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Als sie weinend den Gang hinab in ihr Zimmer eilte, streckte die Tochter mitleidig den Kopf aus ihrem Stübchen. Frau Agathe scheuchte sie heftig zurück. »Kind, Kind, wann wirst du vernünftig werden? Du siehst doch, ich habe meine Uniform an, komme vom Onkel, und du sollst mir nicht nahe kommen.« Damit schlug sie ihr die Tür zu. In ihrer Verzweiflung über ihres Bruders wunderliches Wesen blieb sie jedoch zögernd davor stehen, und nun entspann sich zwischen den beiden Frauen eine eifrige Unterhaltung.
In fliegender Hast erzählte Agathe ihre Abenteuer. Ratlos schlug sie schließlich die Hände zusammen und seufzte: »Was soll ich tun? So kann es nicht weiter gehen. Der Onkel schnappt einfach über. Den gräßlichen Vorbeuger mag ich nicht rufen. Er ist imstande, meinen leiblichen Bruder in ein Irrenhaus zu sperren. Wer soll mir helfen?«
Während die Frau draußen jammernd sich auf den Stuhl warf und sich die Maske vom Gesicht riß, um sich die Tränen zu trocknen, hatte Alwine drinnen ganz andere Kämpfe zu bestehen. Um den 22 Onkel sorgte sie sich nicht. Sie war von Kindheit an gewöhnt, in ihm den Unfehlbaren zu verehren, dem alles glücken mußte, und sie zweifelte auch jetzt nicht, daß seine Krankheit zum Besten ausgehen werde. Aber schon lange harrte sie auf eine Gelegenheit, ihre eigenen heimlichen Pläne zur Ausführung zu bringen. Sie war entschlossen ihr Glück selbst zu schmieden. Jetzt stand sie unschlüssig da und wurde bald rot bald blaß, so schämte sie sich ihrer versteckten Wünsche. Zweimal hintereinander öffnete sie den Mund, um zu sprechen, zweimal stockte ihr das Wort. Ehe sie zum drittenmal begann, kniff sie sich selbst in den Arm, um sich Mut zu machen, setzte das frechste Gesicht auf, das sie zur Verfügung hatte, so wie sie es in der Schule zu brauchen pflegte, wenn sie mit ihrem lockengeschmückten Geschichtslehrer unterhandelte, und sagte dann kaltblütig. »Weißt du, Mama, der Onkel braucht gar keinen Arzt, er braucht geistlichen Zuspruch.«
»Kind,« rief Agathe mitten im Weinen jubelnd, »den Gedanken hat dir Gott eingegeben. Gewiß, der Pfarrer muß her, der Onkel lästert ja mit seiner höheren Berufung den Himmel und alle Heiligen. Unser guter Breitsprecher, der wird helfen.« Plötzlich sank ihr der Mut. »Nein,« unterbrach sie sich. »Das geht gar nicht. Du weißt, er hat August neulich auf meinen Wunsch ins Gebet genommen und ihm vorgestellt, Wanzenstiche seien eine Schickung Gottes, man müsse sie in Demut hinnehmen und dürfe nicht einmal kratzen; dafür hat ihm August ein lebendes Exemplar zugeschickt als nächtliche Versuchung der Demut. Es war der einzige Feind, den er nicht hingerichtet hat. Seitdem ist es zwischen den Beiden aus.«
Alwine stockte der Atem. Jetzt mußte die Entscheidung fallen. Alle Kraft zusammennehmend, zwängte sie die Worte hervor: »Es braucht ja nicht gerade der Breitsprecher zu sein.«
Agathe sprang auf. »Ausgezeichnet«, rief sie. »Der andere, der Vikar, der ist der Richtige.«
Alwine bestätigte das jenseits der Wand mit einem ernsten Kopfnicken.
»Küssen möchte ich dich,« fuhr Agathe fort, »warte nur bis ich die Uniform abgelegt habe. Vikar Ende, der paßt zum Onkel. Der versteht zu reden und August mag ihn gern leiden. Auf 23 Wiedersehen, mein Herzenskind.« Eilig rannte sie davon und kurz darauf ging die zahnlose Trude, den Herrn Vikar herbeizuholen.
