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Am nächsten Abend holte Thomas den Studenten zu einer Volksversammlung ab, die von der Berliner Konsumgenossenschaft zu Propagandazwecken einberufen war. Der Saal war gepfropft voll und der Referent war schon mitten in seiner Rede, als die beiden eintraten. Zu Seebachs Erstaunen wurde Thomas hie und da von Arbeitern begrüßt, ja einer drängte sich sogar durch die Menge, um ihm die Hand zu drücken, und dieser eine war niemand anderer als der eifersüchtige Schlosser, mit dem Thomas auf der Fahrt nach Berlin Streit gehabt hatte.
»Es ist gut, daß Sie kommen,« flüsterte er, »wir werden einen harten Stand haben. Die Kaufleute der Gegend haben ihr Gefolge aufgebracht, um die Versammlung zu sprengen, und auch von den Unentwegten droht uns heftige Opposition; Langhammer ist da; unser Geschäftsführer, der eigentlich den Vorsitz führen wollte, ist erkrankt und sein Vertreter kann allenfalls eine ruhige Versammlung leiten, dem Skandal nachher ist er aber nicht gewachsen.«
Thomas nickte und fuhr mit der Hand durch die Luft, um anzudeuten, daß er alles machen werde. Er zog ein Notizbuch vor und verfolgte den Vortrag aufmerksam.
»Wie zum Teufel,« raunte Seebach dem Schlosser zu, »kommen Sie zu der Freundschaft mit Herrn Weltlein? Neulich sah es so aus, als ob Sie ihn am liebsten tot schlügen.«
»Den?« fragte der Schlosser dagegen. »Ach das war so eine dumme Geschichte. Nein, der Mann ist brauchbar und gut. Passen sie nur mal auf, nachher, wenn es mit dem Radau losgeht.«
229 Der Redner setzte eben mit großem Aufwand von Zahlen und Beispielen, wobei er billige Zucker- und Mehlzüge von Kilometerausdehnung an den Augen des Publikums vorbeirollen ließ, auseinander, wie viel sich ersparen ließe, wenn man den Zwischenhandel ausschalte, gemeinsam riesige Mengen einkaufe und dann ohne die Absicht des Gewinnes wieder unter die Mitglieder der Genossenschaft verteile, als es in einer Ecke des Saales anfing lebhaft zu werden. Scharren und Zischen ertönte und Rufe: »Schwindel, Lügen!« wurden laut. Der Redner machte eine kurze Pause und das benützte Thomas, um den Schlosser zu fragen: »Steckt die Rasselbande alle auf einem Haufen?«
»Ja, sie haben es ungeschickt arrangiert.«
»Haben Sie anstellige Leute da?« fragte Thomas wieder, »Leute, die aufs Wort folgen.«
»Wenn ich ihnen verspreche, daß es gut ausgeht und nützlich ist, ja.«
Thomas hatte ein Gesicht aufgesetzt, als ob er im Begriff sei, die Schlacht von Cannae zu schlagen. »Lassen Sie mir den Vorsitz übertragen, verteilen Sie unsere Leute über den ganzen Saal und dann –«
Mehr konnte der Student nicht hören, da der Redner wieder begonnen hatte und der Lärm von neuem losging. Das Publikum wurde im ganzen unruhig, Stühle wurden gerückt, geklatscht und gezischt, dazwischen schrie man Ruhe und selbst der Ruf: Rausschmeißen! wurde laut. Ein Herr im schwarzen Überzieher, der in einer der vorderen Reihen saß und seinen Regenschirm krampfhaft in der Linken festhielt, während er mit der Rechten einen hohen Hut beschwörend gegen den Saal erhob, als sei dort ein Huhn, dessen Gackern er durch Aufstülpen des Hutes ersticken müsse, hatte sich halb vom Sitz erhoben und rief ununterbrochen: Ruhe, Hinsetzen, Hinsetzen, Ruhe, bemerkte aber dabei nicht, daß er der einzige war, der stand. Ein rotbeschlipster Mann mit Backen, die, wie um seine Gesinnung auch körperlich zu zeigen, ein grelles Rot aufwiesen, was sich bei näherem Zusehen als Reste von alten Lupusnarben herausstellte, schüttelte die Faust vor Wut gegen die Ecke, von der das Zischen der Händlergruppe erklang, und zerrte mit der 230 anderen Hand seinen Nachbar am Arm, einen Metallarbeiter mit schwarzen Händen, um den auch zur Entrüstung aufzureizen. Die Aufregung stieg und die Versammlung schien sich wirklich in einen wilden Tumult auflösen zu wollen.
Plötzlich ertönte die Klingel des Vorsitzenden. Es trat nach und nach Ruhe ein, und der Vorsitzende teilte der Versammlung mit, daß er soeben dringend abberufen sei und bitte, an seiner Stelle Herrn Thomas Weltlein zum Leiter der Versammlung zu wählen. Ein geradezu Ohren zerreißendes Händeklatschen erscholl aus den verschiedenen Teilen des Saales, obwohl kein Mensch wußte, wer dieser Thomas Weltlein sei. Der Schlosser hatte seine Hilfstruppen alarmiert.
