Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Unterdessen hatte Agathe ihren immer noch betäubten Bruder mit sich fortgezogen. Auf der Straße angelangt blieb er stehen. »Was war das?« fragte er.
»Blamiert hast du dich,« fuhr Agathe auf und setzte ihm den Hut auf, den sie trotz aller Eile im Vorbeigehen aufgerafft hatte, »Dich und mich blamiert.«
»Blam–, Ra–da–blam, radablam, blamiert. Natürlich. Nein, das Auditorium ist mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Diese Weiber tun, als ob sie einen festverschlossenen Keuschheitsgürtel statt einer Seele hätten. Aber die dicke Frau Wagner, die mit den Brillanten, die hat mich verstanden. Bei hellichtem Tage, vor ihrer aller Augen eilt sie durch den Saal und schwingt die Glocke.«
Agathe sah ihn verblüfft an. »Was meinst du damit?«
»Du hast Augen und siehst nichts und Ohren und hörst nichts. Du wirst doch wohl wissen, was eine Wölbung ist, in der sich ein Schwengel hin und her bewegt.«
»Ich verstehe dich wirklich nicht.«
»Der Schwengel, das war der selige Willen, und die Glocke, das warst du, und daß der Schwengel gehörig bewegt worden ist, hat neun Monate –.«
»August!«
» – Monate darauf Alwinens Klingelgeschrei bewiesen.«
Agathes Hutbänder sträubten sich vor Entsetzen. »Schäme dich !«
»Ich? Ich habe in jener Nacht vermutlich ruhig geschlafen.«
131 »August!«
»Himmelkreuzdonnerwetter! Schockschwerenot, Bomben und Granaten, verfluchte Schweinerei –«
Agathe taumelte schreckensbleich gegen die Wand.
»– ich heiße Thomas.«
»Ja, ja; also Thomas, sei doch nur ruhig, die Leute gucken ja zu.«
»Ach was, Leute hin, Leute her, vom Glockenläuten ist die Rede. Diese dicke Weinhändlersche wollte gern öffentlich Beilager halten, wie die Königinnen der Hunnen oder wie Absalon mit den siebzig Weibern seines Vaters, und weil wir so etwas von Polizei wegen nicht mehr erlauben, hat sie mich durch das Packen am Haarschopf absalonitisch abgestempelt und die siebzig anderen Weiber haben mit weit aufgerissenen Augen – – –«
In diesem Augenblick trat der Professor Kietz heran.
»Ich freue mich, Sie noch zu treffen, Herr Weltlein, Ihre Rede war einfach famos. Das mit dem Privatunterricht der Knaben und Mädchen im Huren, Verzeihung, gnädige Frau, aber ich kann nur wiederholen, die Rede Ihres Herrn Bruders war einfach – –«
»Haarsträubend,« fiel Agathe ein.
»Ja, vielleicht auch das, aber schaden kann ein Studium dieser wichtigen Beziehungen des Menschengeschlechts nicht und insofern hat Herr Weltlein ganz recht. Durch die Klingelei hat ja Frau Walter auch dafür gesorgt, des Redners Worte unvergeßlich zu machen.«
Thomas strahlte. »Siehst du, der Mann versteht mich! Ja, er versteht das Glockensymbol.«
Kietz spitzte die Ohren. »Das Glockensymbol?«
»Ach, das ist so ein brüderlicher Scherz.« Agathe trat verlegen von einem Fuß auf den andern.
»Sie markiert schon die Glocke, und horch, da schallt's vom Turm!«
Wirklich erklang eben die Glocke der katholischen Kirche.
Der Professor schaute abwechselnd auf Thomas und auf die verlegene Schwester.
»Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.«
»Anständige Leute können es gar nicht verstehen,« fiel Agathe 132 ein. »Sie müssen auf den Unsinn nicht hören, den mein Bruder schwatzt.«
»So, Unsinn? Hörst du nicht, was der Geist durch den Mund der Glocke spricht? Du bist doch selber eine Glocke. –«
»Ich verbitte mir ein für allemal diese Ungezogenheit.«
»Ja, hier muß der Glockenstrang ungezogen bleiben.«
»August!«
»Himmelkreuzdonnerwetter.«
»Schockschwerebrett, Bomben und Granaten,« unterbrach der eben hinzutretende Lachmann.
»Verfluchte Schweinerei,« ergänzte Thomas. »Also du besinnst dich noch auf meine Kirchenlieder vergangener Zeiten? Das ist nett von dir. Aber nun gedenket der Stunden und achtet des Symbols.«
»Wenn Sie doch endlich die Güte haben wollten, mich über das Symbol aufzuklären, ich kann an dem Läuten nichts Besonderes finden.« Kietz hatte den Kopf in die Höhe gereckt, so daß ihm beinahe der Zylinder herunterrutschte, und starrte hoch zum Glockenstuhl hinauf.
Thomas packte ihn am Arm, hob seine Hand und wies mit dem gestreckten Finger nach oben. »Was sehen Sie?« fragte er.
»Einen Kirchturm und einen Hahn oben darauf.«
»Ja, da steht er aufrecht und ragend und weist in den Himmel der Freude und unter ihm liegt die Kirche, die Braut.«
Der Professor wich zwei Schritte zurück, riß die Augen auf und dann meckerte er los: »Das ist unglaublich, das ist unglaublich, das muß ich den Pfaffen unter die Nase reiben, das ist unglaublich.«
Agathe war wie versteinert und hörte nicht einmal, wie Lachmann ihr zuraunte: »Schaff deinen Bruder weg, sonst gibt's ein Unglück.«
»Unglaublich,« fuhr Thomas auf, »die Wahrheit ist immer unglaublich. Der Schoß der Kirche –«
Kietz stürmte plötzlich quer über den Platz, dem Geistlichen entgegen, mit dem er neulich beim Lord das Erziehungsgespräch gehabt hatte.
133 »Kommen Sie Herr Pfarrer,« sagte er, »Sie müssen hören, was Herr Weltlein über die Kirche zu sagen weiß.« Er schob die Hand unter den Arm des Priesters und führte ihn zu dem Bürgersteig, wo Thomas Lachmann und Agathe, die ihn gewaltsam fortführen wollten, mit weit ausgebreiteten Armen von sich abhielt. Lachmann ließ die Hände sinken. »Jetzt ist nichts mehr zu retten. Der Pfaff verzeiht selbst den Verrückten keine Kirchenlästerungen.«
Er lehnte sich resigniert gegen die Hausmauer; die Arme kreuzend tat er so, als ob ihn die ganze Geschichte nichts anginge.
Agathe hielt immer noch den Arm ihres Bruders umklammert und, während ihr die Tränen herunterkollerten, rief sie einmal ums andere, »August, so hör' doch auf, August, so hör' doch auf«.
Mitten in die feierlichen Verbeugungen, mit denen sich die Vorstellung des Pfarrers Adam vollzog, platzte Thomas, dessen Rede durch das Weglaufen des Professors unterbrochen war und dessen Backen infolgedessen von unausgesprochenen Gedanken aufgebläht waren, als ob er die Posaune des jüngsten Gerichtes blasen sollte, los: »der Schoß der Kirche empfängt durch die Taufe den Menschen als Kind Gottes. Die Kirche ist ideelle Braut, stets befruchtete Mutter der Gläubigen. Vom Weihwasserbecken bis zum Altar, wohlgemerkt, Altar der Liebe, spricht jeder Stein, der die säulengetragene Wölbung hält und bildet, jede Kapelle, jedes Fenster, die Apsis, die Krypta: hier ist Mutterschaft. Der Turm weist es, die Glocke läutet es, der goldene Hahn kräht das Mysterium von der Gotteshochzeit in Sturm und Wind hinaus. Die Gestalt der Kirche, ihre Bauart, ihre Ausstattung sind nicht Zufallsgebilde, nicht Erfindungen der Kunst, noch weniger logische geschichtliche Entwicklungsformen, wie es die flachen Bücher ästhetischer Banausen lehren; so wie die Kirche ist, mußte sie sein, sie drückt harmonisch vollkommen aus, was sie ist. Ist es nicht so, Herr Pfarrer?«
Kietzens Füße hatten sich wie von selbst in die fünfte Tanzpositur gestellt, der rechte höchst schön über den linken, in dem rötlichen Spitzbart des etwas geneigten Kopfes spielte seine eine Hand, die in einem hellgelben Handschuh steckte, während der Arm sich auf die andere stützte und seine Augen lugten möglichst mephistophelisch über die Brille hinweg nach dem geistlichen Herrn.
