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Dem Polizisten waren indessen allerlei Bedenken aufgestiegen. Vor allem erwachte der Zweifel, ob die Geschichte mit der Uhr auch stimme. Er traute dem Lumpenwilhelm jede Niederträchtigkeit zu, auch einen Diebstahl. Wenn der Kerl wirklich eine goldene Uhr gehabt hatte, so hätte er alles durchsuchen und vor allem den Lumpensammler dabehalten müssen. Den hatte er ruhig davonfahren lassen. Da konnte er in eine böse Patsche geraten; jedenfalls hielt er es für besser, zuerst mit dem Bürgermeister zu verhandeln, statt mit dem Polizeiinspektor, dessen Gründlichkeit er fürchtete. Er führte daher sein Opfer geradeswegs in die Schreibstube der Bürgermeisterei.
Das Zimmer war noch leer, nur ein einziges Schreiberlein hockte auf seinem Drehbein und fuhr hastig mit den Händen in Akten herum, bald hier, bald da ein Bündel aufschlagend und wieder wegwerfend. Er drehte sich um und fragte giftig: »Was ist nun wieder los? Wen bringen Sie denn da, Weber? Lassen Sie mich doch in Frieden. Ich habe Wichtiges zu tun. Ein Verbrecher ist eingeliefert worden, soll transportiert werden.«
»Wollte nur melden, daß hier auch einer ist, Herr Sekretär, ein kapitaler dazu,« antwortete Weber, und die Hand wie ein Schallrohr vor den Mund haltend, sagte er: »Der Weinbergskarl.«
Der Schreiber fuhr heftig mit dem Kopf nach vorn und verdrehte dabei die Augen so nach oben, daß er aussah, als ob er ein Teleskopfisch sei, der auf seine Beute losschießt. »Wen?« fragte er, und seine hohe Stimme überschlug sich dabei vor Aufregung.
»Den Weinbergskarl,« wiederholte der Polizist so laut wie 54 möglich. Der Schreiber sprang auf die Füße und rang die Hände. »Mein Gott, mein Gott, ich werde verrückt! Einen Weinbergskarl dachte ich noch zu überstehen und nun bringt man mir den zweiten. Menschenskind, der ist ja schon da,« schrie er plötzlich laut los, auf den Gendarmen zuspringend und ihm einen Stoß Akten vor die Nase haltend. »Da, da sind die Handakten und drüben sitzt er selber in der Zelle. Besinnen Sie sich doch! Es kann doch nicht zwei geben.«
Der Gendarm zuckte verdutzt die Achseln. »Von dem drüben weiß ich nichts, der hier aber ist der rechte.«
Der Schreiber sah zweifelnd den Gendarmen an, dann wandte er sich an Thomas und riß bei seinen Worten den Mund auf, als ob er ihn fressen wollte. »Wer sind Sie, wer Sie sind, frage ich?«
»Mein Name ist Weinbergskarl,« erwiderte Thomas mit einer höflichen Verbeugung.
Der Schreiber hob vor Erregung ein Bein ums andere in die Höhe. »O Himmel, heut' ist der Teufel los,« seufzte er. »Wie soll ich fertig werden? Und meine Frau hat Geburtstag. Fritz,« schrie er einen Jungen an, der zugleich mit zwei andern jungen Leuten eingetreten war und mit offenem Munde der Szene zusah, »gleich gehst du rüber zum Herrn Polizeiinspektor und bittest ihn herzukommen. Es sei noch einer eingeliefert, noch ein Weinbergskarl.« Dann warf er sich erschöpft auf seinen Stuhl und blätterte wieder hastig hin und her, nur von Zeit zu Zeit nach dem Polizisten und dessen Gefangenen hinschielend.
Der Polizeiinspektor erschien. Thomas mit raschem Blick musternd, trat er zu dem aufgeregten Schreiber und ließ sich die Sachlage auseinandersetzen. Dann hörte er den Bericht des Gendarmen an, wobei er von Zeit zu Zeit ein Telegramm, das er in der Hand hielt, ungeduldig hin- und herschwenkte, als ob er zum rascheren Erzählen auffordern wollte. Plötzlich winkte er hastig ab und ging auf Thomas zu, der sich, so gut es bei dem gefährdeten Zustand seiner Kleidung ging, verbeugte.