Alwine stand noch eine ganze Weile an der Tür. »Der ist der Richtige,« wiederholte sie leise und ihr Kleid fassend, tanzte sie in der Stube herum und sang dazu nach eigener Melodie: »Der und kein anderer, der ist der Richtige.« Plötzlich hielt sie inne. Die Klingel tönte. Das war der Vikar. Hurtig, hurtig, ein Schürzchen vor, daß man fleißig ausschaut, die Haare gestrichen, daß man der Madonna ähnlich wird, mit der man neulich verglichen ward. »Langweilig ist es, solch frommes Gesicht. Die Vorliebe treib' ich ihm aus,« dachte sie, als sie sich prüfend beschaute. Sie trat recht ehrbar zur Türe, blieb aber noch einmal stehen und zerrte mit raschem Griff ein Löckchen am Ohr hervor. Das Ohr sollte er sehen, das war hübsch.
Er sah es auch wirklich und fühlte nicht übel Lust, es zu zausen, als er nun in eifriger Beratung neben den beiden Frauen saß. In Kurzem war der Kriegsplan entworfen und sicheren Mutes schritt Paul Ende seinem Schicksal entgegen, das tolle Pläne brütend in der Scharlachkammer lag.
Dort war Herr Müller inzwischen seinen Gedanken nachgegangen, die ihn auf immer weitere Abwege führten. Anfangs merkte er gar nicht, daß seine Schwester sich fortgeschlichen hatte. Das Gesicht zur Wand gekehrt, sprach er weiter: »Diese Vernichtung des Wanzengeschlechts durch Scharlach ist ein Symbol. Es zeigt den Weg, auf dem das Schicksal vorwärts schreitet. Es läßt uns einen tiefen Blick in das Geschehen der Dinge tun. Da steht sie vor uns, die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, ein tausendfacher Wanzenmephistopheles im roten Mantel. Nicht wahr, das hast du nicht gedacht, daß ich von meinem Standpunkt aus eine neue Epoche der Goetheforschung anbahnen werde. Was gäben wohl die Herren Gelehrten darum, wenn sie plötzlich das Wesen des Dichters vor sich sähen, so deutlich wie ich es sehe. Oder hältst du es für Zufall, daß der Teufel sich den Herrn der Wanzen nennt, daß die Diener des Gutes schaffenden Bösen Insekten sind? Geheime übersinnliche Zusammenhänge bestehen da, die prophetische Zunge des Dichters redet von dem, was jetzt geschieht. Mich ruft ein großes 24 Werk in tausend Stimmen und auch die Goethes erklingt. Ein unermeßliches Feld der Forschung, des Nachdenkens öffnet sich vor mir. Und immer fester wurzelt sich in mir die Überzeugung, daß in diesem Kopf zukünftige Welten verschlossen sind.«
August fühlte den Drang, diese Welten in seinem Kopf mit einer Gebärde zu zeigen. Da er jedoch gerade dabei war, sich unter der Bettdecke die Strümpfe anzuziehen, hatte er die Hände nicht frei, stieß also mit aller Kraft den weltenschwangeren Schädel gegen die Wand, gleichsam um sich selbst durch den Klang von seiner Fülle zu überzeugen. Der Schmerz kam ihm unerwartet, verdutzt fuhr er herum und starrte nun, verwundert über der Schwester Flucht, in das leere Zimmer.
Sofort aber begann er seine Fäden für sich weiter zu spinnen. Das Gebiet des Gutes schaffenden Bösen flüchtig ins Auge gefaßt erschien ihm endlos. Rasch begann er es zu teilen. Das Studium vom Nutzen der Krankheit stellte allein schon eine Lebensaufgabe vor. Die Grausamkeit, der Neid, die Dummheit, alles erschien ihm auf einmal in neuem Licht. Er versenkte sich so in seine seltsamen Ideen, daß er alle Laster, Gemeinheiten, Fehler im Augenblick lieb gewann, daß er sie gleichsam liebkosend hätschelte.