134 Der aber antwortete freundlich.
»Ungefähr ließe es sich so ausdrücken und daß die Übereinstimmung zwischen Idee und Gestalt der Kirche nicht dem Zufall zu verdanken, auch nicht Folge irgend welcher menschlichen Entwicklung ist, fühlt ein jeder, der in das Gotteshaus tritt, wie viel mehr ich, dem täglich sich neu das Mysterium der Formenharmonie des Baues offenbart«.
Der Professor wendete sich um zu Lachmann, der noch immer verdrossen an der Wand lehnte und dessen Erregung sich nur ab und zu in kurzen Hieben seines Stockes verriet.
Thomas hatte den Blick auf den Freund gerichtet: »Ich kann mir denken, daß du mich hauen möchtest. Ihr Ärzte seid die geborenen Sadisten, symbolische Bluthenker, Schinder und Giftmischer, aber denke nur nicht, alter Knabe, daß du Weltleins Gedankenbrut mit andeutenden Stockschlägen bändigst. Ich gehe lange schon schwanger damit, und sie zurückzuhalten wäre ebenso dumm, als wenn du einer Kreißenden einen Pfropfen vor die Scheide legen wolltest.«
Agathe suchte ihn fortzuziehen. »Schäme dich,« rief sie, »auf offener Straße solche Dinge.«
»Hast du nie von Sturzgeburten auf offener Straße oder in der Droschke gehört? Die Gebärmutter kümmert sich doch nicht darum, ob ihr im Promenadekostüm oder im Hemde seid. Und daß sich der Herr Pfarrer, den du so ängstlich anschaust, als Junge in die Hosen gemacht hat, was doch auch eine Sturzentbindung ist, wird wohl vorgekommen sein.«
Der Geistliche nickte sauersüß lächelnd, die Situation wurde unbehaglich.
»Und siehst du nicht, wie die Damen jetzt aus dem Gymnasium strömen? Was aber ist ein Haus anderes als ein Uterus.«
Pfarrer Adam schielte nach der Menge der schwatzenden Weiber in der Hoffnung, dort etwas zu finden, was ihm einen Vorwand gäbe um loszukommen, während Kietz wieder an ihn herangetreten war und ihn am Ärmel festhielt.
»Nie wäre die Menschheit,« fuhr Thomas triumphierend fort, »auf den Gedanken gekommen, ein Haus zu bauen, wenn sie nicht 135 gesehen hätte, wie sicher das Kind im Mutterleibe ist. Nicht zum Schutz vor Regen und Schnee, vor Tier und Feind wurde das Haus erfunden, sondern der Eros zwang die Menschen dazu. Es ist eine einfache Nachbildung der Zeugungsorgane des Weibes, nicht wahr, Herr Professor Kietz. Zwangsweise entstanden, etwa wie die photographische Kammer als Nachbildung des Auges oder die Eisenbrücke als Nachbildung der Knochenstruktur. Die Sprache bewahrt es ja noch auf, diese Entstehung. Atrium, Vestibulum, so nannten die Römer den Hauseingang und wir den Eingang zum Weibe und ein Impluvium ist hier wie da. Die Kirche –«
– Pfarrer Adam hatte sich von dem Griff des Professors befreit, aber Thomas hielt den Davoneilenden am Rockzipfel fest.
