Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

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25. Kapitel.

Das vierte Gebot. Apfelkraut und Hosenbein. Musik und Liebe.

Am andern Morgen fuhr Thomas weiter nach Berlin. Während er an dem Personenzug entlang schritt, um das Coupé I. Klasse aufzusuchen, kam er an einem Wagen IV. Klasse vorbei, aus dessen herabgelassenem Fenster ein derbes Bauernmädchen guckte. Er nickte ihr zu, was sie sofort veranlaßte, kichernd zurückzuweichen, dann schritt er weiter und dachte beim Anblick der aufgemalten IV auf dem Wagen an des Rendanten Wort von den trockenen Zahlen. Während sich eine Reihe von Zahlen vor seinen Augen gruppierten und einen tollen Tanz von Einfällen vor ihm aufführten, sah er, wie ein breitschultriger Mann mit einem in Glanzleder gehüllten Packen auf dem Rücken einem alten Mütterchen die hohen Stufen der vierten Klasse hinaufhalf und ihr zwei mit rot und weiß gewürfelten Tüchern bedeckte Körbe nachreichte. Das Grinsen der Alten, das offenbar Freundlichkeit und Dank ausdrücken sollte, berührte ihn peinlich und zog ihn doch an. Ohne sich weiter um sein Billett zu kümmern, folgte er dem Mann mit dem Lederpacken in das Abteil IV. Klasse.

Das Einsteigen eines Menschen, dessen Kleidung und Gehaben in diese Umgebung nicht paßte, erregte bei den Insassen Aufsehen und Widerstand. Das Durcheinander lauter Stimmen stockte plötzlich und aller Blicke wendeten sich dem Fremden zu.

Dicht neben der Tür saß das junge Ding, das vorhin vor Weltleins Gruß verlegen zurückgewichen war. Sie errötete, als sie ihn eintreten sah, und wandte sich unwirsch ihrem Nachbar zu, einem Burschen mit schwarzen Kraushaaren, vor dessen Füßen ein Leinenbeutel mit Schlosserwerkzeug lag. Der junge Mann sah sie fragend an und als er aus der Art, wie sie verächtlich die Achseln zuckte und die Mundwinkel nach unten zog, schloß, daß sie übertreibe und sich im Grunde geschmeichelt fühle, musterte er lang und feindselig den Ankömmling, bückte sich dann und kramte in seinem Handwerkszeug. Thomas war viel zu sehr mit seinen eigenen 172 Gedanken beschäftigt, um auf die Gruppe an der Tür zu achten. Er steuerte sogleich nach dem anderen Ende des Wagens hin und pflanzte sich vor der Alten mit den beiden Körben und dem Lederpackenmann auf, die beide am Ende der Bank noch Sitzplätze gefunden hatten.

Vor seinen Augen schwebte das Bild der IV, die auf dem Wagen aufgemalt war, und da er sich vorgenommen hatte, die beiden vor ihm sitzenden Leute für Mutter und Sohn zu halten, benutzte er die Gelegenheit, um eine Predigt zu halten.

»Wie heißt das vierte Gebot?« fragte er den Mann.

Der starrte ihn wie geistesabwesend an, stieß seine Nachbarin und drehte langsam und verlegen den Kopf nach der anderen Seite.

»Sie werden es doch wohl noch alleine wissen,« sagte Thomas streng, »Sie brauchen sich das nicht von Ihrer Nachbarin zuflüstern zu lassen, also –?«

Der Mann fingerte an den Riemen seines Packen herum, rutschte ein paarmal auf seinem Sitz hin und her, sah, mit einem plötzlichen Entschluß Widerstand zu leisten, zu Thomas auf, schlug die Augen nieder und wandte den Kopf zur Seite. – »Du sollst Vater und Mutter ehren,« kam es langsam von seinen Lippen.

»Nun und weiter,« drängte Thomas, »wenn sie auch der letzte auf der Bank sind, so etwas müssen Sie wissen.« Er hielt sein Opfer unter seinem Blick, und wirklich, der Mann gehorchte.

