Ida Gräfin Hahn-Hahn
Faustine
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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IV

Oberwalldorf war in lebhafter Aufregung. Eine festliche Taufe und ein wochenlanger Besuch galten in dem häuslichen, geregelten Leben für merkwürdige Begebenheiten. Heute sollte Faustine eintreffen, morgen die Taufe sein. Adele, eine sehr hübsche, aber kugelrunde Frau, rollte sich mit unglaublicher Behendigkeit und unermüdlicher Geschäftigkeit durch das Haus, um ihre sämtlichen Anstalten und Einrichtungen zum neunundneunzigstenmal zu überschauen und zu besprechen, obgleich alle Dienstboten, gleich Kanonieren mit brennender Lunte bei ihren Kanonen, schußfertig und des Winkes gewärtig, bei ihren Geschäften waren. Hinter Adele her zog, wie eine wilde Jagd, ihre Kinderschar, bei der man die gute Manneszucht, die unter den Dienstboten herrschte, sehr vermißte. Ihre Kinder zum Gehorsam zu gewöhnen, dahin hatte es die gute Adele noch nicht gebracht. Sie waren ihr von Anfang an über den Kopf gewachsen, und diese Frau, ein Muster von Ordnung und Pünktlichkeit, duldete, daß ihre Kinder, wenn es ihnen gefiel, ihre Einrichtungen in die kläglichste Unordnung brachten. Wurde es einmal so arg, daß sie eine Züchtigung für unumgänglich hielt, da trat ihr Mann dazwischen und sagte, er könne nicht leiden, daß seine Kinder mißhandelt würden. Er selbst verlor die Geduld mit ihnen nur dann, wenn sie an seine Heiligtümer, Schreibtisch und Bücherschrank, ihre unheilige Hand legten.

»Kommt nur herunter, Kinder!« sagte Adele, in das für Faustine bestimmte Zimmer tretend, wo die Kleinen verweilten, während sie die Runde durch die übrigen Gastzimmer machte. Aber die Kinder hörten und sahen nicht; denn drei rollten sich in der vom Bett herabgerissenen grünseidnen Decke kopfüber, kopfunter auf der Erde herum; und die beiden älteren turnten mit der höchsten Behendigkeit vom Bett auf den Fußboden und so wieder hinauf. Alle fünf kreischten, glühten, schwitzten, zappelten, balgten sich nebenher, – kurz, es war ein außerordentlicher Spaß, an dem nur die Mutter keinen Geschmack fand. Es gab ihr einen Stich durchs Herz, die derben Lederschuhe auf dem feinen Bettbezug umhertrampeln zu sehen. Sie rief zur Ordnung. Doch leichter hätte sie eine Herde junger Füllen als ihre Kinder zusammentreiben können. Da nahm sie ihre Zuflucht zu einer Kriegslist und: »Ein Wagen! Die Tante kommt!« rufend, verließ sie schnell das Zimmer. Die Kinder stürmten augenblicks ihr nach und die Treppe hinab, und Adele hatte das Schlachtfeld gewonnen, auf dem nach zehn Minuten wieder die frühere Zierlichkeit herrschte.

Endlich kam Faustine. Sie hatte sich heute von Andlau getrennt, und das Gefühl, wie einsam sie ohne ihn auf der Welt stehe, beängstigte sie. In der Familie unsrer Geschwister wird es uns selten heimisch. Mag uns der Bruder oder die Schwester noch so lieb und wert und vertraut sein, die Schwägerin, der Schwager, deren Eltern, deren Vettern und Muhmen, sind eben fremdartige Elemente, die uns häufiger abstoßen als anziehen, vielleicht darum, weil man von uns begehrt, daß wir für Personen, die unserm Blute fremd und unsrer Neigung fern sind, Liebe und Freundschaft hegen sollen, welche Gefühle man doch gern nach eigener Wahl verteilt. Seit zwei Jahren war Faustine nicht hier gewesen. Als sie sich Oberwalldorf näherte, vergaß sie etwas ihre Traurigkeit. Es lag äußerst freundlich am Eingang eines Tals, durch das ein rascher Waldbach strömte, der weiter hinab sich in den Main ergoß und höher hinauf Schneide und Sägemühlen trieb. Die Wohnungen der Landleute lagen zwischen blühenden Gärten. Wiesen und Felder grünten üppig. Die Berge, die das Tal zwischen sich nahmen, waren mit gemischtem Laub- und Nadelholz bedeckt. Es war keine großartige, aber eine wohltuende liebliche Natur. Das Wohnhaus, das man aus Artigkeit »das Schloß« nannte, lag mitten im Besitztum, von Ulmen umgeben, altertümlich ohne Pracht, wodurch es ein etwas vernachlässigtes Ansehen hatte, was indessen nur Nebendinge betraf. Das Wappen über der Eingangstür war beschädigt; künstliche Steinmetzarbeit an einem Erker war ganz herabgefallen und die Urne versiegt, die ein verstümmelter Wassergott im Hof über einem Wasserbecken hielt. Alles Wesentliche war in Ordnung.