»– ist in ihrem Bau noch nicht einmal so klar, wie der jüdische Tempel, da haben Sie zwischen Tempel und Allerheiligstem den Vorhang, durch den nur der Hohe Priester –«
»Da geht Deine Wanze, Thomas,« fiel ihm Lachmann ins Wort und wies auf den vorbeistreichenden Keller-Caprese, der nach irgend einer Kneipe hinstrebte. Mitten im Satz brach der prophetische Zweifler ab und eilte mit langen Schritten hinter seinem Blutsauger her, während der Pfarrer, seine Rockzipfel betrachtend, ohne ein Wort zu sagen, nach rechts schritt. Auch Kietz verabschiedete sich kurzer Hand. Lachmann faßte seine Cousine unter dem Arm und schleppte sie, die mehr tot als lebendig war, in seine Wohnung.
Eine Viertelstunde später erschien auch Thomas. Er achtete gar nicht auf den vorwurfsvollen Blick der Schwester, der jeden Anderen auf die Knie gezwungen hätte, so schwer beladen war er mit heiliger Entrüstung, und ehe noch Lachmann, dessen hochgerecktes Haupt und auf den Rücken gelegte Hände nicht minder klar als vorhin die Lufthiebe andeuteten, was er innig wünschte, den Mund öffnete, hatte er ein weißes Kärtchen mitten auf den Tisch gelegt, sich davor gesetzt und, den Kopf auf beide Arme gestützt, sich in die Betrachtung der Zeichnung auf dem Blatte versenkt. »Es stimmt« sagte er, richtete den Blick erst auf die Schwester, dann auf den Vetter und fügte hinzu, »stimmt es nicht?« Diese Worte, die in meilenweiten Fernen von dem lagen, was die 136 Beiden beschäftigte, erinnerten Lachmann daran, in welchem Zustand der Narr dort war. Er trat vor und sah dem Freund über die Schulter.
»Meine Visitenkarte« sagte Thomas und sah seinen Vetter herausfordernd an. Agathe war auch hinzu getreten und Beide riefen in gleicher Verwunderung: »Visitenkarte! Du, das ist aber schwer zu verstehen, eigentlich sieht es mehr aus, wie ein Bilderrätsel.«
»Das freut mich« sagte Thomas, »die Welt ist eben schwer zu verstehen und Rätsel gibt sie genug auf, aber nun rate auch.«
Agathe holte ihre Brille aus einem silbernen Futteral, das ihr vom Gürtel herabhing, setzte sie umständlich auf, so daß Thomas gereizt mit seinen Fingern auf den Tisch zu trommeln begann, und sagte schließlich: »Das Eine sieht aus wie ein zerbrochenes Beil und das Andere scheint ein kleiner Globus zu sein, aber verstehen tue ich es nicht.«
»Bravo!«
»Das ist der reine Unsinn,« fuhr sie giftig fort, »solch eine Visitenkarte ist keine Visitenkarte. Geh in den nächsten Papierladen und laß Dir ›Thomas Weltlein‹ darauf drucken, dann weiß jeder vernünftige Mensch, wer Du bist.«
Thomas sah sie höhnisch an. »Kannst Du nicht lesen, daß ›Thomas Weltlein‹ darauf steht?« Er freute sich, wie die Schwester nochmals den Versuch machte, auf dem Papier irgend welche Buchstaben zu entdecken. »Du solltest wirklich wieder zu deinen Kochtöpfen zurückkehren, die Bäuchlinger Welt paßt für Dich. Na, und Du anatomisch, physiologisch, chemisch und bakteriologisch geblendeter Medizinmann, kannst du auch nicht sehen, was da geschrieben steht in Keller-Caprese-Weltleinschen Buchstaben!«
Lachmann trommelte in deutlichem Unbehagen mit der rechten Fußspitze auf den Boden. »Die Kugel da ist Weltlein, aber dies zerbrochene Beil mit dem S dahinter –«
»Na also, los!«
»Soll vermutlich Thomas bedeuten.«
»Vermutlich, aber wie, mein Freund, wie?«
Lachmann zuckte die Achseln.