»Auf daß es dir wohl gehe, und –« sagte er, »und – Gotts ein Donnerwetter, was haben Sie für ein Recht mich zu fragen?«

»du lange lebest auf Erden,« schloß Thomas und warf mit einer Handbewegung den Protest des Mannes beiseite. »Das ist die Hauptsache dabei. Auf daß es dir wohl gehe. Sehen Sie, alle anderen Gebote – Sie dürfen auch mit zuhören –« unterbrach er sich mit einem aufmunternden Blick auf die Alte, »alle anderen Gebote werden einfach hingestellt: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen.«

»Du sollst nicht ehebrechen,« fügte ein junger Mensch hinzu, dessen schwungvoll frisiertes Haar den Duft des Friseurladens, wo er gestern gearbeitet hatte, noch mit sich führte, und zupfte dabei seine rechte Manschette vor, trotzdem ihr ursprüngliches Weiß von den Pomadeköpfen seiner Kunden schon arg mitgenommen war.

173 Sein Eifer wirkte ansteckend, denn nun ließ sich gegenüber die Stimme eines Herren mit einer Ballonmütze vernehmen, der seine aufgeschwemmten Züge in Ermanglung eines Kragens durch ein dickes, gelbes Halstuch zur Geltung zu bringen suchte. »Du sollst den Feiertag heiligen.«

»Ganz richtig,« ergriff Thomas wieder das Wort, »ich danke Ihnen für die Anregung. Es ist gut, wenn die Menschen so frei und unbefangen ihre Lebensgrundsätze in negativer oder positiver Form aussprechen.«

Die beiden Leute sahen sich verdutzt an, während ein etwa 15jähriger Junge, der in der Mitte des Wagens auf einer alten Truhe aus Großvaters Tagen saß und zum Zeitvertreib ein, in ein riesiges rotes Taschentuch gewickeltes, Paket Nahrungsmittel zwischen den Beinen vor und zurück schaukeln ließ, loslachte.

»Nun also,« begann Thomas wieder, »alle diese Gebote stehen nackt da, als einfache Befehle oder Verbote; es ist gut möglich, ihnen zu gehorchen. Beim vierten Gebot findet es der liebe Gott angebracht, durch den Mund Mose eine sogenannte Verheißung zu geben, ähnlich wie er sich gar nicht genug tun kann in Verwünschungen und Versprechungen, sobald es sich um die Verehrung seiner eigenen Person handelt, wie das erste und zweite Gebot beweisen. Die Verehrung der Eltern ist ohne weiteres unnatürlich, so daß sie nur durch Bestechung zu erreichen ist.«

Der Junge auf dem Koffer hörte auf, sein Bündel zu schaukeln. »Das werde ich mir merken,« sagte diese plötzliche Bewegungslosigkeit.

»Die Juden bleiben immer dieselben,« ergriff jetzt einer das Wort, der hinter Thomas stand und fröstelnd seine dürren Schultern noch höher zog als gewöhnlich. Seine hageren von Leid und Entbehrungen verhärmten Züge waren von der Leidenschaft des Hasses und Neides überspannt und seine hohe, schneidende Stimme ließ jede Silbe doppelt scharf hervortreten. »Heutzutage setzen sie in ihre Zeitungen Preisrätsel, die niemand lösen kann, aber auf die versprochene goldene Herrenuhr oder das Kaffeeservice fallen die Dummen doch herein, obwohl die Kostbarkeiten nie zur Verteilung gelangen. Und der alte Mauschelmoses, dem sie die Ehre antun, 174 ihn Gott zu nennen, gibt auch als Prämie für nie zu lösende Aufgaben herrliche Versprechungen, die schönsten der Welt: Glück und langes Leben. Er braucht keine Angst zu haben, daß er um Erfüllung je gemahnt werden könnte. Du sollst nicht töten, wer könnte dieses Gebot halten. Wir töten ununterbrochen, ununterbrochen, leben vom Mord, ununterbrochen.« Er schwieg, kniff den Mund zusammen und schlug die Augen zu Boden.

Thomas sah ihn scharf an. »Student?« fragte er.