Der rote Schimmer, der jetzt bei Sonnenuntergang den ganzen Himmel bedeckte und sein Zimmer mit feurigem Licht erfüllte, brachte ihn auf blutige Gedanken. Die Geschichte der Religionen zog in raschen Bildern an ihm vorüber, die Menschenopfer, das Foltern der Märtyrer, die Ketzerverfolgungen, die Glaubenskämpfe, all das sah er jetzt wie eine blutige Abendröte, die den heiligen Frieden der Nacht verkündet. Und diese Nacht selbst, die verschriene, düstere, böse Nacht, war sie nicht die Schöpferin alles Lebendigen, die Freundin der Zukunft, die unzählige Leben weckte? Plötzlich zum Ausgangspunkt zurückkehrend, lachte er voll Siegesbewußtsein und Stolz, als ihm einfiel, daß es ja die Nacht war, in der er das Symbol alles Schlechten, die roten Feinde gemordet hatte. Alles war ihm in Rot getaucht, was er sah und dachte, und zwischen allem Blutigen tanzte neckisch das Rot als Liebesfarbe hervor und verwirrte seine Gedanken noch mehr.
In diesem Augenblick, als Augusts Verstand just zwischen der 25 Kirche und der Liebe stand, trat der Vikar in sein Zimmer. Sein Erscheinen gab dem armen Narren Gelegenheit, sein Gewebe weiter zu spinnen. »Sie kommen wie gerufen, lieber Vikar, wie eine Erscheinung von oben, als ein echter Bote Gottes«. Dabei streckte er ihm vom Bett aus die Hand entgegen.
Ende ging mit den besten Vorsätzen ans Werk, er wollte vorerst still zuhören, um sich ein unbefangenes Urteil über den Kranken zu bilden, dann aber mit ruhiger Würde als wahrer Seelsorger eindringlich sprechen. Trotzdem war er seiner Rolle gerade jetzt nicht gewachsen. Mochte es das Ungewöhnliche seiner Aufgabe sein oder das vertraute Gespräch mit den beiden Frauen, kurz sein Gemüt war erregt, und seine Verwirrung wurde noch größer, da August die einmal ergriffene Hand nicht wieder losließ. Ein Gefühl der Unfreiheit überkam den Geistlichen.
»Ich dachte gerade über das Eheverbot für Geistliche nach und gleichsam als Verkörperung dieser Frage stehen Sie vor mir, im roten Sonnenlicht, jung, wie auf Freiersfüßen wandelnd. Wäre ich nicht hellsehend geworden, ich könnte glauben, Ihr Kommen entscheide das Problem zu Gunsten der Priesterehe. So aber blicke ich tiefer und erkenne nur ein Vorzeichen Ihrer Zukunft. Sie passen nicht zum Verlobten Gottes, und ich sehe die Locken wehen, in denen Sie sich fangen werden.«
Der Vikar machte seine Hand aus dem Griff des Kranken frei und strich mit der Rechten über die Augen; es tanzte wirklich eine Locke davor. »Verzeihen Sie, Herr Müller,« begann er, »wenn ich freimütig spreche. Ich bin protestantischer Geistlicher, und mir tut es weh, Sie so reden zu hören. Die Seele des Menschen ist ein rätselhaftes Wesen, mit heimlichen Winkeln und Schatten. Nur das Licht, das aus einer anderen Seele strahlt, hellt sie auf. Wir Priester bedürfen der Ehe, der offenen wahrhaftigen Gemeinschaft mit einem anderen Wesen, an dem wir lernen Seelsorger zu werden. Die Ehe ist die große Schule für jeden, eine Bestimmung des Menschen, wie es die alten Geschichten von der Schöpfung des Weibes tiefsinnig lehren. Das Wesen des Priesters, wie es der Ehrgeiz Roms geschaffen hat, ist der ärgste Abfall von Christi Lehre. Das ist gerade der tiefste Sinn des Evangeliums,. daß sich niemand zwischen das 26 Herz des Menschen und seinen Gott drängen soll. Der Geistliche ist Mensch und bleibt es auch in seinem Amte. Nichts Menschliches darf ihm, dem Verkünder der Menschenliebe, fremd sein, am wenigsten die Ehe, die ihn die eigenen Schwächen überwinden, die fremden liebevoll dulden lehrt.«