137 »Ich werde es Euch erklären, was Ihr da Beil zu nennen beliebt, – Du darfst auch zuhören Agathe – ist kein Beil, sondern ein Tomahawk. Nimm die letzte Silbe weg und füg' ein S zu, dann hast Du Thomas. Wie findest Du das?«
»Dumm!«
»Siehst Du, ich auch. Gerade deshalb ist es so genial; kindlich, naiv, natürlich, primitiv, beinahe steinzeitaltrig einfach. Ja und in dem Tomahawk – merkst Du nicht? –« Er flüsterte »Die neue Welt.«
Lachmann nickte. »Und der Friede,« fügte er hinzu.
Thomas sah ihn forschend an: »Hast Du auch Wanzen,« fragte er.
»Weil ich Deine Sprache verstehe? Nein. Ich bin nur gewöhnt, durch meinen Beruf gewöhnt –«
»Bitte, hör' mit Deinem Beruf auf. Du hast ein métier und noch dazu ein stinkiges, Wanzen am Leben zu erhalten, saugfähig zu erhalten. Denn Kranke sind –«
»Wanzen« fiel Agathe ein. »Ja, und weil Du krank bist – denn solch dummes Zeug und so gewöhnliche, abscheuliche Sachen schwatzt man nur, wenn man krank ist – so gehörst Du nach Hause und ins Bett.« Sie setzte den Finger so energisch auf die Tischplatte, als ob sie eben einem solchen roten Bieste den Garaus machte.
»Natürlich, in Dein verdrecktes Wanzenhaus,« höhnte Thomas und weidete sich daran, wie der Schwester runder, etwas kurzer Finger vor Schreck zusammenknickte. »Und ins Bett kriecht die Wanze mit und Du stänkerst mir dann die unsaubern Geister mit Petroleum aus, bis ich mit diesem Öle Petri ganz durchtränkt bin und wie Du und der heilige Petrus den Herrn verleugne.«
Agathe sah mißbilligend zu dem schweigsamen Lachmann hinüber, der zurückgelehnt dasaß und aufmerksam beobachtend die ausgespreizten Fingerspitzen gegen einander wippte. Also aufgefordert mischte er sich in das Gespräch.
»Wieso hat Agathe den Herrn verleugnet?«
»Den guten Willen hat sie verleugnet.«
»Ich habe stets guten Willen anerkannt,« rief Agathe, »du hast aber keinen.«
»Das behaupte ich auch nicht, aber du hast deinen eigenen 138 Willen, deinen Eheherrn verleugnet, im Angesichte des Hahns hast du seinen Hahn verleugnet, vorhin mitten auf dem Markt.«
»Ich verstehe nicht, was du mit dem Hahn meinst.« Agathe sprach mit spitzen Lippen und kleinem Munde und jede Silbe tönte scheinheilig, süß, fremd, als ob sie in eine Röhre hineinspräche. Sie war fast blaurot vor Anstrengung.
»Wenn du dich nicht sofort besinnst, was wir als Kinder Hähnchen, Piephähnchen nannten, frage ich telegraphisch bei meiner Amme an«.
Agathe wagte keinen Laut mehr. Mit den halb offenen zugespitzten Lippen stand sie da und keuchte.
Lachmann war zornbebend aufgesprungen: »Untersteh dich nicht!« schrie er den Freund an.