»Studiosus verum naturalium selbstverständlich. Nach vier Jahren vergeblichen Gottsuchens als Theologe.«

»Sie haben recht, die Juden sind das konservative Element der Welt. Wer konservativ ist, ist mindestens der Gesinnung nach Jude, wenn er auch vorzieht, anderer Leute Vorteil zu beschneiden, als seinen eigenen. Aber ganz scheinen Sie die theologischen Vorurteile nicht überwunden zu haben. Sie suchen immer noch die Hilfe von oben.« Thomas wies auf den von der Decke hängenden Lederriemen, an dem sich der Student krampfhaft festklammerte. Im selben Augenblick fuhr der Zug in die Station ein, hielt und bei dem plötzlichen Ruck verlor Thomas den Halt. Er fuhr mit den Armen in die Luft, packte noch glücklich den Riemen, so daß er sich vor dem Hinfallen schützte, aber er konnte nicht verhindern, daß er beim Taumeln in den Korb der alten Bäuerin hineintrat. Irgend ein Gefäß krachte in Scherben und eine weiche, klebrige, zähe Masse legte sich um den Fuß Weltleins.

»Herrjeh, mein Apfelkraut,« schrie die Alte mit bösem Blick und –

»Schön Rottraut,« antwortete Thomas, während er unter dem schallenden Gelächter der Anderen seinen Fuß aus dem Sumpfe zu lösen suchte. Er wußte jetzt, warum ihn die Alte anlockte und abstieß, sie glich seiner angeblichen Amme Trude.

Ein allgemeiner Aufstand brach aus. Während der Lederpackenmann fluchte und die Alte keifte, um sich dann beide in dem Verlangen nach Schadenersatz zu einigen, während der Junge auf dem Koffer sein Taschentuchbündel in der Luft wirbelte und mit seinen Beinen voll Entzücken strampelte, während der Friseurgehilfe und der Kerl im Halstuch Arm in Arm standen und über den 175 hilfreich gebückten Studenten hinweg Lachsalven schossen, während die Bauerndirne herbeigeeilt war, um zusammengekauert mit den Händen auf den Knien das Bein mit dem Apfelkrautschwanz zu sehen, wie es sich langsam hob und den weichen zähen Brei langzog, und sogar der eifersüchtige Schlosser grimmig schadenfroh grinste, stand Thomas innerlich unbewegt da, das Bein immer höher und höher ziehend und nachdenklich auf die schwarzbraune Masse blickend, die sich vom Korb zu seinem Bein emporzog. »Es klebt,« sagte er schließlich, griff mit der Hand nach unten und fuhr mitten durch das Apfelkraut; so löste er die Fessel des Fußes, tauschte dafür aber eine gänzlich verkrautete Hand ein, mit der er nichts Besseres anzufangen wußte, als sie am eigenen Haar und, als das nicht genügte, am Hosenbein abzuwischen. »Es klebt,« wiederholte er, leckte die Finger ab und mißbilligend auf die Alte schauend, fuhr er fort, »und es ist süß. Ewiger Apfel der Sünde, zerkocht noch hängst du dich an die Fersen des Mannes und ziehst ihn hinab in die süße Sünde, und ausgesogene Brüste, die längst die strotzende Blankheit des Apfels verloren, verführen den Adam. Klebrig und süß, das ist der Mütter Macht. Mutter, Amme, erdichtete Amme, es bleibt alles am Ende dasselbe, Sehnsucht zurück in die süße Ruhe des klebrigen Mutterschoßes, bis sich die Mutter Erde öffnet, um im Grabesdunkel uns neu schlummern zu lassen.« Er streckte der Alten, die eifrig aus den Scherben des zerschlagenen Topfes die Reste ihres Apfelkrautes in ein neues Gefäß zusammenkratzte, den Fuß entgegen, als ob er sie auffordern wollte, auch dort ihr Eigentum wieder zu sammeln. Als sie geifernd vor Wut darnach spuckte, stellte er den Fuß nieder und mit den Worten: »Die Mütter, Mütter, 's klingt so wunderlich,« holte er ein paar Goldstücke hervor und hielt sie der Alten hin. Wie ein Habicht stieß die Hand des Lederpackenmannes darnach und raffte sie an sich, ehe noch die Frau zugreifen konnte. Sofort begann ein Streit zwischen beiden. Thomas drehte sich nach dem Studenten, der eifrig bemüht war, mit Zeitungspapier die Schmiere von den hellen verdreckten Hosen Weltleins abzuwischen.