Thomas stand zu seiner ganzen Länge aufgerichtet neben dem Rednerpult. Die Ruhe seiner Persönlichkeit wirkte sofort, noch ehe er ein Wort gesprochen hatte. Er ließ langsam seine Augen durch den Saal gehen und sagte: »Ich übernehme den Vorsitz. Das Referat dauert noch fünf Minuten. Ich werde dann, nach einer Pause von zehn Minuten, die Diskussion eröffnen. Jeder wird zu Wort kommen. Bis dahin bitte ich, sich zu gedulden. Der Herr Referent hat das Wort.«
Der Student wunderte sich. Bisher hatte er Thomas stets als halben Narren betrachtet, ihn bemitleidet und auf ihn herabgesehen. Die ruhige Kraft, mit der dieser Narr jetzt die Versammlung bändigte, ohne sich scheinbar irgendwelche Mühe zu geben, imponierte ihm; und allmählich erhob sich hinter diesem Erstaunen ein immer wachsendes Gefühl des Neides.
Das unerwartete Auftauchen eines vornehm gekleideten Mannes mit sicherem Benehmen hatte auf die Kleinhändler, die gewohnt waren, reiche Kunden devot zu behandeln, Eindruck gemacht, und der Referent konnte ohne Störung seine Rede beenden. Er schloß mit der Devise der Konsumvereine: Einer für alle, alle für einen.
Aus der Händlerecke wurde ein kurzer Versuch gemacht, den Schluß der Rede wieder zum Sprengen der Versammlung zu benützen, aber da sich, wie jedesmal bei einer Pause, ein großer Teil des Publikums entfernte, um dringende Geschäfte zu besorgen, fiel der Lärm zu Boden.
Die Diskussion eröffnete der Sprecher der Kaufleute, ein hagerer Mann im schwarzen Gehrock, unter dem eine goldene Uhrkette 231 hervorbaumelte. Das Kinn war nach vorn weit vorgebaut, der Schnurrbart gut gepflegt und die Haltung straff, militärisch. Die ganze Erscheinung machte den Eindruck eines tätigen, energischen Mannes. Man hatte ihn ausgewählt, die Sache der Händler zu vertreten, weil er als Besitzer eines Eisenwarengeschäftes nicht so persönlich interessiert an der Sache zu sein schien, wie die Lebensmittelhändler. Das Publikum hörte ihn schweigend an, als er seinerseits an der Hand großer Zahlenreihen nachwies, daß die Genossenschaften teuerer arbeiteten als die Detaillisten. Um so auffallender war es, daß von Zeit zu Zeit aus verschiedenen Teilen des Saales ein ›Sehr richtig!‹ erscholl. Man gewann den Eindruck, daß die Händlerecke sich aufgelöst und die Opponenten sich über den ganzen Saal verbreitet hätten. Kühn gemacht durch diese Wahrnehmung, die ihm seinen Erfolg zu erleichtern schien, wagte der Redner, den Kopf zurückwerfend und die Hände in die Hosentaschen steckend, einen Vorstoß gegen die Leiter der Genossenschaftsbewegung, die hohe Gehälter für minderwertige Leistungen einsteckten, wich aber sofort wieder zurück, als ein Murren hörbar wurde. Als er von dem bescheidenen Aufschlag sprach, den die Geschäftsleute nehmen, ertönte plötzlich eine scharfe Stimme – es war die des Schlossers –: »Dreihundert Prozent erhebt der Hallunke.«
»Das ist eine Lüge,« überschrie der Mann das vereinzelte Lachen.
»Ich kann es beweisen,« lautete die prompte Antwort.
Die Glocke des Vorsitzenden ertönte.
»Ich bitte, den Herrn Redner nicht zu unterbrechen,« rief Thomas. »Die Diskussion bietet Raum für jede Meinungsäußerung.«
Der Kaufmann, der durch die Zwischenrufe etwas aus der Fassung gebracht worden war, sammelte sich wieder. Aber seine Worte und Gedanken waren jetzt schärfer und klangen gereizt. Er schlug öfter mit der Faust auf das Rednerpult, gestikulierte heftig und redete sich in einen wahren Zorn. Die Wirkung auf die Zuhörer blieb nicht aus. Das Publikum gab lebhafter als vorher seine Billigung und Mißbilligung zu erkennen und plötzlich entstand wieder ein Sturm, als der Kaufmann, um die Gemeingefährlichkeit des Konsumvereines zu kennzeichnen, in seiner Erregung das Wort Sozen gebrauchte, die ersparten Genossenschaftsgelder würden zu 232 Parteizwecken der Roten verwendet. Ein wütendes Händeklatschen und Bravorufen ging los, geleitet von drei Männern, die nebeneinander in der Mitte des Saales saßen, alle drei gut gekleidet und wohlgenährt. Sie erhoben sich halb vom Sitz, klatschten und sahen sich im Saal um, als ob sie auffordern wollten, an der Demonstration teilzunehmen. Tatsächlich steckte ihr Beifall auch die Händlerecke an, und während sich der Lupusmann mit dem roten Schlips vergebens bemühte, durch Schreien und Scharren gegen den Beifall aufzukommen, stand der Redner siegesgewiß auf seinem Podium, die eine Hand auf einem Haufen Papiere, den er als Leitfaden seiner Rede benützt hatte, die andere keck in der Hosentasche.
»Als ob er selber nicht an seine Männlichkeit glaube und sich durch das Gefühl davon überzeugen müßte,« sagte der Student halblaut zum Schlosser.
»Was heißt denn das?« fragte gereizt ein rothaariger Schuster mit einer Brille auf der Nase und einer riesigen Narbe auf dem Schädel, und deutete auf die drei eifrigen Klatscher in der Mitte. »Das sind doch welche von den Unseren.«
»Halt's Maul,« schnauzte ihn der Schlosser an: »Du wirst schon sehen, wie es kommt.«
Thomas hatte sich erhoben. Er brauchte diesmal nicht erst die Glocke zu benützen. Seine lange Gestalt wurde überall beachtet, und der Lärm verebbte.