Die ganze Familie umringte lärmend Faustinens Wagen, und es gab ein Gejubel beim Empfang, daß niemand sein eigen Wort hören konnte. Ein paar Kinder stiegen in die Kutsche und befahlen dem Postillon, sie im Hof umher zu fahren, wozu er durchaus nicht geneigt war. Für seine abschlägige Antwort trösteten sie sich damit, daß sie abpacken halfen.

»Erinnern Sie sich noch meiner?« fragte endlich eine sanfte wohlklingende Stimme hinter Faustine.

»Recht gut!« wollte sie sagen und blickte sich nach dem Sprechenden um, doch erschrocken fuhr sie zurück, denn ein baumlanger, schwarzer Mann mit einem Bart wie ein Jupiter sah auf sie herab.

»Ich bin ja der kleine Klemens,« sagte der Riese, und ein mitleidiges Lächeln über Faustinens Schreck legte sich in seine freundlichen Augen.

»Find es begreiflich, daß Sie das Bürschchen nicht erkannt haben,« sagte Walldorf mit schallendem Gelächter. »Sieht ja aus wie der wilde Mann auf den Harzgulden, nur anständiger, versteht sich. War immer von tüchtigem Schrot und Korn. Was ein Haken werden will, krümmt sich bei Zeiten, – obgleich der Klemens nichts weniger als gekrümmt ist, sondern gerad und unverbogen an Leib und Seele.«

»Das freut mich,« sprach Faustine mit einem Lächeln, so lieblich, daß Klemens schon vor vier Jahren gemeint hatte, es gleiche dem Sonnenstrahl.

»Sie sehen aber ganz aus wie damals!« rief Klemens.

»Das freut mich auch,« entgegnete sie.

»Willst Du nicht irgend etwas genießen, liebe Ini?« fragte Adele. »Du mußt recht Hunger haben. Den ganzen Tag im Wagen gesessen, das macht müde, gelt?«

»Weder hungrig noch müde, Adele! Ich hatte ja nichts dabei zu tun.«

»Aber das Nachtessen will ich denn doch früher anordnen.«

»Nicht meinetwegen! Ich danke Dir tausendmal und werde Dir zehntausendmal danken, wenn Du nicht die geringsten Umstände für mich machst. Ich bin nicht blöde und werde fordern, was ich brauche, wenn Du es erlaubst.«

»Sehr verständig!« sagte Walldorf. »Ungezwungen müssen Wirt und Gäste sein. Ehe ich es vergesse: Welchen Namen wollen Sie denn Ihrem Patchen geben?«

»Welchen Sie wollen, bester Walldorf!«

»O nein! Die Gevattern legen dem Patchen einen ihrer Namen bei. So schickt es sich.«

»Ich glaubte, das sei altmodisch.«

»Kann wohl sein. Drum hab ich's gern!«

»Gefällt Ihnen denn Faust oder Faustin für Ihren Sohn?«

»Nein, ganz und gar nicht! Liebe nicht das Romantische, Abenteuerliche, wobei einem Räuber- und Gespenstergeschichten einfallen. Möchte Ihnen aber doch gern eine Ehre antun. Haben Sie keinen Lieblingsnamen?«

»O ja, Anastasius!«

»Gut! So soll der kleine Mann Anastasius genannt werden. Wird aber schlecht fahren, das arme Bübchen!«

»Wobei? Warum?« riefen alle.

»Bekommt die Duodez-Ausgabe meiner beobachtenden Berechnungen von Oberwalldorf. Ein garstiges Format, das! Nicht Fisch, nicht Fleisch, weder großartig noch zierlich. Sollte mir der Himmel keinen Sohn mehr bescheren, so bin ich imstande, die Duodez-Ausgabe ganz und gar zu streichen; dann bekäme er den Sedez, der ein allerliebstes Spielzeug ist, mit Krähenfedern geschrieben . . .«

»Faustine kennt es, lieber Max,« sagte Adele.

Die Kinder stürmten herein und drängten sich dann, Faustine gewahrend, scheu und nicht mehr wild, in einem Winkel des Zimmers zusammen, wo sie mäuschenstill die Tante angafften, einige mit den Fingern im Munde, andere an den Knöpfen drehend.

»Wollt ihr nicht schlafen gehen, Kinderchen?« fragte Adele.

Da erhob sich ein Lärm, wie ihn die Hühner machen, wenn sie abends zum Schlafen auffliegen, und unter endlosen Gutenachtwünschen und -küssen zogen sie ab, denn die Tante war ihnen noch zu fremd, um nicht störend zu sein.


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