In diesem Augenblick wurde der feurige Redner von einem schallenden Gelächter seines Zuhörers unterbrochen. »Entschuldigen Sie, lieber Herr Ende, entschuldigen Sie mein ungebührliches Lachen. Sie sprechen so warm, und ich nehme herzlich teil an Ihrem zukünftigen Glück, das aus Ihren Augen leuchtet. Aber der Schluß, das war der ganze Breitsprecher, ein typisches Beispiel geistiger Ansteckung.«
Der Vikar fiel ein: »Oh bitte, alles Persönliche wollen wir doch aus dem Spiel lassen.«
Müller lachte noch lauter. »Haben Sie keine Angst, ich verrate es der Schönen nicht, daß Sie sie gewissermaßen als Geduldsprobe heiraten wollen.«
Paul Ende verlor die Fassung. »Ich meinte das nicht,« rief er hastig. »Das Hineinziehen meines Amtsgenossen und Vorgesetzten möchte ich vermieden sehen.«
In Müllers Augen leuchtete der Spott auf. »Aber das gehört gerade hierher. Nein, bleiben Sie ruhig sitzen! Sie sind von ihm mit Demut angesteckt worden, und das ist eine Gefahr, diese Infektion. Wenn Sie sie aufkommen lassen, so dauert es kein Jahr, und Sie sind aus einem Verkünder der Menschenliebe ein Priester geworden. Denn Priester, oder wenn Sie wollen Pfaffen gibt es auch unter den sogenannten Protestanten; das werden Sie mir zugeben. Ja, es will mich bedünken, der evangelische Geistliche sei auch von Amts wegen zwischen Gott und Menschen gestellt. Nur gibt ihm unser Bekenntnis nicht die Macht, die der katholische Priester mit seiner Kraft, in der Messe den Leib Gottes zu schaffen, besitzt. Das ist ein großer Fehler unsrer Kirchenverfassung, an dem die evangelische Lehre einmal zu Grunde gehen wird.«
»Es ist der große Vorzug unsrer Lehre,« entgegnete der Vikar, »daß sie den Aberglauben der priesterlichen Macht, zu binden und zu lösen, gebrochen hat. Der Glaube allein, nicht die Kirche gibt uns 27 Erlösung. Das Wesen des Protestantismus ist die Freiheit des Einzelnen.« Er hatte ganz vergessen, daß er mit einem Verrückten sprach, aber schon die nächsten Worte Müllers erinnerten ihn daran.
»Ich habe nie begriffen,« begann dieser, »was das Wort Protestantismus noch mit unsrer Lehre zu tun hat, es sei denn, daß sie pro testiculus eintritt gegen das Zölibat. Unser Bekenntnis beruht nicht mehr auf einem Protest gegen eine Lehre, sondern ist selbst eine Lehre, eben die Lehre vom Glauben. Das Wort evangelisch paßt für uns, schon deshalb, weil bei uns so schön geredet wird. Protestanten können niemals eine gemeinschaftliche Kirche bilden, ja gerade die Kirche verwirft jeder Protestant ohne weiteres, wie Christus selbst sie verwarf. Die Bildung einer Kirche, der Anschluß an die Gemeinschaft einer solchen ist eine Infektionskrankheit der Seele, für die der Protestant unempfänglich ist.