Ida Gräfin Hahn-Hahn
Faustine
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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X

Vierundzwanzig Stunden nach ihrer Ankunft in Dresden fuhr Andlau seiner Heimat zu. Beim Abschied sprach er zu Faustinen, nachdem er alle Ausdrücke der Liebe und Zärtlichkeit erschöpft hatte:

»Nun zum Schluß das Wichtigste: Ini, vergiß mich nicht!«

»Das ist ein abgebrauchter Scherz, Anastas!«

»Kein Scherz, Ini! Du weißt ja noch gar nicht, was Du alles vergessen kannst.«

»O, alles, Herz, alles, nur aber Dich nicht!«

Sie umfaßte ihn mit stürmischem Schmerz, und als er gegangen, und die Tür hinter ihm zugefallen war, da meinte sie, ihr Schutzgeist habe sie verlassen, da sank sie auf die Knie und rief:

»Er ist fort! Er ist fort! O mein Gott, bleib Du nur bei mir!«

Sie fühlte sich unaussprechlich einsam, obgleich ihre Freunde und Bekannte sie sogleich aufsuchten, sie einluden, auf jede Weise sie zu zerstreuen sich bemühten.

»Andlau ist fort, ich langweile mich überall,« sagte sie ebenso aufrichtig als unverbindlich zu Frau von Eilau, mit der sie gut befreundet war.

»Eben darum werden Sie sich bei mir nicht mehr langweilen als hier in Ihrer Einsamkeit,« entgegnete diese liebreich. »Sie werden ganz schwermütig zwischen Ihren vier Wänden. Unter Menschen müssen Sie sich ein wenig Gewalt antun; und Selbstüberwindung ist für uns alle eine gute Schule.«

»Meinen Sie? Nun, so will ich heute abend zu Ihnen kommen, wenn ich es über mich gewinne. Es werden doch nicht viel Leute bei Ihnen sein?«

»Das weiß ich nicht! Da ich nie jemanden einlade, können mich ebensogut zwanzig Personen am Abend besuchen als zwei. Aber seit wann sind Sie denn menschenscheu?« fügte sie lächelnd hinzu.

»Seit Andlau fort ist,« erwiderte Faustine melancholisch. Sie hatte keinen andern Gedanken.

Mitten im Salon der Frau von Eilau stand ein großer runder Tisch und Lehnsessel rings umher, worauf die Damen saßen, stickten, plauderten. Die Herren schoben Stühle und Hocker dazwischen; Worte weniger. Rechts daneben stand Frau von Eilaus Teetisch, woran sie so saß, daß sie zugleich das Teegeschäft besorgen und an den Gesprächen des runden Tisches teilnehmen konnte. Links war eine Schachpartie im Gange. Dies alles in der Mitte des Zimmers, damit jede einzelne Person zugänglich und uneingesperrt sei. Hinten an der Sofawand ward eine solide Bostonpartie gemacht, und die Spielenden bekümmerten sich nicht um das Vordertreffen.

Frau von Eilau sagte zu Feldern:

»Es ist über neun Uhr. Die Obernau kommt schwerlich mehr. Gehen Sie doch morgen früh gleich zu ihr und machen Sie ihr in meinem Namen ernste Vorwürfe!«

»Aber sie mag krank sein,« meinte Feldern.

»Keineswegs! Nur verdrießlich, nur eigensinnig!«

»Auf jeden Fall gehe ich morgen früh zu ihr und hätte gar nicht so lange gezögert, wenn ich nicht diese letzten acht Tage draußen gewesen und erst vor einigen Stunden heimgekehrt wäre.«

»Und wie geht es Kunigunden jetzt?«

»Besser! Sie erholt sich langsam.«

»Bleibt es bei dem festgesetzten Vermählungstage?«

»Ich darf es nicht hoffen, kaum wünschen! Sie ist von beängstigender Nervenschwäche.«

»Das schöne kräftige Mädchen! Welch ein Jammer! Wie kann denn eine armselige Erkältung solche Umwandlung bewerkstelligen?«

»Die Ärzte wissen keinen andern Grund als Erkältung bei der Weinlese.«

»Die Schröder-Devrient verliert ganz ihre Stimme,« hieß es am runden Tisch. »Sie ist auch eiskalt als Norma aufgenommen worden.«

»Schade um sie! Sie war eine pompöse Norma!«

»Diese Gleichgültigkeit wird ihr sehr wehe tun! Wer auf den Triumph des Augenblicks angewiesen ist, will in jedem Augenblick Triumphe.«

