes unschuldiges Gesicht herabblickte, mit schärferem Entsetzen auf. Es durchfuhr ihn der Gedanke, daß er diesem unschuldigen Kinde den Vater geraubt habe, und daß die Jahre, da es seinen Schutz entbehren und seinen Verlust erkennen würde, noch vor ihm lägen.
Er fiel neben der Wiege auf die Knie, und seine Tränen flossen auf dieselbe hinab.
Mona hatte das Licht vom Tisch genommen und hielt es über den knienden Mann und über das schlafende Kind.
Es war die Verwirklichung der Vision der blinden Frau.
Dan erhob sich als ein gestärkter Mann.
»Mona,« sagte er entschlossen, »du hast recht. Diese Sünde muß gesühnt werden.«
Sie hatte das Licht wieder niedergesetzt und versuchte, sich einer seiner Hände zu bemächtigen.
Er aber sagte: »Berühre mich nicht – berühre mich nicht.«
Dann ging er ins andere Zimmer zurück und öffnete das Fenster. Sein Gesicht war der fernen See zugewandt, deren leisen Klageton die dunkle Nacht hinauftrug.
»Dan,« murmelte sie, »glaubst du, daß wir uns je wiedersehen werden?«
»Vielleicht sprechen wir zum letzten Male miteinander, Mona,« antwortete er.
»O, es bricht mir das Herz!« rief sie. »Dan,« flüsterte sie darauf von neuem und versuchte noch einmal, seine Hand zu erfassen.
»Berühre mich nicht. Nicht bis später – nicht bis – nicht bis zu der Stunde.«
Ihre Augen trafen sich. Ein verlangender, sehnsüchtiger Blick antwortete dem wilden Feuer der seinen. Ihr war zumute, als ob dies das allerletzte sei, das sie je in dieser trüben Welt von Dan sehen würde. Er liebte sie mit seinem ganzen gebrochenen, blutenden Herzen. Er hatte ihrethalben gesündigt. Sie erfaßte seine beiden Hände mit einem leidenschaftlichen Griff. Ihre Lippen bebten und das tapfere, furchtlose, reine Mädchen drückte ihre Lippen auf die seinen.
Diese Berührung durchzuckte Dan wie Feuer. Mit einem leidenschaftlichen Schrei schlang er seine Arme um sie. Einen Moment lang lag ihr Haupt an seiner Brust.
»Nun gehe,« flüsterte sie und befreite sich aus seiner Umarmung. Dan riß sich mit brennendem Herzen und Hirn los. Würden sie je sich wiedersehen? Ja. Während eines furchtbaren Augenblicks würden sie sich noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Die Nacht war düster, Dan jedoch bemerkte es nicht, die Nacht in seinem Innern war noch düsterer. Er ging nach der Bucht hinab. Morgen wollte er sich dem Deemster überantworten, die heutige Nacht aber sollte ihm selbst, ihm selbst und der Leiche angehören.
Auf seinem Wege mußte er an der Kirche vorüber. Eine lärmende Menge trat gerade aus der Türe und auf den Kirchhof hinaus. Dort verteilte sie sich in kleinere Gruppen, die eine nach der andern sich ihre Laternen anzündeten, lachten und aus Flaschen, die sie in ihren Taschen mitgebracht hatten, sich gegenseitig zutranken.
Es war das Ende des Oiel Verree.