»Ich bitte Sie, den Irrtum meines Untergebenen zu verzeihen. Es liegt eine Verwechslung vor. Sie sind frei. Ich werde sofort für einen Wagen sorgen.«
55 Thomas fiel aus allen Himmeln. Mitten in seiner Heiligung faßte den Märtyrer der Zorn. Mit einer patzigen Bewegung setzte er sich wieder auf seine Bank. »Ich will nicht frei sein,« sagte er, »ich bin der Weinbergskarl und verlange mein Recht.«
Der Beamte nickte ihm höflich zu. »Die Sache ist also erledigt,« sagte er und ging zu dem Pult des Schreibers, mit dem er angelegentlich sprach, ohne sich weiter um den Gefangenen zu bekümmern.
Thomas war sehr verstimmt. Er hatte neue Qualen erwartet, Beschimpfungen, Schande, Kerker und Ketten, und nun sah er, daß selbst sein roher Dämon respektvoll zwei Schritte von ihm fortrückte. Das paßte ihm nicht. Mit lauter Stimme begann er zu reden.
»Sie haben nicht das Recht, mich freizulassen, Herr Inspektor. Sie sind grausam. Aber ich werde mich wehren. Wie ist das möglich? Man ergreift mich, ein Dämon wirft mich zitternden Erdenwurm mitten in die Flammen des Fegefeuers, schon fühle ich, wie die lautere Glut alles abgeschieden Irdische in mir verzehrt und dann, ehe noch das Werk der Reinigung vollendet ist, reißt mich der Oberste der Dämonen hervor und stößt mich in die Wüste der Erde zurück. Alle meine Hoffnungen klammern sich hier an diese Hölle, alle meine Wünsche schweben greifbar vor meinen Augen, die große Freundin Not, nach der ich mich sehne, streckt mir die prüfende Hand entgegen und ich darf sie nicht fassen. So nahe dem Ziele, dem hohen Ziele, dessen Bedeutung niemand ermessen kann als ich. Doch nein, Sie müssen es kennen, sonst würden Sie mir nicht so tückisch in den Weg treten. Aber es soll Ihnen nicht gelingen. Ich verlange mein Recht. Ich bin –«
Der Polizeiinspektor drehte sich um und nickte ruhig: »Herr Müller.«
»Der Weinbergskarl,« schrie Thomas in voller Wut und sprang auf. »Ich verlange in das Zuchthaus gebracht zu werden, hören Sie, ich verlange es.«
Der Beamte wurde unruhig. Er fühlte, wie die Schreiber heimlich in sich hineinlachten. Gegen Thomas streng vorgehen mochte er nicht. Dem Mann war unrecht geschehen, und wenn diese Komödie auch nicht sehr geschmackvoll war, so mußte man doch versuchen, höflich mit dem Herrn auseinanderzukommen. Rasch auf den 56 Gefangenen zuschreitend, gab er ihm das Telegramm, das er in der Hand hielt. »Nehmen Sie, es ist von Ihrer Schwester.«
Thomas griff danach. »Von Agathe?« rief er. Die Angst hatte ihn überrascht. Wenn die kam, war er verloren. Nein, Gott sei Dank, sie kam nicht; es war bloß eine Anzeige seines Verschwindens und eine Beschreibung seiner Person. Sofort hatte er wieder den alten Mut. »Ich kenne diesen Mann nicht,« sagte er, »was soll ich damit?«
Der Beamte sah ihn bös an und seine Stimme wurde scharf. »Übertreiben Sie die Sache nicht, Herr Müller. Ihnen ist Unrecht geschehen, aber das gibt Ihnen nicht die Erlaubnis, die Behörden zum Besten zu haben.«
Vollständig ruhig setzte sich Thomas wieder hin. »Beweisen Sie mir, daß ich nicht der Weinbergskarl bin,« sagte er. »Als solcher bin ich verhaftet und man darf mir nicht gegen mein eigenes klares und unanfechtbares Zeugnis meinen Namen rauben.«
»Lachen Sie nicht, Meyer!« schrie der Polizeiinspektor den Jungen an, der ihn geholt hatte und der jetzt die Hälfte seines Schreibärmels in den Mund gesteckt hatte, um nicht loszuplatzen. »Gehen Sie zum Herrn Bürgermeister, ich lasse ihn bitten, einen Augenblick herzukommen. Sie, Weber, bringen den Gefangenen hierher; der Wärter soll mitkommen, damit der Kerl euch nicht durchbrennt. Alle anderen verlassen das Zimmer.« Er wartete, ungeduldig seine Handschuhe hin- und herzerrend, bis er allein mit Thomas war.
