Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

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36. Kapitel.

Tod und Begräbnis. Agathe beansprucht Thomas Weltleins Vermögen, Lachmann den Seelensucher und Alwine seinen Unglauben.

Als er eine Stunde später auf dem Bahnhof ankam, fand er dort alles in höchster Erregung. Die Nachricht von einem schweren Eisenbahnunglück war eingetroffen, der Personenzug nach Berlin war in einer Zwischenstation von dem Expreßzug Brüssel–Berlin überrannt worden. Man erzählte, daß zwanzig Personen umgekommen sein sollten, vielleicht noch mehr. Lachmann brachen fast die Kniee. Er stürzte zum Schalter. »Wissen Sie, ob ein großer, auffallend großer Herr im Gesellschaftsanzug mit dem Unglückszug nach Berlin gefahren ist?«

Der Beamte sah ihn prüfend an. »Ein Herr ohne Hut? Mit einer roten Nase? Ja, der hat ein Billet gelöst.«

Lachmann eilte davon. Er mußte sofort an die Unglücksstelle telephonieren. Was hatte doch der Beamte gesagt? Den Mann an der Bahnsteigsperre solle er fragen. Richtig.

»Ist ein Herr im Gesellschaftsanzug, mit bloßem Kopf und auffallend roter Nase in dem verunglückten Zug mitgefahren?«

310 »Jawohl, ich besinne mich ganz genau. Ja, der ist mitgefahren.«

Auf dem Zimmer des Stationschefs bekam er nähere Auskunft. »Zwanzig Tote, viele Verletzte. Nein, unter den rekognoszierten Toten ist keiner mit dem Namen Weltlein, auch kein Müller. Aber teilweise seien die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Warten Sie, ich werde anfragen. – Nein, unter den Überlebenden ist Herr Weltlein nicht. Am besten wird es sein, Sie fahren mit dem Hilfszug mit, der in einer halben Stunde abgeht. Sie sind ja Arzt, nicht wahr?«

Lachmann nickte. »Kann ich nicht Verbindung mit Berlin bekommen?«

Der Stationschef zuckte die Achseln. »Das ist ganz unmöglich.«

Lachmann biß sich auf die Lippen, dann schoß es ihm plötzlich durch den Kopf, den Schlüssel zur Beamtenunmöglichkeit zu gebrauchen.

»Herr Weltlein ist ein intimer Freund des Prinzen Viktor. Seine Königliche Hoheit wird sehr ungehalten sein. Er hat mich extra hergeschickt –«

»Ich will sehen, was sich tun läßt. Mit wem wollen Sie telephonieren?« sagte der Beamte.

»Continental-Hotel, Zimmer 23.«

Nach wenigen Minuten war die Verbindung hergestellt. Agathe versprach, sofort zu kommen.

Die Hilfszüge aus Berlin und Eberswalde trafen fast gleichzeitig an der Unglücksstätte ein, so daß Lachmann Agathe noch beim Aussteigen helfen konnte. Sie sprachen kein Wort miteinander, sondern gingen sofort auf die Suche. Lachmann hielt merkwürdigerweise dauernd seinen Zylinder unter dem linken Arm, während er mit dem rechten Agathe führte, deren Nase so spitz und schmal war, daß man glauben konnte, sie hätte irgend einem großen Vogel den Schnabel abgebrochen und sich in das Gesicht geklebt.

Es bestätigte sich, daß ein großer Herr noch hinter der vorhergehenden Station in dem Zuge gesessen habe. Es könne sein, daß er schwarz gekleidet gewesen sei. Eine rote Nase? Ja vielleicht. Oder auch nicht. Man wußte es nicht. Das Unglück sei durch eine Gasexplosion in einem der Wagen so schlimm geworden.

In einem Schuppen waren die Leichen untergebracht. Die meisten waren rekognosziert, nur vorn links am Eingang lagen zwei 311 unbekannnte Frauenkörper und daneben die halb verkohlten Reste eines Mannes, dessen Oberkörper und Arme völlig unkenntlich waren.

Agathe blieb zögernd stehen, und während Lachmann vergebens versuchte, aus den Formen des Mannes irgendwelchen Aufschluß zu bekommen, schluckte sie ein paarmal, als ob sie sprechen wolle und nicht könne, hob dann den Finger und wies auf eine halb zerquetschte goldene Uhr, die neben der Leiche lag.