»Wie recht hatte Jehovah, auf die Kindesliebe einen Preis zu setzen. Sehen Sie nur, wie wütend Mutter und Sohn einander 176 bekämpfen, sobald der goldene Herrgott zwischen sie tritt. So lauert jedes Kind von früh an auf den Tod der Eltern, eines Ringes wegen oder einer Tasse halber.«

Der Student blickte erstaunt und verstehend zu Thomas auf, während der Lederpackenmann plötzlich den Streit abbrach und so heftig lachte, daß er gar nicht bemerkte, wie die Frau ihm die Goldstücke wegnahm. »Du, Alte,« schrie er und schüttelte sich, »der denkt, du bist meine Mutter.«

»So,« fauchte sie dagegen und fuhr ihm mit den Krallen nach dem Gesicht, so daß er sich ängstlich in die Ecke verkroch. »Bin ich dir etwa nicht mehr jung genug, du Lump du. Was? Da vorn die dreckige Magd, ich hab wohl gesehen, wie du ihr zugeplinkt hast. Aber die wird sich mit einem so alten Schmierfink wie du nicht einlassen, dir sieht's ja doch jede an, daß du nichts mehr fertig bringst als höchstens pissen; bei dir hat's ausgekräht, und wenn ich der Bursch wäre da neben ihr, da nähme ich einen festen Kreuzdorn und versohlte erst dir und da dem saubern Schubjack, der armen Leuten ihr bißchen Hab und Gut zertritt, das Arschloch und hinterher der frechen Trine auch.«

Das also angegriffene Mädchen fing nun an zu heulen und zu zetern und auf ihren Liebsten einzureden, der finster dabeistand und den Hammer in der Hand wog, ohne ein Wort zu sagen. Der Kerl in der Ballonmütze warf sich ihr zum Beschützer auf, sprach von Leuten, die ihr Pulver noch frisch auf der Pfanne hätten, während andere leere Beutel trügen und den Hahn kaum noch spannen könnten, und der Friseur setzte zum mindesten den Hut schief auf und fing an von feinen Herren zu reden, die hier nichts zu suchen hätten und ins Zuchthaus gehörten, weil sie doch nur unschuldige Mädchen verführen wollten. Ein wüstes Geschrei ging los. Alles drängte nach dem Punkt hin, wo Thomas festgeklebt am Boden stand, die eine Hand am Lederriemen, die andere mit auseinandergespreitzten Fingern weit vorgestreckt gegen den anstürmenden Haufen, wie ein Redner, der die aufgeregten Leidenschaften der Massen durch eine Geste beruhigen will. Der Hut war ihm ins Genick gerutscht und den Mund hatte er aufgerissen, als ob er den ersten, der an ihn käme, verschlingen wollte. Plötzlich erstarrte das 177 Getümmel. Vom Eingang des Wagens her ertönten die Klänge eines Leierkastens, der in wehmütigen Wimmerlauten Koschats Lied ›Verlassen, verlassen bin i‹ spielte. Die zornigen Gesichter wurden still, glätteten sich, lächelten dann und »ein Leierkasten,« sagte der eine und der andere fügte hinzu, »ja, ein Leierkasten«, und was eben noch wütend zum Kampfplatz eilte, umringte nun den Stelzbeinmann in der Soldatenmütze, der seinen schönen Kopf mit dem ehrwürdigen Kaiser Friedrichbart freundlich von einer Gruppe zur anderen wandte, leise die Melodie vor sich hinsummend.

Die Strömung teilte sich, noch ehe sie den Leiermann erreichte, denn mit den Worten: »Na, nu mal Platz da,« erschien der Schaffner.

Die Orgel spielte ihre Weisen weiter, während er von einem Reisenden zum anderen schritt und sich die Fahrkarten vorweisen ließ. Ganz zuletzt kam er zu Thomas, der schon seit einiger Zeit hastig in sämtlichen Taschen seines Anzugs herumfuhr, da er wie gewöhnlich sein Billet nicht finden konnte.

»Na, nu mal fix,« rief der Schaffner und musterte mißtrauisch Thomas schwarzbraunes Bein, »oder denken Sie hier blind mitzufahren?«

Thomas hatte endlich dort, wo sie hingehörte, nämlich in der Billettasche seines Anzugs die Fahrkarte gefunden, der Schaffner sah verwundert auf den gelben Schein.