Thomas verzog keine Miene. »Sie soll nach Hause reisen. Sie begreift es doch nicht, daß der vergoldete Wetterhahn der Kirche dasselbe ist, wie der vergoldende des Kindes, oder vielmehr sie will es nicht begreifen. Unterdessen verlobt sich ihre Tochter und sie kümmert sich nicht darum. Aber sieh dich vor, Agathe, auch ein geistlicher Hahn springt unversehens in einen frischen Korb.«
Agathe sank in einen Stuhl: »Schändlich, schändlich,« stammelte sie. Lachmann hatte Thomas am Kragen gepackt und schüttelte ihn, als ob er mit des Vetters Gesicht einen Nagel in eine Steinwand schlüge. »Sofort widerrufst du,« schrie er keuchend und dabei schien er den Ofen für Agathe zu halten, wenigstens drängte er blindlings den Missetäter nach der Ofenecke zu. Da warf sich der geängstigte und halb erwürgte Thomas mit der ganzen Schwere seines großen Körpers nach hinten über, der kleine Lachmann brach unter der unerwarteten Last zusammen, und mit der Hand in die Luft greifend stürzte er nach hinten über, vergraben unter der fleischigen Masse seines Vetters.
Agathe sprang hinzu. »August!« rief sie.
»Himmelkreuzdonnerwetter.«
»Schock schwere Brett!« klang Lachmanns Stimme halb erstickt unter ihm.
»Bomben und Granaten!« fiel Agathe in einem Moment der Erleuchtung ein.
139 »Verfluchte Schweinerei!« vollendete Thomas lachend und setzte sich aufrecht, während Lachmann vergeblich mit den Ellenbogen sich in die Höhe zu stemmen suchte.« Setz dich auf meinen Schoß, Schwesterherz, dann sind wir die heilige Anna selbdritt.«
Mit Agathes Hilfe hatte sich Lachmann in die Höhe gekrabbelt und hielt prustend seinen runden Bauch. »Du hast einen unerlaubt fetten Bauch, Thomas, du mußt fasten.«
Weltlein saß noch immer still vergnügt auf dem Boden: »Fett?« fragte er verwundert, »das hältst du für Fett. Du hast doch vorhin bei den Weibern gehört, daß ich schwanger bin, geistesschwanger.«
»Ah,« erwiderte Lachmann und hielt sich die Nase zu, »dann ist es also eines von deinen Geisteskindern, was jetzt in die Windeln gemacht hat.«
»Natürlich, hast du nicht gehört, mit welchem Knall es die Welt begrüßte? Übrigens merke es dir, du weiser Doktor, niemals wird ein Mensch dick, es sei denn aus Sehnsucht nach Kindern.«
Agathe schüttelte sich vor Lachen, tat aber sittlich entrüstet: »Ferkel seid Ihr alle beide. Du Lachmann, na ja, aber von dir Thomas hätte ich das nicht erwartet.«
»Und ich hätte erwartet,« entgegnete er und sprang auf, »daß Du endlich Alwines Brief liest.«
»Mein Gott, den hatte ich ganz vergessen.« Agathe sprang auf und suchte ihre Tasche, die wie gewöhnlich verlegt war – diesmal lag sie auf Lachmanns Stuhl – und während die beiden Männer sich gegenseitig abstäubten, durchflog sie den Brief, ließ ihn sofort fallen, raffte den Hut vom Tisch und stülpte ihn auf.
»Was ist denn los?« fragte Lachmann besorgt, während Thomas den Brief aufhob und seinerseits las.
»Ich muß sofort nach Bäuchlingen«. Sie band wirr die Hutbänder durcheinander. »Alwine hat sich verlobt.«
»Was?«
»Ich habe es dir gleich gesagt,« triumphierte Thomas, »und weißt Du, wo sie sich verlobt hat, Lachmann? In einer Kapelle, in der Mariahilfkapelle. Ist das nun etwa nicht Ansteckung. Ein junges Mädchen, ein Geistlicher, eine Kapelle, ist es denn denkbar, daß 140 sie sich nicht verloben? Ja, beeile dich nur, sonst hilft Maria zu viel,« rief er der davoneilenden Schwester nach. »So, die sind wir los.«
Lachmann zog die Uhr, knipste aus alter Gewohnheit den Sekundenzeiger an und sagte. »Vor heute Abend geht kein Zug, sie wird also in einer halben Stunde wieder hier sein.«
»Da kennst du meine Schwester schlecht; sie setzt sich in den Wartesaal und hütet ihre Hutschachtel und regt sich nicht vom Platz, bis der Zug abgeht. Sie hat das Eisenbahnspielen zu lange entbehrt, als daß sie nicht ein paar Stunden Unbequemlichkeit hinnähme, um die Puffpuff zu sehen.« Er stellte sich in die Mitte der Stube, nahm die Ellenbogen an die Seiten und fuhr als Lokomotive sch, sch, keuchend, die Arme vorstoßend im Zimmer auf und ab.
