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Agathe entfaltete sofort eine erstaunliche Tätigkeit. Sie warf Kleid und Stiefel ab, band sich eine Serviette um das Haar, zog sich Handschuhe an und bei sich seufzend: das ist nun alles reif ins Feuer geworfen zu werden, ging sie daran, des Bruders Zelle 14 aufzuräumen. Die Magd schickte sie eilig zum Schlosser. Sie selbst schleppte Bett- und Leibwäsche für den Bruder herbei, Eßgeschirr holte sie und allerlei Vorräte, eine große Schüssel zum Waschen der Gefäße und Tücher zum Abtrocknen, Eimer, Besen und Scheuerlappen. Das alles häufte sie auf dem Balkon an, der an das Wanzenzimmer anstieß, und selbst den Nachtstuhl vergaß sie nicht. Eine Riesenflasche Sublimatlösung und ein Bottich Schmierseife vervollständigten die Ausrüstung. Trotz der Eile, die sie hatte, suchte sie sorgfältig das abgebrauchte Gerümpel aus; denn das schwur sie sich zu, nichts sollte wieder gebraucht werden, was in diesem Pestzimmer gewesen war.
In weniger als einer Stunde war alles bereit und Agathe setzte sich gedankenvoll vor das Wanzenzimmer und legte die Hände in den Schoß. Sie wartete auf den Schlosser. »Ist es nötig, daß August gepflegt wird, so werde ich es selbst tun. Sonst mag er sehen, wie er allein fertig wird. Muß ich hinein zu ihm, und das wird wohl nötig sein, denn schließlich« – sie dachte gewohnheitsmäßig nicht zu Ende, was sie zwingen werde in des Bruders Zimmer einzudringen – »es muß doch bei ihm gereinigt werden,« nahm sie kühn den Gedanken in andrer Form wieder auf. »Ich werde mir ein doppeltes Kostüm aus Sackleinwand machen. Dann verderbe ich nicht so viel. Eines kann dann immer in Karbollösung liegen, während ich das andere trage. Und zum Balkon schaffe ich mir Zugang mit der Leiter. Das geht ganz gut.«
Agathe wurde fast froh bei ihren Plänen. Dazwischen horchte sie nach den Schritten des Schlossers. Endlich erschien Meister Haudrauf und nun begann eine seltsame Arbeit. Zwei bewegliche Eisenstangen ließ Frau Willen an der Außenseite der Zellentür anbringen, zwei Eisenstangen, die in eiserne Haken eingelegt, jeden Sturm von innen aushalten konnten. Bald war das Werk getan und nun saß Agathe mit gefalteten Händen da und wartete. Das Herz schlug ihr. Wenn ihre List gelang, so war ihr Bruder vor der Polizei gerettet.
Endlich hörte sie Augusts Schritt. Rasch flüchtete sie in ihr Zimmer. Als er auf den Gang kam, streckte sie den Kopf aus der Tür und sagte: »Gut, daß du kommst. Ich habe dein Bett gemacht. Denke dir, unter der Matratze ist eine Wanze.«
15 Sie konnte nicht vollenden. Wie ein Rasender stürzte August an ihr vorbei, und im nächsten Augenblick war die Tür hinter ihm zugeschlagen und die Eisenstangen vorgelegt. »So, mein Junge,« sagte Agathe: »Jetzt habe ich dich sicher.«
Unbekümmert um die Wut des Gefangenen, der sich schnöde überlistet sah, schritt sie davon. Sie fühlte sich so erleichtert, daß sie ganz unbewußt die Melodie aus der Fledermaus: »Ich hab ein schönes Vogelhaus«, zu trällern begann. Mitten im Vers aber fiel ihr ein, daß ihr Bruder krank sei. Erschrocken hielt sie inne und in ihrer Beschämung holte sie sich einen Stuhl, stellte ihn vor die Gefängnistür und saß nun dort, auf jeden Laut horchend, der aus dem Zimmer drang. An dem Rücken der Möbel und Werfen der Kissen konnte sie genau verfolgen, wie der Bruder seiner Lieblingsbeschäftigung oblag.
Stunde für Stunde hielt sie Wache. Dort fand sie auch Dr. Vorbeuger. Lachmann sei verreist und könne erst in einigen Tagen bestimmte Antwort geben. Es sei aber nicht unmöglich, daß unter seinen Kranken Scharlachfälle vorgekommen seien.
Agathe nahm die Nachricht wie eine Siegesbotschaft auf. Es freute sie, daß sie Recht behalten hatte, und in ihrem Triumphgefühl schrie sie mitten in den Sport des Bruders hinein: »Du hast doch Scharlach. Ich wußte es ja«.
August lachte laut auf. »Keine Spur von Scharlach. Ich bin ganz gesund. Das sollst du sehen morgen; heute habe ich noch zu tun. Ich habe Steinschnüfflers Rezept! Wehe den Feinden! Jetzt laß mich in Frieden! Es dämmert schon; ich bin auf dem Anstand. Kein Laut darf das Wild schrecken.«
Agathe stand wie auf Kohlen. Sie sah, wie Vorbeuger die Ohren spitzte, um zu hören, was der Mann da drinnen sprach. Die Wanzen im Hause Müller waren längst Stadtgespräch. Frau Willen aber sprach nie davon, sie hoffte immer noch, durch hartnäckiges Schweigen das Gerücht ersticken zu können. »Fieberphantasien!« log sie, »Scharlachfieber, der Arme,« und dabei zog sie den Arzt so hastig fort, daß er sich fast die Nase an der Wand zerstieß. Sein Groll von heute Morgen erwachte wieder und die Nase reibend, wiederholte er drohend: »Ich hoffe, es wird Ihnen 16 gelingen, den Kranken abgesperrt zu halten, Frau Willen. Sonst – ich bin verantwortlich, und in dem Spital ist er sicher.«
Unter dem Eindruck dieser schrecklichen Worte verbrachte Agathe den Rest des Tages und die ganze Nacht. Schlaflos saß sie auf dem Stuhl und fertigte ihr Scharlachkostüm an, ein langes weißes Gewand, Segeltuchschuhe, eine dicht anschließende Haube und eine Maske, die nur die Augen frei ließ. So gewappnet wollte sie der Gefahr trotzen. Ab und zu seufzte sie tief. Drinnen regte sich nichts. Aber sie kannte den Bruder. Ihn floh der Schlaf gewiß ebenso wie sie selbst. Er lag auf der Lauer.