»Sie gehören gar nicht hierher,« sagte er, »die erste Klasse ist ganz vorne im Zuge.« Dabei blickte er fragend das Hosenbein und den dunklen Apfelkrautfleck am anderen Ende des Wagens an. »Haben Sie das da hinten gemacht?« fragte er und erregte mit dem Wort »gemacht« die laute Heiterkeit des Jungen mit dem roten Bündel. »Verunreinigungen sind verboten und wenn Sie das nicht fortschaffen, werde ich Sie melden.«

Thomas fühlte sich so eingeschüchtert, daß er sich umdrehte und schon sein Taschentuch hervorzog, um damit die Säuberung des königlich preußischen Eigentums vorzunehmen. Plötzlich besann er sich, daß er sich seine Schüchternheit abzukaufen pflegte, holte ein Goldstück vor und gab es dem Schaffner.

»Vielleicht haben Sie die Güte, jemanden zu suchen, der den Fleck wegbringt; es ist Apfelkraut, nichts weiter.« Er holte mit der 178 Fingerspitze eine Probe von seinen Hosen und hielt sie dem Schaffner vor die Nase. Der roch pflichtschuldig daran und schritt dann mit den Worten weiter: »Ich werde es also in Ordnung bringen lassen.«

Thomas atmete erleichtert auf und in gehobener Stimmung ging er auf den Drehorgler zu, wobei ihn nur ein wenig störte, daß die linke Sohle allzusehr am Boden haftete. Die übrigen Reisenden hatten wieder ihre Plätze eingenommen, das Stelzbein aber grüßte stramm den hinkenden Herrn, was freilich mehr dem Goldstück als dem Geber galt.

»Nein, nein, spielen Sie nicht,« unterbrach Thomas die Bewegung, mit der der Mann nach der Kurbel griff. »Ich sehne mich darnach ein tiefes Wort über die schönste der Künste mit einem Sachverständigen zu wechseln, und da wir beide hinken – ich freilich nur mit der Hose – wird sich ein freundschaftliches Verständnis rasch anbahnen.«

Der alte Mann stand noch immer stramm da, allerdings verwundert über diese feierliche Rede. Er stammelte schließlich ein »Jawohl!« hervor und suchte wieder sein Marterinstrument in Bewegung zu setzen. Jetzt hielt ihm Thomas die Hand fest und begann wie ein Wasserfall zu reden.

»Es ist Ihnen gewiß schon aufgefallen, daß die Musik, die doch von allen Künsten am wenigsten an der Materie klebt, durch und durch sinnlich ist, aus der Sinnlichkeit entsteht und auf die Sinnlichkeit wirkt. Der Vogel singt, wenn er sich paart, und der Knabe bekommt die tiefen musikalischen Brusttöne, wenn die Schamhaare wachsen. Alles Himmlische hat seinen Ursprung in den Geschlechtsteilen und die Musik entsteht durch die Begierde auf dem Wege der inneren Ansteckung, über die ich demnächst eine kleine Abhandlung in dem Standesorgan der Drehorgelspieler erscheinen lassen werde. Erlauben Sie,« fuhr er fort, ergriff die Kurbel und drehte sie einen halben Takt. »Was ist das?«

»Das Gebet einer Jungfrau,« erwiderte der Leierkastenmann.

»Ein Stift, der in ein Loch greift,« sagte Thomas hoheitsvoll, »die Walze der Mann, die Platte die Frau.«

»Die Sache ist so einfach, daß es jedes Kind begreifen kann. Die Musik ist eine Schöpfung der Liebe, oder, um uns verständlicher auszudrücken, des Eros. Sie wissen doch, was Eros bedeutet?«

179 »Nee,« sagte der Alte und zog die Silbe lang, als ob ihm mit dieser Zumutung die größte Beleidigung angetan sei.

»Ist auch nicht nötig. Sie verstehen es auch so, jedes Kind versteht es.« Er fuhr mit dem Arm nach oben und ließ ihn wieder sinken, dann ging der Arm nach rechts und dann nach links, und wieder von vorn. Dabei sah Thomas seinen Schüler aufmerksam an: »Verstanden?«

Der Leierkastenmann schüttelte den Kopf und versuchte, von der Wand, an die ihn Thomas gedrängt hatte, fort zu kommen. Aber Thomas hielt ihn fest und wiederholte seine Bewegungen.