« August hatte sich auf die Bettkante gesetzt und betrachtete nachdenklich seine nackten Beine. »Man weiß zu wenig von ansteckenden Krankheiten, geistigen und körperlichen. Das wird sich nun ändern. Wenn ich die Erfahrungen der letzten Tage mir erst ganz zu eigen gemacht habe,« – er riß hastig das Bettlacken oben von der Matratze fort und suchte nach irgend etwas in den Falten des Überzugs – »werde ich sie wissenschaftlich erproben und bearbeiten, und ich zweifle nicht daran, daß sich sehr bald auf der neuen Grundlage eine neue Wissenschaft aufbauen wird. Einiges läßt sich schon jetzt darüber sagen. So möchte ich annehmen, daß auch hier ein gewisses Gesetz der Gegensätze herrscht; ich meine, daß eine psychische Infektion den Körper umgestaltet, während die körperliche Ansteckung den Geist verändert. Das letztere habe ich an mir selbst erfahren. Mein Scharlachfieber hat meinen gesamten inneren Menschen verwandelt, so sehr, daß ich noch gar nicht daran zu glauben wage. Für die geistige Infektion aber bietet gerade die Kirche ein gutes Beispiel. Ist ein Mensch priesterlich angesteckt, so erleidet sein Gesicht, seine Haltung, sein ganzes äußeres Wesen eine bestimmte Wandlung. Das zeigt sich sogar in der Kleidung. Sie ist die unausbleibliche Folge der Ansteckung. Genau so wie ich rot geworden bin, weil ich das Scharlachfieber bekam, so tragen Sie schwarzes Gewand, weil Sie an dem Kirchenfieber leiden, an einer ganz bestimmten Sorte, dem 28 Demutsfieber; das ist eine fatale Abart. Ihr Gift ist das Bewußtsein der Sünde und der Angst. Die Demut will nicht bemerkt sein, sie schleicht im Dunkeln. Sie verbreitet um sich die Nacht in Gestalt des schwarzen Talars. Es ist ein psychischer Ausschlag; ebenso wie die Tonsur der Katholiken ein psychischer Haarausfall ist, in dem sich der Gedanke ausdrückt, daß der Priester dem Himmel näher steht, als andere Menschen, daß die Seligkeit aller Heiligen sich in ihm widerspiegelt, daß die Offenbarung leichter in seinen Schädel eindringen kann. Sehen Sie, wie kahl mein Kopf ist! Sehen Sie doch? Und ziehen Sie Ihren Schluß! Die Erleuchtung von oben sengt gewissermaßen das Haar fort, und wird sie sehr stark, so kommt es zu einer Ansammlung von Strahlen, zum Heiligenschein.«
Der Vikar hatte schweigend zugehört. Er sah ein, daß er mit seinem Widerspruch die Verwirrung nur vergrößert hatte, und versuchte nun, auf die unsinnigen Gedanken seines Schutzbefohlenen einzugehen. »Sie eröffnen da wirklich eine weite Aussicht für den Forscher und Seelenkünder, und ich werde mich bemühen, diesen Ideen weiter nachzudenken. Mich will aber bedünken, als ob Sie doch noch andere Hilfsquellen herbeileiten müßten. Sie erklären Massenerscheinungen vielleicht richtig, vielleicht falsch, jedenfalls aber eigentümlich. Wie aber stehen Sie zu den Einzelerscheinungen, zu den großen Männern mit ihren ausgeprägten Eigenheiten, ihren merkwürdigen Gesichtern und Gewohnheiten. Ich kann mir denken, daß eine ganz bestimmte Geistesrichtung gewisse äußere Merkmale herbeiführt. Man könnte Nietzsches Schnurrbart aus seinem Willen zur Macht herleiten, Ibsens gesträubte Mähne als Symptom des Zwiespalts zwischen Lebenslüge und Lebenswahrheit nehmen. Aber das alles ist doch nicht Infektion. Allenfalls Krankheit.«
»Autoinfektion ist es, mein Lieber. Pfui über das häßliche Wort. Selbstansteckung also. Wir sind gewöhnt anzunehmen, die Denktätigkeit spiele sich nur in dem Gehirn ab. Das ist aber düstrer Aberglaube, den sich bloß Leute leisten können, die niemals gebissen worden sind. Wenn das Gehirn denkt, so denken die Schnurrbartspitzen mit, ebenso wie die Fingernägel oder die Darmhäute. Das weiß jeder. Zweifellos sind diese Vorgänge einer wissenschaftlichen Forschung zugänglich, und unsere Zeit, die sich so aufgeklärt 29 vorkommt, beweist nur, daß sie noch tief im Aberglauben steckt, wenn sie darüber lacht, daß Menschen mit verschiedenen Seelen verschieden riechen, wenn sie dummstolz behauptet, man könne die Zukunft nicht aus der Hand lesen oder den Charakter nicht aus der Schädelbildung beurteilen. Ein Hühnerauge entsteht ebensogut durch den Druck der Gedanken, wie durch den Stiefeldruck, und die Wissenschaft wird noch so weit kommen, aus der Form der Entleerungen die Gedanken festzustellen, mit denen sich der Mensch am stillen Ort einsam beschäftigte.