»Ich möchte den Herrn Redner bitten,« sagte er, »sich in Anbetracht der vorgeschrittenen Zeit kurz zu fassen. Es ist üblich, bei der Diskussion dem einzelnen zehn Minuten zu gewähren.«
»Ich habe nichts mehr zu sagen,« erklärte der Eisenhändler stolz auf seinen Erfolg und stieg vom Podium, um die Glückwünsche seiner Partei zu empfangen. Er war noch nicht in der Händlerecke angelangt, als der Schlosser schon auf dem Podium stand. Er hielt ein Vorlegeschloß hoch in der Hand und rief: »Dies Vorlegeschloß habe ich vor zwei Stunden bei dem Herrn Kramer, der uns soeben auseinandergesetzt hat, wie schlecht der Arbeiter fährt, wenn er im Konsumverein kauft, für 25 Pfennige gekauft. Es ist aus unserer Fabrik und wird von der für acht Pfennige abgegeben. Herr Kramer schlägt 300 Prozent auf. Ich habe nichts mehr zu sagen.«
233 Schallendes Gelächter, in dem die Wut der Händlerecke unterging, durchbrauste den Saal. Thomas stand wieder aufrecht, hob den Arm hoch und sehr bald legte sich der Lärm.
»Einer für alle, alle für einen,« sagte er, jedes Wort ruhig und klar aussprechend, während er den Arm sinken ließ. »Die Rede des Herrn Eisenwarenhändlers Kramer, seine ganze Haltung und Persönlichkeit haben uns belehrt, wie es ist, wenn alle für einen arbeiten.«
»Dreihundert Prozent,« rief wieder der Schlosser.
»Es ist nicht mehr als billig, wenn wir auch jemanden zu Worte kommen lassen, der den Grundsatz: Einer für alle, vertritt. Da dann beide Parteien zu Wort gekommen sind, werde ich nachher die Diskussion schließen. Ich erteile Herrn Langhammer als letztem Diskussionsredner das Wort.«
Der Lupusmann bestieg das Rednerpult.
»Was ist das nun wieder,« murrte der rothaarige Schuster und setzte seine Brille zurecht. »Langhammer gehört zu den Unentwegten und will gegen den Konsumverein sprechen. Da muß doch von uns einer –«
»Schafskopf,« unterbrach ihn wieder der Schlosser. »Du sollst sehen, in fünf Minuten ist Langhammer Mitglied des Vereines.«
Der Rotbackige stemmte beide Arme auf die Pultplatte, beugte sich weit nach vorn und schrie in den Saal hinein:
»Arbeiter, was euch nottut, ist, daß ihr gegen den Kapitalismus euch zusammenschart, alles andere kann euch nicht helfen. Der König Mammon regiert die Welt. Das Ausbeutertum lebt von eurem Schweiß und der blutigen Arbeit eurer Hände.«
»Zur Sache,« rief es aus der Händlerecke.
»Arbeiter, das Proletariat der Welt darf sich das nicht mehr gefallen lassen, muß gegen die Blutsauger des Kapitalismus Front machen.«
Über Weltleins Gesicht flog ein Schatten bei dem Wort Blutsauger.
»Aber euch steckt noch der Kadavergehorsam von der Kaserne her in den Knochen. Der Militarismus –«
»Zur Sache,« rief es wieder. Es war diesmal die Stimme des Eisenhändlers und »zur Sache,« sekundierten die drei Männer 234 in der Mitte des Saales und trommelten mit den Beinen auf den Boden.
»Überdem, ihr habt es alle gehört. Dreihundert Prozent –«
»Lügen! Frechheit! Schmeißt den Kerl runter,« ertönte es wieder von den drei Leuten in der Mitte. Der Tumult ging wieder los. Die drei waren aufgestanden und ihrem Beispiel folgend erhoben sich hie und da unruhige Leute von ihren Sitzen.
Thomas hatte wieder zur Klingel gegriffen und läutet; Sturm. Allmählich trat Stille ein.
»Es zeigt sich klar, daß hier im Saal die Vertreter des Grundsatzes: Alle haben für einen zu arbeiten, niemanden zu Wort kommen lassen wollen, der für das Allgemeinwohl spricht, wie es eben der Herr tat, der in so roher Weise unterbrochen wurde. Ich danke dem Herrn Langhammer dafür im Namen der Genossenschaft, daß er so tapfer für uns gesprochen hat –«
»Das hat er ja gar nicht getan,« schaltete der Schuster ein.
Der Schlosser zuckte als Antwort bloß die Achseln.
»Und hoffe, daß er dem Verwaltungskörper unserer Genossenschaft seine Hilfe als Mitglied des Genossenschaftsrates nicht versagen wird.«
Der Rotschlips war so verblüfft, daß er einen Diener machte, vom Podium stieg und zu seinem Platz hinstrebte. Auf halbem Wege hielt ihn der Schlosser an und redete eifrig auf ihn ein.
»Es hat keinen Zweck,« begann Thomas wieder, »die Aussprache weiter fortzusetzen, da das Verhalten der Herren dort in der Ecke und in der Mitte des Saales eine Einigung nicht erhoffen läßt. Ich werde zur Feststellung der Mitgliederliste schreiten und bitte infolgedessen alle diejenigen, die dem Verein nicht beitreten wollen, den Saal zu verlassen.«
Kein Mensch rührte sich. Alle vermuteten noch irgend einen Radau.
