Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

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20. Kapitel.

Wie sich Frauen und wie sich Thomas die Hebung der Sittlichkeit denken.

Als die drei Freunde am Nachmittag in den Saal eintraten, in dem heute der Verein für Frauenbildung und Frauenstudium tagte, eilte ihnen die geschäftige Schriftführerin, Käthe Ende, entgegen und nachdem sie Thomas freimütig die Hand geschüttelt und den Doktor, als alten Bekannten, mit einem freundlichen Kopfnicken begrüßt hatte, führte sie Frau Agathe an den flüsternden und schauenden Reihen der Frauen vorüber nach vorn.

111 »Ich muß Sie rasch der Präsidentin vorstellen. Der Vortrag wird gleich beginnen. Wir dürfen also auf Sie rechnen, Herr Weltlein,« wandte sie sich zu Thomas um, der halb geistesabwesend hinter den Damen herging. Aber ohne eine Antwort abzuwarten eilte sie weiter.

Agathe dachte der Zeiten, als das Mädchen dort noch jung war. Hätte Käthe Ende damals nur im mindesten ihre Neigung zu dem Bruder gezeigt, statt sich spröde zu verstecken, dann liefe er heute nicht mit verdrehtem Namen und verdrehtem Kopf in der Welt herum. Jetzt freilich merkte man ihrem Wesen, mit dem sie des Amtes waltete, nichts mehr von jener verhängnisvollen Schüchternheit an. Die raschen Blicke, mit denen sie den Saal musterte, die sichern Worte und Winke, mit denen sie auf ihrem Wege zögernden Frauen Plätze anwies, zeigten, daß sie ihrer Aufgabe gewachsen war.

Vorn vor der Reihe der Stühle stand die kleine rundliche Vorsitzende. Sie blätterte in allerhand Schriften und nahm dabei in wunderlicher Erregung bald den Klemmer von der Nase, bald setzte sie ihn wieder auf. Der Weg zu ihr war durch eine Gruppe von Damen versperrt, die unter vielen Seitenblicken und mit geläufigen Zungen durcheinander schwatzten. Vorderhand war nicht an ihnen vorbeizukommen. Man mußte warten und Käthe Ende benutzte die Gelegenheit, ihre Begleiterin zu fragen, warum der Bruder seinen Namen geändert habe. Agathe geriet in Verlegenheit. Prüfend sah sie erst das Mädchen an, wie weit sie ihm wohl trauen dürfe, dann blickte sie zu Thomas hinüber. Und als sie bemerkte, daß er mit seinen Gedanken abwesend war, begann sie in fliegender Hast zu erzählen.

Thomas brachte der Anblick der Damen auf einen seltsamen Gedanken und es begann in seinem Gehirn zu wühlen. Ab und zu fuhren nämlich die Köpfe der Weiber zu einem engen Kreise zusammen, der sich dicht um den Kopf einer langen mageren Frau drängte, sobald sich deren hochmütiger Mund öffnete. Eine ganze Weile sah der arme Narr dieses Gebahren mit an, dann aber warf er sich plötzlich, gerade in dem Moment, als sich der lebendige Ring von Köpfen wieder bildete, auf den Boden, drängte zwischen zweien der achtbaren Damen den Oberkörper durch die Rock- und Faltenmauer hindurch und starrte mit weit aufgerissenen Augen 112 von unten in die entsetzten Gesichter der Frauen. Der Grund dieses wunderlichen Verfahrens ist nie recht aufgeklärt worden. Thomas behauptete später, das Anschauen der zusammengebogenen dicken und dünnen Frauenrücken mit der Krone von echten und falschen Frisuren darauf habe ihm eine neue Idee über Kuppelbau gegeben und nachdem er die Außenwände genugsam betrachtet habe, sei ihm das Verlangen gekommen, die Decke dieses lebendigen Verkuppelns in der Verkürzung zu sehen, die mit den verschiedensten Gesichtern in wechselndem Ausdruck und Charakter doch bedeutende Vorzüge vor einer gemalten hätte haben müssen.

Man darf dieser Erklärung wohl mit einigem Zweifel begegnen, zumal der Erzähler bei seinen Worten eines seiner verzwicktesten Gesichter schnitt. Genug, der Erfolg des Manövers war überraschend. Schreiend stoben die Frauen auseinander. Die Magere, die noch eben den Mittelpunkt der Gruppe gebildet hatte, hielt sich das schwarze seidene Kleid fast bis zu den Knieen gerafft, um besser ausschreiten zu können und ein paar andere zwischen sich und den furchtbaren Eindringling zu bringen. Als ihr das mit Hilfe ihrer langen Beine gelungen war, sank sie mit einem entsagungsvollen Lächeln, aus dessen Beobachtung eine Oberhofmeisterin noch etwas hätte lernen können, in einen Stuhl, schloß die Augen und ließ den Kopf zur Seite hängen, wobei zwei lange Locken herrlich zur Geltung kamen.