»Das ist auf und ab, hin und her. Es sind die Prinzipien der Musik und des Eros. Wie Mann und Weib in der Liebe auf und ab sich heben und senken, wie sie die Leiber zueinander hindrängen und wieder her bewegen, so tut es die Musik. Der Ton ist hoch und sinkt hinab zur Tiefe, der Ton ist stark und erstirbt zum pianissimo, die Klänge folgen in breitem Tempo, um überzugehen in furiose Raserei. Die Melodie schwillt an und verklingt. Stellen Sie sich doch eine Violine vor. Da geht der Bogen doch immer auf und ab, hin und her, bald rasch, bald langsam, ein richtiges Bild des Liebesverkehrs. Die Geige die Braut, der Bogen – gespannt – der Liebende und der Arm des Geigers das Brautlager. Man sagt ja auch, eine Frau fiedeln, sie geigen.«

»Ja,« die Augen des Alten leuchteten plötzlich verständnisvoll auf, er drehte die Kurbel ein wenig: »sie orgeln.«

»Sehen Sie,« rief Thomas vergnügt und warf gleichzeitig der Bauerndirne, die neugierig lüstern zuhörte, einen aufmunternden Blick zu, den ihr Liebhaber mit einem heftigen Stoß in ihre Rippen unschädlich zu machen suchte. »Sehen Sie, Sie verstehen schon, begreifen auch, warum die Menschen im Konzert das Orchester sehen wollen, das ja ein vervielfachtes Brautbett ist mit dem Kapellmeister als gewaltigen Herrscher der Orgie. Und gerade der Kapellmeister mit seinem Taktstock, der auf und ab und hin und her geht, ist eine Erfindung des Eros, gleichsam Mensch gewordenes Testikel- und Ovarienferment. Nein, nein –.« Er strich mit einer seiner großen Armbewegungen die Einwände des Zuhörers weg, obwohl dieser Zuhörer nichts einzuwenden hatte, da er schon längst 180 nichts mehr von allem verstand. »Wenn einzelne sich so setzen, daß sie den Dirigenten nicht sehen können, so ist das nicht Liebe zur Musik, sondern Flucht vor der Erregung. Denn nicht bloß das Auf und Ab im Orchester und beim Kapellmeister wirkt auf das Auge, sondern vor allem der Taktstock. Der Gedanke an das Schlagen, an den gezüchtigten Körperteil, der in Posaune und Trompete versinnbildlicht ist, während die Flötentöne das Wimmern des Geschlagenen verdeutlichen. Die Flötentöne beibringen – Sie verstehen? Empfindlichen Naturen ist so etwas zu viel, die schließen die Augen und verstecken sich so vor der Gewalt der Empfindung. Daher stammt auch die Idee des verdeckten Orchesters, die von Augensündern ersonnen worden ist. – Warten Sie,« unterbrach er sich und schob einen Apfelsinenhändler beiseite, der sich an ihn heran gedrängt hatte und ihm seine Früchte hinhielt. »Nachher.«

Der Händler, ein kleiner, buckliger Kerl, dessen eines Auge mit einer schwarzen Binde zugedeckt war, während das andere verschmitzt und scharf alles beobachtete, stellte sich neben den Drehorgler.