Thomas wiederholte nach einigen Augenblicken scharf: »Ich bitte alle, die nicht Mitglieder der Genossenschaft werden wollen, den Saal zu verlassen.«
Zögernd erhob sich einer der drei Leute aus der Mitte des Saales und drängte sich durch die Reihen. Der zweite, folgte ihm und schließlich auch noch der dritte, der, ehe er ging, noch laut nach hinten rief: »Komm, Wilhelm, es hat doch keinen Sinn mehr, 235 die Sache ist nicht mehr aufzuhalten.« Ein paar Leute folgten dem Beispiel, alles bewährte Mitglieder der Genossenschaft, wie der Schuster kopfschüttelnd feststellte. Jetzt kam auch in die Händlerecke Bewegung. Eine einzelne Gestalt löste sich aus der dicht gedrängten Menge und schritt dem Ausgang zu.
»Ich werde Listen herumgehen lassen,« ergriff Thomas wieder das Wort, »in die sich einzeichnet, wer dem Verein beitreten will.« Er tauchte eine Feder ein und ging mit einem Bogen Papier auf den Rotschlips los. »Bitte, Herr Langhammer, Ihr Name muß zuerst stehen.« Der Mann sah Thomas verdutzt an und zeichnete seinen Namen ein. Thomas gab die Liste weiter und stieg auf das Podium. »Ich möchte bemerken,« sagte er, »daß es für die Herren Kaufleute keinen Zweck hat, sich in die Liste einzutragen. Der Verein hat statutengemäß das Recht, offenkundige Gegner seiner Tendenzen auszuschließen und er wird Ihnen gegenüber davon Gebrauch machen. Ich möchte Sie nochmals bitten, den Saal zu verlassen.«
»Wir werden doch noch unser Bier austrinken dürfen,« schrie einer der Händler gereizt.
Thomas richtete sich zur vollen Höhe auf. »Die Herren wollen nur noch ihr Bier austrinken,« rief er, »das kann ihnen niemand übel nehmen, wir wollen also so tun, als ob die Gegner schon fort wären und in unserer Arbeit fortfahren. Wir haben den Genossenschaftsrat zu wählen und die Verwaltung bittet Sie, aus Ihrer Mitte drei Genossenschafter zu ernennen. Die Verwaltung hat kein Vorschlagsrecht, ist jedoch der Meinung, daß ein so verdientes Mitglied wie Herr Langhammer dabei nicht übergangen werden darf.«
Thomas hatte diesen Satz gerade vollendet, als die Schar der Kaufleute aufbrach. Einer hinter dem anderen – denn niemand machte ihnen Platz – zogen sie durch den Saal.
Thomas folgte ihnen mit den Augen, dann verließ er das Podium und setzte sich müde in einen Stuhl.
Eine Stunde später saß er mit ein paar von den Teilnehmern der Versammlung und mit dem Studenten in einem kleinen Restaurant, um den gelungenen Abend zu feiern. Man sprach über die Genossenschaftsbewegung, die Zukunft und Aufgaben der Vereine. 236 Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen wurden ausgetauscht und dabei stellte es sich dann heraus, daß Thomas ein alter Anhänger des genossenschaftlichen Gedankens war und vor Jahren schon in Bäuchlingen einen Konsumverein gegründet hatte. Bei seinen Streifereien durch Berlin war er hie und da in Läden der Genossenschaft eingetreten, hatte sich mit den Leuten unterhalten und war schließlich mit dem und jenem Führer der Bewegung bekannt geworden. Auf diesem Wege war ihm auch der Schlosser wieder begegnet, der, hellköpfig, sehr bald merkte, wie brauchbar Weltlein war, wenn man seine Narrheiten nicht beachtete.
Nach und nach wandte sich das Gespräch der sozialen Frage zu. Thomas hatte bisher sich nicht an dieser Unterhaltung beteiligt, nur hie und da beim Anstoßen der Gläser Prosit gesagt. Plötzlich stürzte er sich, unbekümmert um das, was die anderen sagten und meinten, auf ein einzelnes Wort, das zufällig genannt worden war, ja in dem Zusammenhang der Unterhaltung genannt werden mußte, auf das Wort ›Allgemeinheit‹.
»Allgemeinheit, wozu streiten Sie sich denn noch über die Lösung der sozialen Fragen, wenn Sie das Wort haben,« rief er. »Das ist doch die Lösung. Betrachten Sie nur das Wort: Allgemeinheit.« Er legte den Finger auf die Tischplatte, als ob dort das Wort aufgeschrieben stände, und blickte von einem zum anderen, um sie zum Betrachten aufzufordern.
Der rothaarige Schuster, der neben ihm saß, rückte sich die Brille zurecht und lachte, der Schlosser nickte vor sich hin und raunte dem Studenten zu: »Jetzt kommt die Tollheit wieder.« Einer der anderen aber, die Thomas nicht kannten, der Metallarbeiter mit den schwarzen Händen, fragte: »Wieso, wie meinen Sie das?«
»Die soziale Frage,« Thomas sah den Metalldreher aufmerksam an, »bezieht sich auf die Sorge für alle. Für alle sorgen zu wollen, ist aber eine Gemeinheit. Also ist die soziale Frage eine Gemeinheit.«
»Nun hören Sie mal,« rief der vierte der Arbeiter, ein Buchdrucker von etwa 40 Jahren, der aber ein Jungengesicht wie ein Siebzehnjähriger hatte.