»Exzellenz sinken in Ohnmacht,« ertönte es und alle drängten sich hilfreich zu ihr, die als Frau eines ehemaligen Ministers der Paradevogel des Vereines war. Wütende Blicke schossen auf Thomas, der sich kaltblütig wieder aufgerichtet hatte und den gekränkten Damen freundlich zunickte.

Während Käthe Ende, jäh aus der Spannung aufgeschreckt, mit der sie die Abenteuer ihres alten Anbeters erzählen hörte, am liebsten vor Verlegenheit laut aufgeschluchzt hätte, behielt Agathe ihre Fassung und suchte, so gut es gehen wollte, die Situation zu retten. Als sie den tollen Einfall des Bruders sah, bückte sie sich gleichzeitig, hob mit auffälliger Eile ihr schwarzes Täschchen, das sie rasch zur Erde geworfen hatte, auf und rauschte dann, das schwarze Ding wie ein Panier in die Höhe schwenkend, an den 113 aufgeregten Damen vorbei, der Präsidentin entgegen, mit lauter Stimme dem Bruder zurufend: »Komm nur Thomas, ich habe die Tasche schon wieder, du brauchst dich nicht mehr zu bemühen.«

Agathes Verfahren beschwichtigte den Aufruhr in etwas. So geschickt aber auch der Ausweg gewählt war und so laut auch die Worte gesprochen wurden, es wäre doch schon jetzt zu unangenehmen Szenen gekommen, wenn nicht in rascher Folge neue Eindrücke die alten verwischt hätten. Als die beiden Geschwister bei der Vorsitzenden anlangten, war dieselbe eben dabei, die Versammlung zu eröffnen. Sie hielt die Glocke schon in der Hand, um sich Gehör zu verschaffen und sah fragend auf die beiden Menschen, die plötzlich vor ihr auftauchten und ihre mühsam errungene Fassung wieder ins Schwanken brachten. Agathe blickte sich nach ihrer Begleiterin um, die die Vorstellung übernehmen sollte, aber die treulose Freundin hatte sie im Stich gelassen und war in großer Angst vor weiteren Verwickelungen an das andere Ende des Saales zu Lachmann geflüchtet, um sich von dem die Leidensgeschichte Thomas Weltleins weitererzählen zu lassen. Das war ein arger Schlag für Agathe. Sie hatte darauf gerechnet, mit Hilfe der Schriftführerin, die ja wenigstens teilweise mit des Bruders Narrheit bekannt gemacht war, sein öffentliches Auftreten zu verhindern. Ehe sie sich nun so weit gesammelt hatte, auf schickliche Art das Unheil zu verhüten, fiel schon die Entscheidung. Thomas ergriff selbst das Wort, stellte sich und seine Schwester als Freunde und Anhänger des Vereines vor, die gerne mit ihren Kräften den hohen Zielen der Frauenbewegung dienen möchten und mit besonderer Dankbarkeit der Schriftführerin Einladung zum heutigen Vortrag angenommen hätten. Er sprach mit solcher Sicherheit und vornehmer Ruhe, daß Agathe nur verblüfft zuhören konnte; und während sie noch die Verwandlung ihres stillen August anstaunte, hatte er die Vorsitzende schon mit verführerischen Schmeicheleien über ihre Verdienste im Verein umgarnt und ihr Herz für sich gewonnen. Die kleine runde Person, die wahrscheinlich seit langen Jahren nichts Anerkennendes mehr aus Männermund gehört und gewiß niemals eine solche Fülle von Lob genossen hatte, schwamm in Entzücken und als der fremde Herr gar von ihren Dichtungen zu sprechen begann, konnte sie 114 sich vor Freude nicht mehr lassen und hob wie ein jauchzendes Kind die Arme empor. Die Glocke, die sie in Händen hielt, erklang dabei. Sie hatte, ohne es zu wollen, die Versammlung eröffnet. Aber der holde Trank der Anerkennung, der ihr gereicht ward, hatte sie berauscht. Rasch flüsterte sie: »Setzen sie sich dort neben die Frau Geheime Kommerzienrat Walther, die stattliche Dame mit den Brillanten in den Ohren« und während die Geschwister den ihnen angewiesenen Platz aufsuchten, sprach sie die Eröffnungsworte, zum ersten Mal in ihrem Leben ohne stecken zu bleiben. So hatte das Lob eines Narren Frucht getragen.