Je mehr der Morgen nahte, umso schwüler ward ihr zu Mute. Sie malte sich aus, wie der Bruder, sobald sie die Tür öffne, sie über den Haufen rennen und von neuem flüchten werde. Und dann sah sie Leute mit roten Kragen hinter ihm herrennen, ihn mitschleppen, um ihn dem schwer beleidigten Vorbeuger auszuliefern. Fast wären ihr Tränen gekommen, und voll Ingrimm dachte sie des fernen Lachmann, der sie in diese Lage gebracht hatte.
Endlich brach der Tag an. Sie erhob sich. War sie erst im Zimmer, so wollte sie schon mit dem Kranken fertig werden. Gefährlich war nur der Moment des Öffnens. Stand er fluchtbereit hinter der Tür, so war alles verloren. Vorsichtig hob sie die Eisenstange fort, leise drehte sie den Schlüssel, legte noch einmal das Ohr an die Tür, dann riß sie sie auf und schoß hinein.
Ihr Erstaunen war groß, als sie des Bruders ansichtig wurde. Er saß friedlich auf seinem Bett und wandte der Eintretenden nicht einmal das Gesicht zu, so tief war er in Nachdenken versunken. Den Gruß Agathes erwiderte er nicht. Und als sie ihn aufforderte, auf den Balkon zu gehen, bis sie das Zimmer geordnet habe, erhob er sich, reckte sich zu seiner vollen Höhe empor, schritt langsam auf die Schwester zu und sprach, dicht vor ihr stehen bleibend: »Es hat mich nicht gebissen«. Dabei riß er die Augen weit auf, so daß seine Schwester später behauptete, er habe ausgesehen wie ein sterbendes Kalb. Dann wandte er sich und schritt zu dem Balkon. An der Tür drehte er sich noch einmal um, schüttelte ernsthaft den Kopf und sagte wieder: »Es hat mich nicht gebissen. Weißt du, wie das ward?« Während nun Agathe das Zimmer ordnete, ging 17 er, die Hände auf dem Rücken, den Balkon hin und her. Die Worte der Schwester, mit denen sie ihn von Zeit zu Zeit ansprach, beantwortete er nur mit einem ärgerlichen Kopfschütteln und dem Ausruf: »Stör' mich nicht, ich habe zu tun«.
Agathe wurde bei diesem hartnäckigen Schweigen ängstlich. Sie glaubte immer deutlicher wahrzunehmen, daß Fieberphantasien den Bruder beschäftigten; wenn sie jedoch in sein gesundes frisches Gesicht blickte, das so gar nicht erhitzt aussah und nicht den geringsten roten Fleck mehr zeigte, wurde sie wieder irre. Endlich überwand die Sorge um den Bruder ihre Ansteckungsfurcht, und an ihn herantretend, fragte sie: »Fühlst du dich wohl?«
Er nickte lebhaft mit dem Kopf, schritt aber ungeduldig weiter. »Ich habe zu tun«.
Agathe machte noch einen Versuch. »Aber du tust ja nicht das Geringste. Was hast du denn zu tun?«
Da blieb er vor ihr stehen, und aus der tiefsten Brust kam nur das eine Wort: »Nachdenken«.
Agathe ging rückwärts zur Tür, so eingeschüchtert war sie von dem Benehmen des Bruders. »Drinnen ist alles fertig. Willst du nicht hineingehen? Du wirst dich erkälten«.
Statt jeder Antwort tönte es zum dritten Male: »Es hat mich nicht gebissen«.
Agathe ging seufzend davon, verschloß die Zelle und legte die Stange vor.
Das seltsame Schweigen des Bruders und sein feierlicher Ernst verwirrten und ängstigten sie noch mehr, als sein früheres Toben. Unruhig lief sie immer wieder in den Garten, um von dort aus den wandelnden Kranken zu beobachten. Am Nachmittag stieg ihre Sorge so, daß sie all ihre Absperrungsvorsicht vergaß und zum zweiten Mal das Giftzimmer betrat. Diesmal nahm August überhaupt nicht von ihr Notiz. Aber zu ihrer Freude sah sie, daß er einen großen Teil der Eßvorräte vertilgt und dem Wein tapfer zugesprochen hatte. Das beruhigte sie einigermaßen.
Trotzdem war die Nacht für sie mehr als schlecht, und mit den trübsten Erwartungen betrat sie am Morgen Augusts Zimmer. Er lag noch im Bett, blieb auch darin, ungeachtet der schwesterlichen 18 Ermahnungen aufzustehen; er sprach kein Wort, sondern starrte mit demselben Kalbsblick wie gestern zur Decke empor. Es blieb Agathe nichts übrig, als ihn liegen zu lassen.