»Bitte, ich bin noch nicht fertig,« unterbrach ihn Thomas heftig. »Die Zwischenrufe stören nur den Verlauf den Verhandlung. Jeder 237 wird zu Worte kommen. Vorläufig bin ich an der Reihe. Also: Das Allgemeinwohl, sage ich, ist nichts weiter als eine Zusammenziehung der Worte ›alle‹ und ›mein Wohl‹; das heißt mit anderen Worten: Alle sollen für mein Wohl tätig sein und das ist auch das Ziel, dem die Beglücker der Allgemeinheit zustreben. Sie suchen ihr eigenes Glück und behängen diesen sehr natürlichen Trieb mit einem schönen Kleid, das aber, wie alle Kleider, betont, was es verbirgt: siehe den Ausschnitt der Frauen und den Hosenstall der Männer. Ist das nun nicht gemein? Allgemein ist dasselbe wie: alles ist mein. Der Standpunkt des Kindes macht sich geltend. Das will alles für sich haben. Daher der Eifer gegen den Mammon, was nur ein Deckname für Mama ist. Man soll doch nie vergessen, daß der Mensch, so alt er auch sein mag, Säugling bleibt. Die Wut auf die Blutsauger ist auch nur, um die Stimme des Gewissens zu überschreien, weil jeder sich klar ist, daß er seiner Mama, dem, der etwas hat, das Blut aussaugt. Die Menschen sind Wanzen und es ist natürlich, daß die rote Gesinnung gerade in den Großstädten zunimmt, da dort überall Wanzen sind. Rot-sozial; Sozialdemokraten sind wir ja alle, arm oder reich, das ist gleich.«
»Sozial, So zieh, Aal! Es ist die Aufforderung des Menschen an den Nachbar, für ihn den Karren zu ziehen. Aal – zieh dem Aal das Fell ab. Was wieder Doppelbedeutung sein würde, da Aal gleich der Schlange steht. Vielleicht erklärt sich daraus die wachsende Begeisterung der Frau für soziale Tätigkeit. Worte haben eine wunderbare Ansteckungskraft, ein Gift in sich, das unterhalb des Bewußtseins Pandemieen der Begeisterung mit dem Resultat ganzer Weltumwälzungen hervorruft.«
Der Metallarbeiter hielt mit den gefalteten, schwarzen Händen sein Bierglas umschlungen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und starrem Blick sah er auf Thomas' Mund, als ob er durch das angestrengte Sehen den Wortschwall seinem Verständnis näher bringen könnte, während der Buchdrucker, der durch langjährige Beschäftigung mit dem Zeitungsblödsinn den Respekt vor jeder Bildung außer seiner eigenen längst verloren hatte, sich an den Sechsundsechzig spielenden Schlosser mit der Frage wandte: »Ist der verrückt oder bin ich es?«
238 »Du,« erwiderte der Schuster, und der Schlosser, der gerade eine Vierzig ansagen wollte, fügte ein: »Quatschkopf« hinzu. Der Buchdrucker wollte aufbrausen, da er aber die gewaltigen Fäuste des Schlossers betrachtete, zog er es vor, den Ausdruck: Quatschkopf auf Thomas zu beziehen, schmunzelte behaglich und versuchte, weiter zuzuhören.
Thomas sann den Wirkungen des Wortklanges nach und war, da er die Arbeiterhände über dem Bierglas verschlungen sah, eben im Begriff, aus dem Worte ›Metallarbeiter‹ auf dem Umwege über Metallus, Karl Martell, Hammer, Nagel, Schlacht bei Poitiers, Christen, Kreuz, Kreuzzüge die ganze moderne Kultur abzuleiten, als ihn der Student aus seinem Brüten aufscheuchte.
Seit einer Stunde wuchs in Seebach ein neidischer Groll auf Thomas heran, der ihm den teuflischen Plan eingab, diesem so unverdient erfolgreichen Narren eine Tracht Prügel zu verschaffen. Er suchte ihn also wieder auf die soziale Frage zu hetzen, weil er sich von der gereizten Stimmung des Metallarbeiters allerlei versprach.
»So zieh, Alte«, rief er hin und sah Thomas harmlos an.
Der Narr blickte ihn einen Augenblick nachdenklich an, dann erwiderte er: »Ja, da liegt ein gut Stück der Frauenfrage darin und nebenbei die ganze Weltgeschichte. So zieh doch den Aal, schreit es aus dem weiblichen Triebleben heraus; der Mann aber, dessen Potenz nach Boccaccio selbst versechsfacht nicht ausreicht, eine Frau zu befriedigen, antwortet mit dem: So zieh mit, Alte, und bald wird er sagen: Zieh du allein am Karren, aber ich werde mich hineinsetzen, damit du mich immer zur Hand hast. Jetzt drängen sich die Frauen in die männlichen Berufe, das ist ganz in der Ordnung und der Mann sollte sich nicht dagegen wehren, vielmehr ihnen aufpacken, was nur aufgepackt werden kann. Die Arbeit dem Weibe, das sei unsere Parole. Wir legen uns dann, uns unseres edlen Blutes als Germanen erfreuend, auf die Bärenhaut, und trinken immer noch eins. Prosit!« Er stieß mit dem Metallarbeiter an. »Auf daß wir noch die Zeit erleben, wo die Frau an der Maschine steht und wir während dessen den sozialisierten Staat regieren.«
Der Mann löste langsam seine Hände vom Bierglas, besah sie, grinste und meinte: »Das könnte mir schon passen, wenn meine 239 Alte auch mal solche Hände bekäme; sie schimpft alle Tage darüber und legt mir extra Seife hin. Aber Öl frißt sich zu tief ein, da ist nichts zu wollen. Es sei kommun, sagt sie, solche Finger zu haben.«
»Kommun, gemein, Allgemeinheit. Da hat man die ganze Geschichte in drei Worten. Mit dem Sozialismus fängt die Sache an und der Kommunismus ist das Ende. Alles gehört allen. Wir wollen uns in Schnaps berauschen, wir wollen unsere Weiber tauschen, wir wollen freie Menschen sein. Ihren Ursprung hat diese Entwicklung in dem Drang der Weiber, Allgemeingut zu werden. Doppelte Moral, dagegen eifert die Frau, aber sie will im Grunde nicht die Weibermoral für die Männer, sondern die Männermoral für die Weiber. Freie Liebe, danach schreien sie.«
Der Schlosser warf plötzlich die Karten zusammen, schlug mit der Faust auf den Tisch und »der Teufel hole sie alle miteinander,« sagte er und trank in hastigen Zügen sein Bier aus.