»Ja, verehrte Herren,« begann Thomas wieder mit erhobener Stimme, als ob er zu einer Versammlung redete, »irdisch und himmlisch, Musik und Liebe sind beides. Da ist das Klavier, der Herrgott Künstler sitzt davor und läßt die Töne erklingen, diese Töne der Ehe, harmonisch und disharmonisch, Diskant und Baß gegeneinander. Da ist das Weib, das die Melodie der Grundoktave führt, ganz echt die erste Violine spielt und ihre Kinder sekundieren ihr bis zu den höchsten Stimmen des Wickelkindes. Der Baß stürmt dagegen an, reißt hie und da die Herrschaft des Themas an sich, und verliert sie wieder, folgt der Frau oder brummt und wütet . . . Ja, meine Herrschaften, das Klavier ist die Ehe, nicht etwa nur das Bild der Ehe, sondern in Wahrheit Liebesspiel, Geburt und Grab, Neigen und Fliehen, Umarmen und Kampf; wie die Glieder der Liebenden, so verflechten sich die Töne ineinander, weichen sich aus, suchen sich wieder, steigen jubelnd empor zum höchsten Himmel des Glückes und sinken nieder in dunkle Trauer. Ein Mutterleib ist das Klavier, in dessen Innern Kinder dem Leben entgegenschlummern. Lange Monde hindurch ist dieser Leib tot, dann aber kommt die große Stunde, wo junges Leben erwacht. Hier 181 hebt sich der Hammer wie ein Kinderarm, und dort wie ein Beinchen, und seltsames Entzücken durchrieselt diesen Frauenleib und klingt im Ton hinaus in die Welt. Und immer lebendiger wird es, Hammer auf Hammer pocht, Kind auf Kind, schauernde Wonnen fließen in Melodien über. Engelchöre singen ihr ewiges Lied und der Donner der Bässe ruft zum jüngsten Gericht. Der Himmel tut sich auf, Sphärenklang ertönt und die Gottheit spricht. Sehen Sie doch die schwarzen Tasten, winzige Kindersärge, die sich bewegen und aus denen der Tod singt. Ist es nicht ein großer Sarg, dieser schwarze Kasten, ein Sarg voll Hoffnung und Auferstehung, voll Liebe und Liebe. Sehen Sie doch die Flügelform, die mächtige schwarze Schwinge des Todes, des Engels, deß, der alle Freud und Schmerzen stillet. Fühlen, greifen, hören, sehen Sie es doch, daß Musik Liebe ist und Liebe Tod und Tod Leben. Gott selbst –«

Dem Apfelsinenhändler riß die Geduld, mit einer raschen Bewegung zog er den Leierkasten herum, drehte und mitten in Weltleins Dithyrambus hinein platzte der Fatinizzamarsch: Du bist verrückt, mein Kind.

Thomas war der erste, der lachend Beifall klatschte. Wie ein Tanzbär trat er in Takt von einem Fuß auf den anderen, zupfte den alten Soldatenbettler am Bart und warf ihm ein Goldstück auf die Orgel, faßte dann mit beiden Händen in den Apfelsinenkorb hinein und fing an mit den goldenen Früchten zu jonglieren.

»Es muß hübsch sein, so mit den Welten herumzuspielen,« sagte er. »Allerdings fallen lassen darf man sie nicht.« Die eine Orange war ihm entglitten und rollte gerade vor den Schlosser hin, der sie unwirsch mit dem Fuß wegstieß; Thomas entschuldigte sich treuherzig, und bat, die beiden Früchte, die er noch in der Hand hielt, der Dame zu geben, für die des Schlossers Herz schlüge.

Der junge Mann lachte höhnisch auf. »Wenn sie etwas geschenkt bekommen soll, so schenk ich ihr's. Wir wissen beide, was es bedeutet, wenn feine Herren jungen Mädchen etwas schenken und wenn Sie sich hier nicht bald wegdrücken –« Er vollendete den Satz nicht, sondern legte die geballte Faust auf sein Knie.

Thomas sah ihn nur freundlich an, ließ die beiden Orangen auf der flachen Hand tanzen und sagte: »Warum sind Sie mir böse? 182 Sehen Sie mich alten Kerl an und betrachten Sie sich selbst. Wie können Sie eifersüchtig sein, während Sie in allem mir überlegen sind?«

Der Schlosser sah auf und da er den Naser mit Pickeln erblickte, lächelte er ein wenig.

»Sie halten mir zu viel Reden, die niemand versteht. Nur daß Sie unanständig sind, das merkt ein jeder.«

Thomas schüttelte erstaunt den Kopf. »Unanständig?« wiederholte er und seine Frage klang so kindlich verwundert, daß der Schlosser eine Erklärung seiner Worte für nötig hielt.

»Sie sprechen von Musik, von Orgel und Fiedel, und meinen damit ganz etwas anderes.«

»Haben Sie noch nicht gemerkt, daß auch Sie etwas anderes meinen, wenn Sie den Hammer schwingen? Wissen Sie nicht, daß es stets bestimmte Taktfolgen sind, in denen Sie hämmern?« Thomas trommelte das Mimemotiv auf den Boden des Wagens. »Jede Arbeit bedarf der Ordnung, der Musik, achten Sie nur einmal darauf. Wenn die Leute auf der Straße pflastern, so heben und senken sie die Ramme nach bestimmtem Rhythmus; wenn eine Last mit dem Hebebaum gehoben werden soll, so geschieht es nach einer Melodie. Er steckte den Stock unter den Handwerkssack des Schlossers und, während er so tat, als ob er sich schrecklich anstrengen mußte, stieß er seltsame Töne hervor. »La la la Huuup, la la la Huuup.«

Der Schlosser nickte.