« Augusts Blick strahlte Begeisterung, als er im selben Moment das Gerät sah, mit dem Agathe vorsorglich seine Zelle ausgestattet hatte. »Sehen Sie, Herr Vikar, solch einen Stuhl, bei uns gemeinhin Nachtstuhl genannt, wird man später Probestuhl der Gedanken nennen. Man wird ihn in allen Gefängnissen aufstellen, um den Geheimnissen der Verbrecher auf die Spur zu kommen. Die Könige werden fremden Staatsmännern Ehrengeschenke damit machen und besondere Spione, mit dem Titel Gedankenriecher halten, um die Pläne der eifersüchtigen Nachbarn zu erforschen. Dann erst wird es eine hohe Politik geben.« Ergriffen von der Tiefe dieser Gedanken hob August die Augen zur Decke und schwieg in ehrfurchtsvollem Staunen über den Reichtum seiner Eingebungen.
Dem Vikar schwindelte der Kopf. Mit einer verzweifelten Anstrengung suchte er das Gespräch abzubrechen. »Ich danke Ihnen,« begann er, »für diese unvergeßliche Stunde. Sie gaben mir Eindrücke in die geheimsten Abgründe menschlichen Daseins,« August stand gerade am Probestuhl der Gedanken, »und ich wage es nicht, weiter zu hören, auf die Gefahr hin, ganz überwältigt zu werden. Alles das verlangt stilles Denken und Einsamkeit und die Nacht, die jetzt hereinbricht, wird mir Muße geben, mich in die neuen Ideen einzuleben. Gestatten Sie, daß ich an Ihrem Lager sitzend, Ihren Anregungen nachträume. Sie selbst aber sollten Ihre kostbare Kraft schonen und im Schlaf sich für die wunderbare Verwandlung stärken.«
August lächelte zufrieden. Er dozierte sitzend weiter: »Mein Hirn ist in Gärung, das weiß ich, und ich erkenne dankbar Ihre Fürsorge an. Wer, wie ich, berufen ist, Großes zu leisten, darf nicht 30 leichtfertig mit seinem eigenen Menschen umgehen. Gestatten Sie mir nur, meine Ideen kurz abzuschließen. In dieser Wirkung des Gedankens auf den Bau des Körpers haben wir wohl den besten Weg, das ganze Phänomen der Ansteckung zu studieren. Denn um Ansteckung handelt es sich dabei. Der Gedanke, die Scham verletzt zu haben, steckt die Wangengefäße der Frau an, so daß sie sich mit Blut füllen. Die Idee der Vasallentreue durchseucht den Menschen Bismarck so, daß er das Ansehen einer Dogge bekommt. Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Für den tiefsinnigen Forscher, namentlich wenn er solche Erfahrungen machte wie ich, handelt es sich vielmehr darum, zu ergründen, welche körperliche Ansteckung bei großen Männern bestimmte geistige Richtungen hervorgebracht hat, in welchem Zusammenhang beispielsweise Goethes Dichtkunst zu den Pocken steht, die er als Knabe durchmachte. Man wird von jetzt an ganz anders das Leben unserer Geistesfürsten durchforschen müssen, viel genauer.