»Ich kann es den Frauen nicht verdenken,« mischte sich der Buchdrucker ein, »wenn sie selbständig werden wollen, möglichst unabhängig will ein jeder sein, und wenn wir nicht alle strebten, hoch zu kommen, sähe es wohl schlecht mit den Fortschritten der Menschheit aus.«
»Also das ist der Grund, warum der Kerl so jung aussieht,« dachte Thomas, »kommt nicht von der Mutter los.«
»Selbständig?« Der Student warf Thomas einen Seitenblick zu und wiederholte: »Selbständig, ja, das könnte ihnen passen. Aber die Trauben sind sauer. Es steht sich nicht so leicht, wenn nichts da ist als Abgrund. Ich glaube auch,« er lachte dreckig, »daß es ihnen mehr darauf ankommt, daß der Mann steht, und wenn wir gar stets unabhängig wären, niemals schlappschwänzig den Kopf hängen ließen, wäre wohl Freude in Trojas Hallen.«
Thomas war unruhig geworden. »Nein, nein,« rief er, »so ist es nicht, nicht so einfach und doch wieder viel einfacher. Sehen Sie;« er faßte sich, uneingedenk alles dessen, was Mutter und Schwester ihm an Lebensart beigebracht hatten, vorn an die Hosen, als ob sich dort das Problem handgreiflich lösen lasse, und stemmte dann befriedigt beide Ellenbogen auf den Tisch. »Sehen Sie, die Sehnsucht nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit beschränkt sich 240 durchaus nicht auf die Weiber, ebenso wenig das Hochstreben, von dem Sie gar nicht gesprochen haben, obwohl es in der Programmrede unseres Freundes,« – er machte eine Verbeugung gegen den Buchdrucker hin – »ausdrücklich betont war. Wir Männer haben doch nicht weniger Freude an diesen Dingen als unsere Frauen, merken wir, daß es unabhängig, selbständig ist, so freuen wir uns, und wir sind nicht weniger beschämt, wenn uns die Erhebung nicht gelingt. Der einzige Unterschied ist der, daß die Frau ihren Mangel nicht aus eigenem decken kann, während der Mann, wenn auch nur für Stunden, das Königsszepter führt. Die Wonne, die das Weib empfindet, treibt sie dazu, zunächst den Mann selbständig zu wollen, denn er ist ihr Werkzeug, und da er über ihr schwebt, muß sie nach oben streben. Da liegt vielleicht die Erklärung, warum die Frau oberflächlich ist, im Vergleich zum Manne: sie hat nicht dasselbe Interesse daran, in die Tiefe zu dringen, wie er. Bei dem Weibe liegen die Dinge so, daß sie zeitweise, aber dann glühend, heftig emporstrebt, mit ihrem ganzen Wesen emporstrebt, während der Mann konzentrisch gerichtet ist, sein Aufwärtsstreben ist bedingt durch den Wunsch, erhaben zu sein, und deshalb pflegt er in sich den Gedanken: Landgraf werde hart. Die Frau entbehrt das Abzeichen der Herrscherwürde, der Moment, in dem sie es in sich fühlt, weckt rasende Begier nach dem Besitz, sie sucht das Szepter dem Manne zu entreißen, zerknickt es dabei und schämt sich der Sünde. Mein verehrter Herr Vorredner,« – er verbeugte sich wieder nach dem Buchdrucker, der sich geschmeichelt in den Stuhl zurücklehnte, den Kopf halb zur Seite geneigt, und mit einem Bleistift spielte, – »hat ganz recht, was wäre die Menschheit ohne das Emporstreben des Weibes. Sie wäre längst ausgestorben. Aus Haß wächst Liebe, aus Liebe wächst Haß, und es hat seine Bedeutung, wenn man vom Liebeskampf spricht. Ein Lanzenbrechen ist es, das oft genug blutig verläuft. Und beachten Sie doch, was in der Bibel steht, von der Feindschaft zwischen dem Weib und der Schlange und zwischen des Weibes Samen und dem der Schlange. Der Schlange den Kopf zertreten, das will das Weib, uns den Kopf beugen, uns kopfhängerisch machen, abhängig, und für die Sünde büßt sie, denn die Schlange sticht sie in die Ferse.«
241 »Der Storch kommt,« rief der Student und blinzelte dem Schlosser zu.
»Der Teufel soll sie alle holen,« erwiderte er nochmals. Er erhob sich und verließ für kurze Zeit das Lokal.
Der Schuster mischte gleichgültig die Karten. »Ich werde mit meiner fertig, getraue mir's auch mit anderen Weibsen.«
»Ja, wer den Knieriem hat und zu handhaben versteht,« lachte der Buchdrucker, »der kann gut gleichgültig sein.«
»Was ich mache, geht niemanden etwas an,« erwiderte der Schuster und mischte so heftig darauf los, daß ein paar Karten zur Erde fielen.