Lachmann ließ ihren Arm los und trat näher heran. Auf dem Deckel des Gehäuses war in Emaille ein Monogramm mit Buchstaben eingelegt. Lachmann beugte sich tief herunter und prüfte die Uhr sorgfältig, richtete sich dann auf und sagte, ohne Agathe anzusehen: »A. M.«

»Ich habe sie ihm selber geschenkt.« Agathes Stimme klang trocken und keuchend.

Lachmann trat von einem Bein aufs andere, bückte sich wieder, nahm die Uhr auf und legte sie wieder hin. Plötzlich beugte er sich über die Leiche und streifte die halb verbrannten Kleider von den Beinen herunter.

»Was machst du?« fragte Agathe.

»Er muß irgendwo eine Narbe am Bein haben, von einem Jagdunfall her. – Da,« er wies auf eine alte, tiefeingezogene Narbe dicht oberhalb des rechten Knies.

»Ja, ich erinnere mich,« sagte Agathe. »Er sprach davon.« Sie sah einen Augenblick auf die Leiche, richtete sich dann kerzengerade auf und sagte: »Komm! Es ist August.« Ohne sich noch einmal umzusehen, schritt sie zur Wachstube und gab dort zu Protokoll: »Die dritte Leiche links vom Eingang ist die meines Bruders August Müller aus Bäuchlingen.«

Dann ging sie, gefolgt von Lachmann in den Wartesaal, setzte sich dort und wartete, bis der Zug nach Berlin ging. Auf der ganzen Fahrt sprach sie kein Wort, im Lift des Hotels sagte sie: »Für Alwine ist es ein Glück. Sie ist auf einmal ein reiches Mädchen geworden und kann heiraten.«

Lachmann sah sie erstaunt an, aber ehe er noch etwas sagen konnte, schritt sie mit den Worten: »Gute Nacht, ich lege mich sofort schlafen,« davon.

312 Nachdem die Formalitäten vor Gericht erledigt waren, wurde die Leiche nach Bäuchlingen transportiert. Lachmann begleitete seine Cousine, um dem Begräbnis beizuwohnen und ihr beim Ordnen des Nachlasses behilflich zu sein.

Sehr seltsam benahm sich Alwine. Sie hatte die Mutter noch nicht begrüßt, als sie erklärte, sie glaube nicht daran, daß der Onkel August tot sei. Irgend ein anderer läge in dem schwarzen Kasten da hinten, aber der Onkel sei es nicht. Dabei sah sie Agathen haßerfüllt an, ließ die Arme schlaff herabhängen, ohne die Hand zu geben und machte sich im Rücken steif, als ihre Mutter versuchte, sie an sich zu ziehen.

Agathe zog die Augenbrauen hoch, sah ihre Tochter prüfend an, knüpfte die Hutschleife anders und sagte: »Du scheinst dein unglaubliches Benehmen gegen deine Mutter fortsetzen zu wollen. Nun, wie du willst.« Sie wandte sich zu Lachmann, um dessen Arm zu nehmen, als sie aber sah, daß er eifrig auf Alwine einredete, drehte sie sich um, spannte ihren Sonnenschirm auf und ging, ohne sich um die beiden zu kümmern, schnurstracks nach Hause.

Die Beerdigung war noch auf denselben Nachmittag festgesetzt. Breitsprecher sollte die Rede halten. Es war seine letzte Amtshandlung. Er hatte seinen Abschied genommen. Zu seinem Nachfolger hatte er selbst den Vikar Ende vorgeschlagen.

Bei Tisch kam es zu einem neuen Zusammenstoß zwischen Mutter und Tochter. Alwine verlangte, daß der Sarg noch einmal geöffnet würde. »Ich glaube nicht, daß es der Onkel ist, ehe ich die Leiche nicht mit eigenen Augen gesehen und wiedererkannt habe.«

Agathe kniff die Lippen zusammen, so daß der Mund wie ein Strich aussah, holte aus ihrer Ledertasche mit dem bekannten silbernen Bügel die Uhr hervor, hielt sie Alwine vor die Nase und sagte: »Da.«

»Solch eine Uhr kann jeder haben,« erklärte Alwine und stopfte sich ein riesiges Stück Fleisch in den Mund, während ihr Tränen über die Backen herunterkollerten.