« Bei diesen Worten gab August einen allgemein menschlichen Beweis, wie solch Durchforschen zu denken sei, klappte den Deckel zu und legte sich wieder hin. »Der Schnupfen, den ein Kind durchmacht, hat wahrscheinlich mehr Bedeutung als ein Schulunterricht, ja man wird das Rätsel eines kantischen Verstandes eher durch ein Studium seiner Nasenschleimhäute, als durch das Lesen seiner Werke lösen. Nur müßte dazu jeder Mensch, dessen Geist durch eine Ansteckung verändert worden ist, mittelst eines besonderen Zeichens kenntlich gemacht werden, damit sich das Studium nicht zu sehr zersplittert, noch mehr aber, damit er sich seines hohen Berufes stets bewußt bleibt. Ich habe in der Muße, die mir meine Schwester gegönnt hat, darüber nachgedacht, welches Symbol ich selbst erwählen soll. Mir fiel dabei dies in die Hände.« August holte unter der Bettdecke eine Streichholzschachtel hervor und öffnete sie behutsam. »Sehen Sie, das ist der letzte Feind, den ich hingerichtet habe. Ich dachte daran, ihn von Rubinen umgeben auf schwarzem Grunde fassen zu lassen und als Ring zu tragen, gleichsam als Devise: Durch Nachtkampf zum Lichtsieg. Was meinen Sie dazu? Dies wäre noch mehr als Goethes Seelensucher und Agathe würde sich darüber ärgern. Die Wanze als Symbol der Schlacht in der Finsternis, der Rubin als Wahrzeichen des strahlenden Scharlachsieges.«
31 Der Vikar seufzte. Gelang es ihm nicht, das Scharlachwanzengespenst zu bannen, so war beider Nachtruhe verloren.
»Halten Sie ein, Herr Müller,« bat er. »Die neue Lehre, die Sie mir gaben, erfüllt all mein Wesen und ich bin nicht mehr fähig, irgend etwas anderes zu denken. Wenn Ihr rastloser Geist weiter schweift, gönnen Sie mir Ruhe, mich zu fassen.«
August schob ruhig seine Streichholzschachtel zu, drückte dem jungen Freunde die Hand und sagte: »Sie haben Recht. Ich darf den ersten Schüler, den ich finde, nicht erdrücken. Gute Nacht denn, für heute.« Damit wandte er sich um und schon in der nächsten Minute hörte der Vikar an seinem Schnarchen, daß er schlief.
Paul Ende wischte sich den Schweiß von der Stirn. Halb mitleidig, halb ängstlich beobachtete er den Schlafenden, immer gewärtig, daß er erwachen und dann in Tobsucht ausbrechen werde.
So saß er eine Stunde geduldig da. Allmählich aber, als es im Zimmer stockfinstre Nacht wurde, überschlichen ihn allerlei andere Gedanken und umspannen ihn mit Träumen. Ihm war, als ob er auf der Kanzel stehe um zu predigen, als er jedoch die Hand zum Segen hob, sah er, daß um den Finger eine blonde Locke gewickelt war. Er wollte sie abstreifen, da klang die Locke wie springendes Glas und eine Mädchenstimme tönte an sein Ohr: Herr Vikar. Zweimal machte er den Versuch. Beim dritten Male erwachte er und hörte nun deutlich, daß Alwine vom Garten her nach ihm rief. Gleichzeitig vernahm er, wie ein Steinchen gegen das Fenster anflog. Er erhob sich, sah noch einmal vorsichtig nach seinem Schützling und eilte dann zu dem Balkon.
Wirklich, unten auf dem Rasen sah er ein weißes Kleid schimmern. Als er die Tür hastig aufriß, wollte es das Schicksal, daß Alwinchen gerade einen neuen Stein nach oben warf. Fast hätte er den würdigen Geistlichen mitten in das Gesicht getroffen, aber er wich noch glücklich aus, freilich weder ihm noch allen anderen zum Heil, wie der Verlauf dieser Geschichte zeigen wird. »Warte, du loses Ding,« sagte er zu sich; ohne die Frage des Mädchens nach ihres Onkels Befinden zu beantworten, stieg er über das Geländer des Balkons hinweg und ließ sich an dem Weinspalier geschickt zu Boden gleiten. 32