»Ich kann Ihnen, wenn Sie es wünschen, tatsächlich den Beweis liefern, daß Sie nicht der Verbrecher sind, für den Sie sich ausgeben. Der Dieb, der Sie zu sein behaupten, der sogenannte Weinbergskarl, befindet sich in unseren Händen und wird in der nächsten Minute hier sein. Vorher möchte ich Ihnen noch einmal Gelegenheit geben, die Sache rasch zu beenden. Ich finde es nicht anständig, daß Sie einen Beamten, der nur Ihr Bestes gewollt hat, vor seinen Untergebenen herabsetzen. Wenn Sie dabei beharren, sehe ich mich genötigt, Sie zu bestrafen.«
Thomas lächelte. Etwas Besseres konnte ihm nicht begegnen. »Beweisen Sie mir, daß ich nicht der Weinbergskarl bin, und bestrafen Sie mich,« sagte er kalt.
57 Der Inspektor drehte ihm schroff den Rücken und trat an das Schreibpult, nun seinerseits die Akten hin und her werfend. Er wußte, mit einem solchen Beweise würde es Schwierigkeiten geben. Thomas hatte triumphierend die Arme über der Brust gekreuzt. In diesem Augenblick war er von der Größe seines Berufs überzeugt.
Nach einiger Zeit erschien der Gendarm Weber mit dem Gefängniswärter. Zwischen sich führten sie ein Männchen, das stumpfsinnig den Kopf und Nacken nach vorn streckte, und leise vor sich hin murmelte. Der Polizeibeamte ging auf ihn zu.
»Warum ist der Mann nicht gefesselt?« fragte er.
»Wir sind zu zweit, Herr Inspektor,« erwiderte der Wärter und streckte wie zur Bekräftigung seiner Zuversicht seinen Arm aus, öffnete die Hand und schloß sie zur Faust.
Der Inspektor schüttelte mißbilligend den Kopf. »Spricht er?« fragte er wieder.
»Lauter Unsinn, Herr Inspektor, wie gewöhnlich. Er spielt den wilden Mann.«
Der Gefangene lachte blöde auf. »Schöner Herr,« grinste er, »schöner Herr. So bunte Uniform und blanke Knöpfe.« Er suchte die zitternde Hand zu erheben, als ob er damit über das blaue Tuch fahren wollte. Als ihn seine beiden Wärter daran hinderten, sank er wieder in seine frühere stumpfe Haltung zurück.
Der Polizeibeamte drehte ihm halb den Rücken zu und redete wieder den Wärter an. »Ich glaube, wir werden den Mann wieder freilassen müssen. Es liegt kein Beweis gegen ihn vor. Der Weinbergskarl ist es jedenfalls nicht.« Er machte eine kurze Pause, aber die albernen Züge des alten Mannes veränderten sich nicht im geringsten. »Wir haben nämlich den Kerl; dort drüben sitzt er.« Auch dieser Versuch, den Einbrecher zu überlisten mißlang. »Sehn Sie ihn sich doch an,« drängte der Beamte.
Der Alte machte einen Schritt vorwärts, so daß er nun zwischen der Tür und Thomas stand, immer festgehalten von seinen beiden Begleitern. »Auch sehr schöner Herr, schöne Kleider, nicht so bunt, nicht so blank, aber sehr schön.« Er hatte wieder ein wenig den Arm gehoben, um Weltleins herrliche Gewänder zu prüfen.