Lachmann hielt noch immer die Uhr in der Hand und drehte seinen dicken Kopf bald nach rechts, bald nach links, dem großen Kinde mit den Augen folgend.
»Wenn du Bahnwärter spielen willst,« rief ihm Thomas im Laufen zu, »mußt du eine rote Fahne haben.«
Lachmann griff mit der freien Hand in die Tasche und schwenkte ein mächtiges Taschentuch in die Höhe.
»Nein, weiß gilt nicht.«
»Ich habe kein rotes.«
»Du kannst ja ein wenig aus der Nase bluten.«
»Berlin, alles aussteigen!« rief Lachmann, steckte Taschentuch und Uhr ein und erhob sich. »Das wäre übrigens eine kapitale Idee, wenn wir beide nach Berlin gingen.«
»Ja, ja,« sagte Thomas, »aber sag mal, warum ist Nasenbluten so unangenehm?«
»Es tropft, es macht dreckig, es ist unbequem.«
»Wie flach du bist,« rief Thomas. »Nasenbluten geht wider die Natur. Die Nase ist als hervorragendes Glied exquisit männlich, das Bluten exquisit weiblich, das Nasenbluten also hermaphroditische Unnatur. So, nun können wir morgen nach Berlin fahren. Ich empfehle dir aber, bis dahin Studien über die Lokomotive zu machen, in der göttliche Geheimnisse verborgen sind. Mit Agathe behalte ich, wie du siehst, recht; sie kommt nicht wieder.«
141 »Als galanter Vetter werde ich auf den Bahnhof gehen und sie ätzen und tränken.« Lachmann war vor den Spiegel getreten, ordnete seine vom Sturz zerrüttete Kleidung und ging mit den Worten: »Wir können uns in einer Viertelstunde im Löwen treffen.«
Thomas nickte nur. Er hatte die Visitenkarte vor sich und kritzelte darauf herum.
Agathe saß wirklich im Wartesaal, auf dem Schoß eine Handtasche haltend, mit der rechten Hand den Schirm, mit der linken die Hutschachtel schützend – gegen Taschendiebe, sagte sie.
Als Lachmann später einmal seinem Vetter von dieser Situation der Schwester erzählte, lachte er laut auf. »Das hätte meiner Schwester gepaßt, einem Taschendieb zu begegnen. Bahnhofshalle, Eisenbahn, Handgepäck, Taschendieb, die entschlossenste Witwe könnte solcher Versuchung nicht widerstehen.«
Weder im »Löwen«, noch sonstwo trafen die beiden den Repräsentanten des neuen Zeitalters. Agathe reiste, immer noch – trotz aller Diebe – im Besitze ihrer Handtasche, des Schirmes und der Hutschachtel ab, ohne den Bruder wiedergesehen zu haben, und auch aus Lachmanns Reise nach Berlin wurde nichts. Thomas war verschwunden, nur die Visitenkarte hatte er zurückgelassen und darauf ein Gebilde gezeichnet, das er später für ein durchgehendes Pferd erklärte, während Lachmann behauptete, es sei ein Esel und eine freche Anspielung auf ihn. Erst lange Wochen nachher wurde Lachmann durch einen Brief veranlaßt, den verschollenen Freund wieder aufzusuchen.