»Natürlich! Wie sollen diese Künstler denn wissen, ob ihnen Auffassung und Darstellung gelungen, wenn das Publikum kein Zeichen des Beifalls gibt? Die Malibran, von der man doch hätte glauben können, daß sie im Voraus des tobendsten Beifalls gewiß sei, hörte und sah nichts vor Befangenheit, bis jubelnder Applaus ihre erste Szene belohnt hatte. Dann war sie sicher.«

»Gott, wie traurig, trotz einem weltberühmten Talent so abhängig von der Laune des Publikums zu sein! Jeder andere Künstler darf an die Nachwelt appellieren; der Schauspieler hat es nur mit seinen Zeitgenossen zu tun. Wer ihn nicht sah, nicht hörte, weiß nichts von ihm.«

Die Tür öffnete sich. Faustine trat ein. Frau von Eilau rief:

»Je später der Abend, je schöner die Gäste!« Sie ging ihr entgegen und umarmte sie herzlich.

Faustine legte beide Hände auf ihre Schultern, und sagte ebenso herzlich:

»Liebe, Sie sind eine so kluge Frau! Sprechen Sie doch, bitte, mit Ihren eigenen Gedanken und nicht mit denen eines ganzen Volks! – Bon soir! Wie gehts? Bin entzückt, Sie wiederzusehen!« wurde mit den Übrigen gewechselt.

Als Faustine eintrat, schlug der Herr, der ganz mit der Schachpartie und mit einer schönen Gegnerin beschäftigt war, die Augen auf und erkannte sie. Es war Graf Mengen. »Sie sieht aber doch aus wie ein schönes Marmorbild!« dachte er, den ersten Eindruck festhaltend. Faustine war wieder ganz weiß gekleidet, und dann stand sie so graziös! Schön tanzen können manche Frauen; schön gehen, wenige; schön stehen, die allerwenigsten. Woran es liegt, wer weiß das? Vielleicht an der Ungewohnheit, vielleicht an zu engen Schuhen, vielleicht an einem Mangel an Selbständigkeit. Die meisten wackeln. Ruhig zu stehen, ist die Hauptsache beim Stehen; aber darum darf es doch nicht schwerfällig, nicht bewegungslos, nicht plump, nicht niet- und nagelfest aussehen. Es muß eine Ruhepause zwischen der vergangenen und der kommenden Bewegung, es muß verschwebend, nicht wurzelfassend im Erdboden, sein. Eine Frau, die schön steht, gleicht einer Königin, um die sich Dienerinnen bewegen wie Planeten um die Sonne. So stand Faustine. Sie hatte sich spät und schwer entschlossen zu gehen. Da sie aber einmal in der Gesellschaft war, so war sie nach ihrer Art munter und siegesbewußt; nur so zeigte sie sich den Gleichgültigen. Konnte sie das nicht über sich gewinnen, so blieb sie daheim.

Feldern sagte: »Wie freue ich mich, daß Sie wieder bei uns sind, anbetungswürdige Gräfin.«

»Grüß Sie Gott, Herr von Feldern!« erwiderte Faustine. »Sie hätten aber doch wohl sagen können: Angebetete Gräfin! – da sogar Junker Tobias sagt: Ich bin auch einmal angebetet worden.«

Mengen horchte hoch auf. »Aber sie scherzt ja!« sprach er zu sich selbst. »So schön und so lebhaft! Das ist recht selten. Schönheiten begnügen sich gewöhnlich damit, schön zu sein. Sie wollen sich nicht selbst, andere sollen sie unterhalten! Das macht sie kläglich langweilig.«

Zu diesen hochverräterischen Gesinnungen gegen die Schönheit veranlaßte ihn seine Gegnerin im Schach, Lady Geraldin, die das non plus ultra von Liebenswürdigkeit getan zu haben wähnte dadurch, daß sie sich zeigte und sich anblicken ließ.