Thomas drehte den Kopf langsam zu dem Schuster hin, der vom Stuhl aufgestanden war und nach den Karten gebückt den Hintern in die Luft streckte. »Innere Ansteckung,« sagte er, »man kann nicht vom Schlagen sprechen, ohne daß die Seelen mit irgend einer Handlung antworten. Seit langem studiere ich diese Phänomene, aber den tiefsten Grund finde ich nicht.« Er schwieg einen Augenblick, dann nahm er dem Buchdrucker, der mit dem Bleistift auf dem Tisch trommelte, sein Instrument fort und begann wieder: »Alle Mütter klopfen, wenn sie das Kind, das sie auf dem Arme tragen, beruhigen wollen, es hinten drauf. Ein Kind klapst stets das andere, indem es vorbeiläuft. Die Peitsche, der Stock, was für eine wunderliche Rolle spielen sie im Leben der Menschheit, und auf dem Handschlag beruht Treue und Glauben. Man sagt, daß das Nervengeflecht des Gesäßes und der Schamteile innig verflochten sind, aber die Anatomen und Physiologen haben noch keine Mühe darauf verwendet, diese Verbindungen zu studieren. Das erste, was den Kindern beigebracht wird, ist in die Hände zu klatschen, also muß das Gehör hervorragend bei dem Trieb beteiligt sein. Das Rotwerden und die Hitze deuten auf starke Liebesaffekte. Und merkwürdig ist es, daß in allen Sprachen ›Rute‹ der Name für das männliche Organ ist. Das deutet wohl an, daß die Frau ab und zu nach Keile lechzt, wie mein Vater es zu nennen pflegte, und wenn ich recht beobachtet habe, ist jeder Fleck auf dem Tischtuch, jedes Widersprechen, jedes Türschlagen, jede Laune eine Aufforderung zum Tanz der Reiser und weiterhin zur Liebe. Und es gibt Leute, die mit den Händen auf dem Rücken gehen.«
242 Ein allgemeines Gelächter entstand, denn in demselben Augenblicke kam der Schlosser in tiefen Gedanken zurück; die Hände hatte er mit den Handflächen nach hinten über dem Rücken verschränkt. Er lachte gutmütig mit, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon die Rede sei.
»Seid Ihr immer noch bei den Weibsen und dem Fortschritt der Menschheit?« fragte er, setzte sich und ergriff die Karten, um zu geben.
»Wir waren abgeirrt,« erwiderte Thomas. »Aber es ist gut, daß Sie uns an das Thema erinnern. Ich bin nämlich der Meinung, daß diese Sehnsucht, unabhängig, selbständig zu werden, für die Kindheit mehr bedeutet, als alle Fibeln und Bibeln, Moralen und sonstige Erziehungsmätzchen. Wenn das Kind anfängt herumzulaufen, imponiert ihm der Vater als Riese, und zwar sind es die Beine und das, was drum und dran hängt, was seine Aufmerksamkeit reizt.« Als ob ihn das Wort »reizen« selber aufregte, wurde Thomas plötzlich heftig. »Ja, ja, verehrter Herr Seebach, Beflissener der Naturwissenschaften, es ist so. Wenn Sie an einem Hause vorbeigehen, versuchen Sie auch nicht in die oberste Etage hineinzugucken, wohl aber in die Parterreräume. Das ist so und ist bei Kindern nicht anders. Es ist auch sehr weise von der Natur eingerichtet, daß sie den Menschen zwingt, von Anbeginn an seinen Neid und sein Streben, alle seine Affekte auf die Gegend zu richten, die für das Fortbestehen der Menschheit unbedingt notwendig ist. Der Vater ist dem Kinde die Gottheit, das Ideal, dem es zustrebt, denn die Mutter ist ihm zunächst Milchflasche und Schwamm, durchaus nicht göttlich, vielmehr sein Eigentum, außerdem ist sie kleiner als der Vater, brüllt nicht so, macht kleinere Schritte und hat nicht so lange Beine. Das Kind also will Mann werden, weil der Mann groß ist. Und deshalb wächst es und wird geistig und körperlich stark. Weil es aber sieht, daß der Mann sich dadurch vom Weibe unterscheidet, daß er zwischen den Beinen etwas hängen hat –«
Der Student unterbrach hier: »Woher soll denn das Kind so was sehen? Ich habe meinen Vater nie nackt gesehen.«
»Himmelkreuzdonnerwetter,« schrie Thomas, schlug mit der Faust auf den Tisch und fuhr mit dem Kopf so heftig gegen Seebach los, daß es aussah, als ob er Mauern damit einrennen wollte. »Besinnen 243 Sie sich so genau, was Sie mit zwei Jahren erlebt haben! Wissen Sie noch, wie Sie gehen und sprechen und essen gelernt haben? Wahrhaftig, Sie sind würdig, als Lehrer der Naturwissenschaften an irgend eine Hochschule gerufen zu werden.« Er schwieg und stürzte verstimmt sein Glas Bier auf einmal hinunter.
Es war als ob sich ein Druck auf alle gelagert hätte. Keiner redete mehr und alle sahen stumm und verärgert vor sich hin. Plötzlich begann der Metallarbeiter, der bisher seinen Anteil an der Unterhaltung nur durch Zuhören bekundet hatte, zu sprechen.
»Der Herr Weltlein hat ganz recht. Man kann nicht immer die Kinder hinausjagen, wenn man den Topf benützt und außerdem will man es auch gar nicht, und mein Junge hat sich wie ein Schwerarbeiter angestrengt, um auch den Topf halten zu können und hat's aller Welt erzählt, das Mädel aber hat geheult, weil es daneben gegangen war, wie sie's ihm nachmachen wollte. Und das muß doch jedem auffallen, daß wir aus den ersten Jahren des Lebens nichts mehr wissen, rein gar nichts mehr.« Er hatte die ganze Zeit angestrengt Thomas angesehen; als er sah, wie dessen Gesicht freundlich und hell wurde, nickte er ernst und faltete wieder die Hände um sein Glas.