Der Inspektor versuchte nun noch einmal, den Verbrecher in seiner 58 Rolle der Verrücktheit zu überraschen. Er packte ihn bei der Eitelkeit, und diesmal hatte er mit seinem Kunstgriff Glück. Er stellte sich vor Thomas hin, schlug ihn auf die Schulter und sagte: »Na, Weinbergskarl, nun erzählen Sie mal, wie Sie aus dem Zuchthaus ausgebrochen sind.«
Weltlein erhob sich. Seit der Name seiner Schwester genannt worden war, fühlte er sich in seiner Märtyrerrolle nicht mehr sicher. Es wurde ihm immer klarer, daß seine Hartnäckigkeit ihn nicht in das Zuchthaus, das Ziel seiner Sehnsucht, wohl aber nach Bäuchlingen in die Obhut Agathes bringen werde. Er konnte sich nur noch nicht entschließen den Bann zu brechen. Er harrte noch eines Schicksalswinkes, wünschte eine neue Bestätigung dafür zu haben, daß höhere Mächte ihn führten. Jedes Ereignis prüfte er darauf hin, ob es ein Zeichen sei, und auch jetzt überlegte er erst, ob diese Aufforderung zu erzählen, nicht etwa einen tieferen Sinn habe. Er zögerte und sah unsicher umher. Am liebsten wäre er mit einem einzigen Satz entflohen . . .
»Das ist nicht leicht zu sagen,« begann er endlich, »ich bin entflohen, wie man eben entflieht.«
Der Polizeimann lächelte. »Sie werden schon noch irgend etwas wissen. Das kommt doch nicht alle Tage vor. Wie sind Sie heraus gekommen? Die Türen sind fest, da ist es unmöglich; und die Fenster –«
»Ich bin durch das Fenster gestiegen,« unterbrach Thomas, froh, eine Handhabe zu bekommen.
»So, so. Aber die Gitter?«
»Die habe ich durchgefeilt.«
»Und die Feile?«
»Ein Freund hat sie mir in die Zelle geworfen.«
»Was Sie sagen, Weinbergskarl? Ein Freund hat sie Ihnen zugeworfen? Also ist es übertrieben, wenn man Ihnen nachrühmt, Sie könnten ohne Hilfe fliehen, wenn Sie nur wollten? Sich eine Feile zustecken lassen, das ist lumpig. Hätte ich das gewußt, würde ich mich gar nicht mit Ihnen beschäftigt haben. Mit fremder Hilfe entfliehen, das kann jeder. Aber allein, ganz aus eigener Kraft, das ist etwas.«
59 Thomas wurde mürrisch: »Ohne Hilfe kann niemand aus dem Zuchthaus entfliehen.«
»Ich kann's,« tönte auf einmal die Stimme des Gefangenen.
Der Inspektor und alle Anwesenden drehten sich ihm hastig zu, und die beiden Wächter faßten seine Arme doppelt fest. Er verzog das Gesicht und stieß einen Schmerzensruf aus. Auf einen Wink ihres Vorgesetzten lockerten die beiden Polizisten den Griff. In demselben Augenblick wurde die Tür von außen geöffnet. »Der Herr Bürgermeister kommt,« rief es von außen. Und »Haltet ihn!« schrieen ein halbes Dutzend Stimmen dagegen.
Der gewandte Einbrecher hatte sich losgerissen, das dicke Stadtoberhaupt, das eben den Gang entlang keuchte, hatte er zur Seite geschleudert und war verschwunden.
Das Ganze ging so rasch vor sich, daß der kurzsichtige Herr, der hinter dem Bürgermeister herging, gar nicht den Grund merkte, warum der hochweise Magistrat gegen die Wand fiel. Er hatte auch keine Zeit, es sich zu überlegen, denn an ihm vorbei sauste die wilde Jagd: voran der Gendarm Weber, der wütend den Ärmel eines Gefängniskittels in seiner Hand herumwirbelte, dicht hinter ihm der stämmige Wärter, der Polizeiinspektor und die ganze Horde der Schreiber. Hinter ihnen drein lief und schrie der Bürgermeister, ohne eine Antwort erhalten zu können. Und ganz zuletzt trat Thomas hervor, nachdenklich den zweiten Ärmel in der Hand schwenkend und die Hosen haltend. Noch auf der Schwelle stehend begrüßte er den Kommenden mit einem heitern Lachen.
»Das ist die Nase, an der man den Bankier erkennt,« rief er. »Willkommen, bester Herr Niedlich. Gelegener kamen Sie niemals als jetzt.«