Faustine setzte sich zu Frau von Eilau. Die Herren und Damen der Tafelrunde verbargen sie fast ganz vor Mengens Blick, der nur dann und wann ihren Kopf wahrnahm, wenn ein anderer sich rechts oder links bog. Er hätte für sein Leben gern diesen Kopf ununterbrochen betrachtet, studiert. Man konnte ihn studieren wegen der interessanten Mischungen des Ausdrucks. Er schob seinen Stuhl bald so, bald anders, aber es half ihm zu nichts als daß Lady Geraldin ihn fragend ansah und ihm einen seiner Springer nahm. Er mußte sich gedulden. Dieser Kopf, der über einer mit Schwan besetzten Mantille schwebte, wie der Mond über lichtem Gewölk, und der bald auftauchte, bald hinter Wolken verschwand, hatte etwas seltsam Reizendes; er kam immer mit einem neuen Ausdruck zum Vorschein. Faustinens Augen faßten ihren Gegenstand fest an, wie mit einer sicheren Hand. Sie forschten nicht; sie fragten kaum; sie wußten. Sie verhehlten und überschleierten auch nichts; sie waren wolkenlos und vertrauenerweckend wie der Himmel; unbekümmert, als gäbe es nichts Häßliches auf der Welt zu sehen, und rein, als wären sie nie der Gemeinheit begegnet. »Die Augen eines Engels!« dachte Mengen. Um ihren Mund gaukelten Mutwille, Schalheit, Stolz, Bewußtsein der Überlegenheit, Spott. »Und der Mund eines Menschen!« fügte er hinzu. Aber das warme Kolorit, das bewegliche Mienenspiel, die weichen Umrisse verschmolzen den Engel und den Menschen zu einem äußerst lieblichen Weibe. Und gerade diese Mischung ist so anziehend. Das allgemein Menschliche macht, daß solch Gesicht uns gleich ganz vertraut anblickt und uns gewinnt, indem es uns glauben macht, wir hätten einen lieben Freund, der so aussieht. Und wenn wir es genauer beobachten, so wird es durch das Charakteristische dermaßen individualisiert, daß wir nach zehn Minuten die Überzeugung gewinnen, es sei lediglich für diese Person geschaffen, vielleicht gar, sie selbst habe es sich geschaffen, was im Grunde jeder Mensch tut, der zum Bewußtsein gekommen. Die Richtung der Seele drückt dem Körper ihren Stempel auf.

Lady Geraldin hatte das Spiel gewonnen. Mario stand auf; da sagte sie gleichmütig:

»Sie haben mich absichtlich gewinnen lassen; das mag ich nicht. Noch eine Partie!«

Mit freundlichem Grimm gehorchte er und beschloß, so gut zu spielen, daß sie in fünf Minuten matt sein sollte. Allein sie war ihm gewachsen; es ging nicht so rasch. Am runden Tische wurde lebhaft geredet.

»So heiratet der junge reiche gescheite Mann, der eine der ersten Partien in Europa hätte machen können, diese intrigante Person, die wenigstens zehn Jahre älter ist als er,« beschloß jemand eine Tagesgeschichte.

»Desto früher wird er ihrer überdrüssig werden.«

»Und auf ein zärtliches Glück ist es wohl nicht von ihrer Seite abgesehen! Sie will einen glänzenden Namen, Vermögen, das selbst im Fall einer Scheidung ihr ausgemacht ist . . .«

»Bravo! Im Ehevertrag die Scheidung zu bedenken, das gefällt mir! Das ist eine Vorsicht im grandiosen Stil.«

»Ich nenne das gemein,« sprach Faustine ruhig.

»Eltern können aber wirklich kaum mehr ohne jede mögliche hypothekarische Sicherheit ihre Töchter einem Manne anvertrauen. Nach zwei, drei Jahren ist die Sache zu Ende wie ein Schauspiel und die ganze Zukunft eines Mädchens zerstört.«

»Ich weiß wohl!« entgegnete sie. »Aber ich finde es entadelnd für ein Mädchen,. wie ein Ballen Ware versichert hin und her spediert zu werden. Kaufmännisch gemein, gehört diese Einrichtung ganz einer Zeit an, die gleich der Schlange in der Edda an den Wurzeln des Baumes nagt, der den Himmel und die Götter trägt. Das Gefühl wird an der Wurzel untergraben. Ein Mädchen soll die Zuversicht haben, daß weder Himmel noch Hölle sie von ihrem künftigen Gatten trennen kann. Hat sie die nicht, so heirate sie ihn nicht.«

»Aber sie hat sie oft und verliert sie nur später.«

»Ich meine bloß, daß ich einen Kaufmann nicht achte, der auf seinen Bankerott spekuliert, um reicher zu werden, als er vor ihm war.«

»Verteidigen Sie denn Ihre arme Kusine gar nicht?« wurde ein junger Mann gefragt.

»Nach zehn Jahren werde ich es tun! Solange brauche ich, um die Wendung der Dinge zu beobachten! In zehn Jahren müssen sie sich auf eine oder die andre Seite geneigt haben, und dann kann man etwas anderes vorbringen als Mutmaßungen und Voraussetzungen.«

»Ich finde auch wirklich die Zumutung etwas stark,« sagte Faustine lachend, »daß wir alle Dummheiten und Torheiten unserer Verwandten vertreten und verteidigen sollen. Ich danke Gott, wenn es mir bei meinen eigenen gelingt.«

»Wie können Sie sich selbst so verleumden!« rief Feldern.