»Es ist uns auch allen aufgefallen,« bestätigte Thomas, »oder was bedeutet sonst der Ernst, der über die Tischgenossenschaft plötzlich kam? Die Wunden meldeten sich, die das Leben in diesen ersten Jahren schlug und die gewiß die schwersten waren, die wir je empfingen. Genug, der Junge will werden wie der Vater, ein großes Ding haben und deshalb wächst er und deshalb wird er größer als das Mädchen, das bald den Wettlauf traurig aufgibt, in die Breite geht und an der Brust sich doppelt baut, was unten fehlt. Denn in der Brust ist das Weib Mann, es ist ihr männliches Organ, das in das Loch des Kindesmundes hineingesteckt wird und Flüssigkeit ergießt. Des Herren Wege sind wunderbar. Der Name des Herrn sei gelobt.«
Der Buchdrucker, den es schon lange ärgerte, daß ein anderer als er das Gespräch tyrannisierte und daß Thomas ihm das Trommelvergnügen mit dem Bleistift verdorben hatte, hielt es für an der Zeit, sich geltend zu machen. »Ihre Paradoxen, Herr Weltlein,« 244 sagte er, »haben mich sehr interessiert und wenn sich auch vieles dagegen sagen läßt und manches Schiefe darin enthalten ist, so merkt man doch immer, daß es durchdacht ist und von einem hochgebildeten Manne vorgetragen wird. Um so unbegreiflicher ist es mir, daß Sie auf einmal mit solcher Pfaffenweisheit kommen. Das Volk ist lange genug mit diesen Ammenmärchen von den tiefen Absichten des Christengottes an der Nase herumgeführt worden. Aber das Volk glaubt daran nicht mehr, die Fackel der Erkenntnis leuchtet so hell, daß der Aberglaube keinen Winkel mehr findet, von wo aus er ungestraft mit seinem Gift die Menschen betäuben kann; die Errungenschaften der Neuzeit beweisen, daß weder für einen Gott noch für seine Taten Platz in der Welt ist. Seit wir wissen, daß nichts verloren geht, seit wir den Kampf ums Dasein kennen, haben wir gelernt, ohne Gott und ohne Religion fertig zu werden. Denn wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat Religion, sagt der Dichter und meint damit, daß der Gebildete keine Religion mehr braucht. Wo die Wissenschaft einzieht, fliehen die Götter; das ist ein allgemeines Gesetz.«
Thomas nickte ernsthaft und billigend. »Wenn das All mein sein soll, muß ich zunächst Gott absetzen, das ist logisch. Und daß die Götter fliehen, wenn die Wissenschaft mit ihrer Öllampe kommt, kann ich ihnen nicht verdenken. Übrigens ist es spät und ich bin müde und wenn Sie die Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Gottheit wirklich interessiert, können Sie die Lösung im Struwwelpeter finden. Guten Abend, meine Herren.« Er erhob sich und ging schnurstracks davon. Als der Student hinter ihm herrief, »ja, ja, wenn die Wissenschaft kommt, fliehen die Götter,« drehte er sich in der Tür um und sagte scharf: »Und nähme ich Flügel der Morgenröte und flöge zum äußersten Meere, so würde mich doch daselbst seine Hand halten und seine Rechte mich führen.«
Thomas war noch kaum zwanzig Schritte gegangen, als er von dem Schuster eingeholt wurde. »Ich habe Sie schon lange fragen wollen,« begann der, »warum Sie bei Ihren freisinnigen Ideen so hartnäckig immer wieder von Gott sprechen. Es wäre doch nicht schön und sähe Ihnen auch gar nicht ähnlich, wenn Sie sich über uns einfache Leute lustig machen wollten.«
245 Thomas war stehen geblieben. »Ich bilde mir ein, selber ein einfacher Mensch zu sein und gerade deshalb ist mir nicht alles so klar wie anderen Leuten. Ich weiß zum Beispiel nicht, warum der liebe Gott die Nase ins Gesicht gesetzt hat, statt in die Fingerspitzen. Mich über Sie lustig zu machen, beabsichtige ich nicht. Der Spott liegt mir nicht, meist meine ich, was ich sage. Aber es ist spät. Vielleicht besuchen Sie mich einmal oder ich schreibe Ihnen, wo Sie mich treffen können, nach acht sind Sie ja wohl frei, dann können wir weiter darüber sprechen.«
Er gab dem Schuster die Hand, der hielt sie fest und sagte: »Was meinten Sie mit dem Struwwelpeter?«
»In der einen Geschichte,« antwortete Thomas, »kommt ein Junge mit der Fahne der Wissenschaft angerannt, ein zweiter hat einen Ball, den Erdball, ein dritter einen Reifen, das ist die Mathematik und ein vierter zeigt triumphierend eine Brezel, die Fessel für den armen Mohren, der die Phantasie ist. Sie wissen ja, Hitze macht phantastisch und abergläubisch, die Sonne, das helle Licht macht dunkel. Und dann kommt der Niklas, den der lange, weiße Bart als Symbol des lieben Gottes kennzeichnet und steckt die wissenschaftlichen Buben dorthin, wo sie hingehören, ins Tintenfaß. Gute Nacht nun.«
Er war schon fort, ehe der Schuster noch begriffen hatte, was Thomas meinte.
Ob sich die beiden wiedergesehen haben, meldet die Geschichte nicht.