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Meine Freundin, Frau Agathe Willen, hat mich auf ihrem Sterbelager beauftragt, die Geschichte ihres Bruders, des wunderlichen Herrn Thomas Weltlein zu veröffentlichen.
»Thomas,« sagte sie, »war der beste Mensch und der Gescheiteste, den ich je getroffen habe. Ich bin Schuld daran, daß er so elend zu Grunde gegangen ist. Meine übergroße Reinlichkeit und Angst trieben ihn in die Stürme hinaus, in denen er Schiffbruch litt. Und wenn jetzt jedermann über des Armen Narrheit lacht, so lastet das mit Zentnerschwere auf meiner Seele. In meiner Gewissensnot habe ich alles gesammelt, was ich über die merkwürdigen Erlebnisse meines Bruders erfahren konnte. Ich bitte Sie, der Sie ihn kannten und liebten, die Zettel, Briefe und Tagebücher, die dort in der Kiste liegen, durchzusehen, zu ordnen und allen wohlweisen Männern und Frauen zur Warnung drucken zu lassen.« Damit drehte sich die tapfre Agathe gegen die Wand und starb.
Es war ein Irrtum der guten Alten, daß ich den also geschilderten Bruder gekannt oder gar geliebt hätte. Als mich der Zufall in die Stadt Bäuchlingen warf, hatte er schon das Zeitliche gesegnet. Aber die Tote konnte ich nicht mehr darüber belehren. An ihrem Bette stehend gelobte ich, ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Ein nachsichtiges Publikum wolle verzeihen, wenn ich ihm weitschweifig erzähle, wie Thomas Weltlein lebte und starb.
2 Ich muß meine Erzählung berichtigen, ehe ich sie beginne. Der Mann, von dem sie handelt, hieß nicht Thomas Weltlein, sondern von den Vätern her war er August Müller benannt. Kraft eigener Machtvollkommenheit jedoch verwandelte er diesen seinen ererbten Namen. Das war in Bäuchlingen männiglich bekannt und auch ich wußte darum. Aber erst aus den Papieren der Schwester erfuhr ich die seltsamen Gründe dieser Wiedertaufe, und auch der Leser wird seinerzeit darüber unterrichtet werden. Vorläufig ist es noch August Müller, von dem ich zu erzählen habe.
August Müller war durch den Tod seiner Eltern frühzeitig zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen, hatte sich lange Jahre an einer Reihe von Universitäten studienhalber aufgehalten, war viel gereist und hatte viel erlebt, um sich schließlich als Mann von etlichen dreißig Jahren nach Bäuchlingen zurückzuziehen. Dort lebte er in einem weinumrankten Häuschen zusammen mit seiner verwitweten Schwester Agathe Willen und deren halbwüchsigen Tochter Alwine. An den Einzug dieser Schwester in sein Haus knüpfte sich ein Ereignis, das, so unscheinbar es dem Leser vorkommen mag, erwähnt werden muß. August hatte auf einer seiner Reisen Goethes Enkel, Wolf, kennen gelernt. Durch seine Gabe, einsame Menschen zum Sprechen zu bringen und ihnen aufmerksam zuzuhören, hatte er Wolf Goethes Gunst in so hohem Grade gewonnen, daß dieser ihm zum Andenken einen vom Großvater eigenhändig geschnittenen Schattenriß schenkte. In sauberen Umrissen war aus schwarzem Papier ein Mann geschnitten, der, auf der Weltkugel sitzend, ein kleines nacktes Frauenzimmerchen auf der flachen Hand hielt, dessen Mittelstück er erst forschend mit der Lupe betrachtete. August war entzückt davon, ließ das Bildchen einrahmen und taufte es »Seelensucher«. Er hatte es auf seinem Schreibtisch so aufgestellt, daß jedesmal, wenn er die Augen von Arbeit oder Buch erhob, der Blick darauf fallen mußte. Er liebte das Bild. Nach dem Tode seines Schwagers lud er seine Schwester mitsamt der kleinen Alwine auf einige Wochen zu sich nach Bäuchlingen ein. Da ihm das kleine Mädchen gefiel und die sorgende Hand seiner Schwester ihm das Leben angenehmer machte, bat er eines Morgens Agathen in Zukunft bei ihm zu bleiben und seinen Haushalt zu führen. 3 Agathe, die ihm schräg gegenüber auf dem alten Ledersopha saß und sich darüber ärgerte, daß ihr Töchterchen Alwine genau so wenig dem Vater nachtrauerte wie sie selbst dem Ehegatten, daß sie dem Kinde aber nicht einmal soviel Anstand hatte beibringen können, Trauer zu heucheln, wie sie es vermochte, war im Begriff, die Bitte rundweg abzuschlagen, da sie diesen Mangel an Herzenstakt dem Einfluß einer seltsamen Zuneigung Alwines zu ihrem Onkel zuschrieb. In diesem Moment sah sie, wie Alwine, zärtlich an den lieben Onkel geschmiegt, ihr Händchen nach dem Seelensucher ausstreckte. Mit einem raschen Ruck sprang sie auf, riß das Kind vom Knie Augusts weg, gab ihm einen Klaps auf die Hand und beförderte es an die Luft. Was im Anschluß hieran zwischen den Geschwistern verhandelt wurde, ist mir nicht bekannt geworden, das Resultat war jedoch, daß Goethes Seelensucher von August Müllers Schreibtisch verschwand und Agathe mit ihrer Tochter in sein Haus einzog.
Außer seinen beiden Verwandten und einem handfesten Dienstmädchen, Emilie, war noch ein altes Weib im Hause, die den Namen Trude trug und immer eine Atmosphäre von Neid, Zank und Haß mit sich führte. Seltsamerweise genoß sie die besondere Gunst August Müllers, der sie Schön Rottraut getauft hatte und behauptete, sie sei seine Amme gewesen, was nachweislich falsch war. Der Grund, warum er dieses Wesen, dessen einziger Zahn in jeden Frohsinn hinein zu hacken schien, im Hause duldete, war Bosheit. Er freute sich über den beständigen Krieg der Frauen und war der Meinung, das Temperament seiner Schwester brauche eine solche Ablenkung, sonst werde sich ihre reichlich fließende Galle auf ihn ergießen.
Gearbeitet hatte August niemals. Er vermied mit viel Geschick alles, was unbequem war, und tat nur, was er mochte. Aber er war freundlich und unterhaltsam, trinkfest und ohne Neid, so daß er allgemein beliebt war. Äußerlich war er wie andere Menschen, nur ein wenig zu lang geraten: er hatte einen ganz ansehnlichen Bauch und eine viel zu früh erworbene Glatze. Seine Nase war rot und fast immer an der Wurzel von kleinen Eiterpickeln verunstaltet. Sonst ist nichts über August Müller zu berichten. 4