»Keine Verleumdung!« antwortete sie. »Aber das Wort Dummheiten ist Ihnen zu kräftig, nicht war? Also will ich lieber sagen. Meine allerliebsten kleinen Torheiten machen mir so viel zu schaffen, daß ich nicht Zeit habe, die anderer Menschen wahrzunehmen. Allerliebste kleine Torheiten, bester Feldern, können Sie nun doch einmal Ihrem Schützling, dem Menschengeschlechte, nicht wegleugnen, so viel Mühe sich auch Ihr gutes Herz darum gibt.«

»Es ist wirklich wahr, der Herzog von *** hat auf einem Maskenball in Pilgertracht dem Herrn *** ein bayrisches Adelsdiplom überreicht, selbst überreicht, en masque! Ist das nicht himmlisch?« sagte einer der Herren.

»Ein Skandal ist es! Eine Entwürdigung! Nicht himmlisch, sondern himmelschreiend!« rief man durcheinander. »Der Adel sollte beim Bundestage einkommen gegen den Mißbrauch!«

»Den die Fürsten treiben! Wir sind keine Reichsritterschaft mehr und müssen uns alles gefallen lassen, vom Plebs des Volkes und der Fürsten.«

»Aber,« sagte Faustine, »klingt Herr von Fischer von Schmerlenbach und Herr von Schwarz von Mohrenland nicht so durch und durch unecht, daß es keiner Seele einfallen wird, sie in einer alten Chronik oder einem Turnierbuch zu suchen? Und das ist ja der alleinige Spaß, den wir noch von unseren Namen haben.«

»Ich verlange keinen Spaß von meinem Namen, gnädigste Gräfin, sondern Ehre.«

»Das weiß ich, Graf Kirchberg,« antwortete sie freundlich. »Und weil diese lediglich von unserer Persönlichkeit abhängt, so kann es uns völlig gleichgültig sein, ob der Herr Peter – Baron von Petershausen wird. Hutten und Berlichingen klingen doch anders, nicht bloß für unser Ohr, auch für das unserer Gegner und der Neulinge, und das eben, daß etwas Unfaßbares darin liegt, etwas Idealisches, tönender als der Geldbeutel, gewichtiger als Berge von Akten, zauberhafter als die schwarze Kunst der Industrie, – das ist mein Gaudium! Ich bitte um Verzeihung wegen dieses Studentenausdrucks, aber ich bleibe beim Gaudium! Die Leute zucken die Achsel über den leeren Schall des Wortes: Er ist adelig! Sie machen sich lustig über den Adel, sie suchen bald ihn mit Füßen zu treten, bald ihn zu überflügeln, sie bedrängen ihn, hier mit der öden Aufgeblasenheit des Reichtums, dort mit dem würdigen Bewußtsein des Verdienstes, und wenn ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, in die Reihen der gehöhnten Kaste einzutreten, so wischen sie den Plebejerschweiß von der Stirn, holen Atem, lassen sich nieder, kurz, sie zeigen, daß sie am Ziele sind. Meine lieben Freunde, ist denn das kein Gaudium für uns?«

»Man kann sich freilich über alles lustig machen,« sagte Kirchberg, »aber die Sache hat doch auch ihre sehr traurige Seite. Diese Leute drängen uns, wie der Kuckuck den Hänfling, aus dem Neste. Viehhändler, Fabrikanten, Bankiers kaufen uraltadelige Herrschaften. Der Erdboden wird der Aristokratie unterwühlt; sie steht nur noch auf einer dünnen Erdschicht. Man will ihr den leichtherzigen Übermut nicht vergeben! Als ob ein schwerfälliger besser wäre!«

»O der Übermut, der uns immer zum Mißbrauch der herrlichsten Gaben und Kräfte verlockt,« rief Faustine, »ist für Völker und Einzelwesen das, was ich die Erbsünde nenne.«

»Ach wie gut,« sagte eine Dame, »daß ich endlich einmal eine verständliche Erklärung von der Erbsünde bekomme! Bitte, gute Gräfin, können Sie mir nicht eben so kurz und faßlich erklären, was Sie unter der Sünde gegen den heiligen Geist verstehen?«

»Die Dummheit!« sagte Faustine.

»O!« rief die Dame bestürzt.

»Ja, die Dummheit, die sich gegen die bessere Erkenntnis sträubt.«

»Weil ihr die Einsicht fehlt.«

»Nein, weil es nicht in ihren Kram paßt. Die dümmsten Leute sind pfiffig und schlau, wenn es ihren Vorteil gilt, und nur dumm, wenn ihnen die Sache gleichgültig, aber stockdumm, wenn sie zu ihrem Nachteil ist. Was der Mensch nur ernstlich verstehen will, das versteht er auch.«


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