Agathe kreuzte schweigend die Arme über die Brust, lehnte sich im Stuhl zurück und sah ihrer Tochter böse auf den Mund.

»Kind,« mischte sich Lachmann ein, »es ist gar kein Zweifel, daß es der Onkel August ist.«

313 »Sie kann doch den Sarg noch einmal öffnen lassen. Vier Augen sehen mehr als zwei,« erwiderte Alwine trotzig und schnitt an ihrem Stück Braten herum, als ob sie die Mutter unter dem Messer habe.

»Der Sarg bleibt zu,« sagte Agathe, erhob sich und legte die Hand so fest auf den Tisch, daß es aussah, als ob sie den Deckel des Sarges mit aller Kraft zuhielte.

»Habt ihr wenigstens nach der Narbe gesehen?«

»Nach was für einer Narbe?« fragte Agathe streng.

»Der Onkel hatte eine tiefe große Narbe oben am Bein.« Sie war rot geworden und hatte die Augen niedergeschlagen.

»Woher weißt du, daß er eine Narbe hatte?«

Alwine sah ihre Mutter erstaunt an: »Aber du hast es mir doch selbst erzählt, Mutter. Sie hat es mir doch erzählt, Onkel Lachmann, nicht wahr?«

»So,« sagte Agathe trocken und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Die Narbe ist da.«

»Oben, ganz oben am linken Bein.«

Agathe setzte wieder die Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Ich habe dir gesagt, daß die Leiche die deines Onkels ist und das wird dir genügen. Ich verbitte mir jede Widerrede; der Sarg bleibt zu und wird um 4 Uhr begraben.«

»Und ich gehe nicht mit zu eurem Begräbnis,« schrie Alwine, sprang auf, lief vor Wut heulend fort und knallte die Tür hinter sich zu.

Lachmann pfiff durch die Zähne.

»Du hast dir ja was Nettes herangezogen,« sagte er.

»Es scheint so. Also auf Wiedersehen nachher.« Agathe rauschte davon.

Um 4 Uhr wurde die Leiche Thomas Weltleins beerdigt. Die Rührung war groß und Breitsprechers Rede vortrefflich.

Auf dem Rückweg fragte Lachmann seine Cousine: »Was hat die Kleine?«

»Weiß ich nicht,« lautete die Antwort.

Lachmann blieb stehen. »Hältst du es für ausgeschlossen, daß wir uns geirrt haben.«

»Ausgeschlossen,« sagte Agathe und ging weiter.

314 »Hast du gehört, sie sagte, Augusts Narbe hätte am linken Bein gesessen.«

»Die Narbe saß da, wo sie sitzt.« Agathe band ihre Hutbänder fester.

Eine Zeitlang gingen beide schweigend weiter, dann sagte Lachmann: »Übrigens, weißt du vielleicht, ob August seinen Seelensucher – du weißt, den Goetheschen Schattenriß, den er mir versprochen hat –«

»Ja, und?«

»Er hat mir erzählt, daß er ihn verschachert hätte.«

Agathe blieb jetzt ihrerseits stehen, sah ihren Vetter an und sagte: »Dann hat er gelogen. Der Schattenriß liegt in der rechten Schieblade seines Schreibtisches, ich habe ihn noch vorhin gesehen. Und wenn dir diese Schmutzerei Spaß macht, was ich nicht verstehe, kannst du sie haben.«

Lachmann senkte den Kopf und trottete mit den Händen auf dem Rücken hinter Agathe her.

»Ja,« sagte er, »der August war stark im Aufschneiden.«

Agathe brach plötzlich in lautes Schluchzen aus, dann sich zusammennehmend sagte sie: »Zehn Lachmanns und zehn Breitsprechers zusammengenommen und meinetwegen zehn Endes dazu, sind nicht annähernd das, was August war. Aber ihr habt ihn eben alle nicht verstanden.« Sie wurde auf einmal eine gebückte alte Frau, nahm Lachmanns Arm und sich schwer auf ihn stützend, sagte sie: »Ich bin froh, daß du da bist.«

Als sie nach Hause kamen, fanden sie Alwines Tür verschlossen. Sie hatte sich zu Bett gelegt. 315

 


 


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