»Sie wissen also, daß in bestimmter musikalischer Weise gearbeitet wird, und daß das ein allgemeines Gesetz für die Tätigkeit des Menschen ist, auch für die geistige, wissen Sie auch, oder können es mir wenigstens glauben. Warum ist es aber so?«

Der Schlosser antwortete immer noch verdrossen: »weil es sich so besser arbeiten läßt.«

»Ja, aber warum wird einem die Arbeit leichter, sobald sie im Rhythmus ist? Weil sich in diesem Rhythmus das tiefste Wesen des Menschen ausspricht, weil das Kind in ihm lebendig wird, das alles zum Spiel gestalten muß, weil der mechanische Ernst unerträglich ist, und man ihn phantastisch umgestalten muß. Es steht gar nicht in unserem freien Willen, die Dinge anders als rhythmisch 183 aufzufassen. Horchen Sie auf die Stöße der Schienen. Schon in der ersten Minute wird es Ihnen klar, daß diese Stöße etwas erzählen, etwas singen, das heißt, sie tun das im Grunde genommen gar nicht, aber Ihr Ohr legt ihnen die Melodie unter. Und so machen Sie es mit dem Brausen des Windes, mit dem Rauschen des Wassers, dem Klatschen des Regens, dem Wirbeln der Blätter im Wind, dem Bellen des Hundes, den Drehungen des Schwungrades, mit den Stunden, Tagen, Jahren, mit Sonne, Mond und Sternen. Alles das, mag es so unregelmäßig vor sich gehen wie nur denkbar, wird vom Menschen melodisch gemacht, in Regeln der rhythmischen Folge gebracht. Warum? Da liegen Zwangsverhältnisse vor, die durch das Lebendigsein selber bedingt sind und die gelehrtere Leute als wir beide enträtseln müssen. Eines aber werden Sie ohne weiteres verstehen. Neun Monate lang liegt das Kind im Mutterleibe und den größten Teil dieser Zeit hat es als einzige Beschäftigung den Herzschlag. Das einzige, was es wahrnimmt, was ihm deutlich sein muß, ist der regelmäßige Takt des Pulses. Längst vor jedem Einfluß auf irgend einen der Sinne, längst vor der Geburt, längst ehe das Kind von der Welt auch nur das geringste erfährt, wird es an den Rhythmus gewöhnt, an ein Auf und Ab, ein Hin und Her. Und diesem Auf und Ab, diesem Hin und Her begegnen Sie nun überall. Am stärksten, eindringlich und unvergeßlich ist aber das Hin und Her des Mannes im Weibe.«

Der Schlosser fuhr auf: »Hören Sie mit diesen Schweinereien auf, sonst haue ich Ihnen eine runter.«

»Dieser Schweinerei verdanken Sie Ihr Leben. Ehret Vater und Mutter, heißt es. Sie sollten nicht Ihre Eltern Schweine nennen.«

»Meine Eltern, was gehen Sie die an, was haben die damit zu tun? Ich verbitte mir, daß Sie meine Mutter in Ihren Dreck mit hineinziehen.«

Thomas lächelte milde. »Ein Junge, den ich kannte, sehr gut kannte, denn ich war es selbst, sagte, als ihm ein Kamerad die Geschichte von der Zeugung erzählte: Vielleicht sind deine Eltern solche Schweine, so etwas zu tun, meine Eltern tun es nicht. Sie haben viel Ähnlichkeit mit diesem Jungen.«

Der Schlosser stutzte einen Augenblick, dann sagte er: »Ja, 184 aber man spricht von so etwas nicht, wenigstens nicht auf der Eisenbahn.«

»Nein,« erwiderte Thomas, »man spricht von so etwas nicht, aber man führt die Mädchen an einer Lokomotive vorbei und die spricht noch viel deutlicher als ich.« Er steckte den rechten Zeigefinger in die linke Faust und fuhr damit hin und her.

 


 


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