Lachmann hatte von all dem, was sich vorn vor dem Rednerpult zugetragen hatte, wenig vernommen. Er war ein Mann, der nur im kleinen vertrauten Kreise zur Geltung kam, in größerer Gesellschaft vermißte er die überlegene Stellung, an die er im Verkehr mit Kranken gewöhnt war, und das machte ihn unbeholfen, und weil er gern ein lebhaftes Gefühl seines Wertes hatte, vermied er es, sich in Lagen zu bringen, die ihn von seiner eigenen Nichtigkeit überzeugen mußten. Die Frauenbewegung an sich interessierte ihn auch nicht. Nach seiner Ansicht waren die Weiber dazu da, Kinder zu gebären, und er teilte sie in solche ein, bei denen es sich für den Mann lohnte, mit ihnen zu schlafen, und in solche, die nicht wert waren, die Kraft des Mannes zu empfangen und zu vererben. Bei diesen Gesinnungen hatte die heutige Versammlung wenig Lockendes für ihn und er ging nur mit, weil er bei dieser Gelegenheit einen Anhaltspunkt für die weitere Behandlung seines Vetters zu gewinnen hoffte. Schon beim Eintreten in den Saal hatte er sich nach einem unauffälligen Plätzchen umgesehen und als er an der hinteren Wand ein paar Männergestalten und unter ihnen den Professor Kietz erblickte, hatte er sich zu denen gesellt und Vetter und Base ihren Weg ziehen lassen.

»Sie auch hier, Doktor,« begrüßte Kietz den Freund, »ich dachte, sie wüßten, wie das Schnattern von Gänsen klingt.«

Lachmann nickte und lehnte sich behaglich schmunzelnd an die Wand. »Dieselbe Frage könnte ich an Sie stellen,« sagte er.

Der Professor schnitt ein ingrimmiges Gesicht. »Ich bin der Ganshirt. Sie haben sich heute einen andern Weideplatz gesucht.«

115 Er stieß ein merkwürdiges kurzes Lachen aus, mit dem er bei seinen Schülern einen groben grammatikalischen Fehler zu verspotten pflegte. »Sonst kommen sie in der Töchterschule zusammen. Aber weil heute von Prostitution und horizontalem Gewerbe die Rede sein wird, fürchten sie, die Gössel in kurzen Röcken könnten vergiftet werden, wenn sie morgen auf den Bänken sitzen, auf denen die Alten heute ihre unheiligen Gedanken ausbrüten.«

Lachmann stutzte. Der Thomaswahnsinn fiel ihm ein und machte ihn nachdenklich.

»Da haben sie sich denn an den Direktor gewendet,« fuhr Kietz fort, »und der hat ihnen die Aula des Gymnasiums zur Verfügung gestellt, und weil er selber keine Lust hat, seine Sittlichkeit heben zu lassen, muß ich die Moral der Anstalt vertreten.« Er richtete sich auf und streckte den Kopf spähend vor. »Ich habe den Platz gut gewählt, nicht wahr; sechsundsechzig sind es, richtig gezählt, eine ansehnliche Menge für unser bigottes Städtchen. Sie haben alle an mir vorbei passieren müssen. Man braucht nicht zu verzweifeln. Unsern Damen ist nichts Menschliches fremd. Sonst kommen keine zwanzig zu den Versammlungen. Aber heute –. Na, ich will annehmen, daß dieses Interesse für die tieferen Regionen auf Christenliebe beruht. Aber spaßhaft war's, so die Gesichter an sich vorüber ziehen zu lassen. Wie die unterschiedlich aussahen.« Wieder erklang sein niederträchtiges Lachen. »Sehen Sie, Doktor, die Kleine da drüben, auf die bin ich neugierig. Ich gebe ihr Privatstunde, weil sie durchaus studieren will. Wenn der alte Homer seinen Helden in das Bett irgend einer Schönen steigen läßt, tut sie so, als ob sie vor Erröten ersticken müsse. Unter dem Schatten eines gemeinnützigen Zweckes büßt sie aber ihre Lust recht unbefangen.«

Lachmann sah nach dem jungen Mädchen hin, das aufgeregt mit der Nachbarin kicherte, wandte sich aber gleich wieder ab. »Die kenne ich,« sagte er, »die wird nicht lange studieren, die hat ein breites Becken und prachtvolle Brüste. So etwas schenkt die Natur nicht ohne Gegenleistung. Menschen von solchem Bau kommen immer in die Wochen.« Er wies nach vorn, wo eben die Schar der Damen vor Weltleins Angriff auseinanderstob. »Da scheint der Teufel los zu sein. Was haben die Weiber?«

116 »Ich kann es nicht unterscheiden,« erwiderte der Professor, der sich auf die Zehen gestellt hatte und den Kopf in die Höhe reckte, wie ein Ziegenbock, der hoch an einer kahlen Mauer saftige Kräuter spürt, ohne sie erreichen zu können. »Vermutlich geht die Sache nun los. Übrigens wird es wohl nicht ohne Skandal verlaufen.«

Lachmann wurde stutzig. War Weltleins Narrheit schon so bekannt? »Skandal,« fragte er, »wie meinen Sie das?«

»Nun, Sie kennen doch die dicke Walter, die Frau vom Schaumwein-Walter und wissen vermutlich auch von der Feindschaft mit der Stadtpythia, der Frau Professor Rolfs?«

Lachmann nickte, ohne recht zuzuhören. Er sah, wie Käthe Ende vorsichtig und leise sich aus dem Knäuel vorn los machte und zurückkam.

»Die beiden rivalisieren schon lange hier im Verein. Die eine repräsentiert den Geldsack und die andere den Geist und beide hoffen auf den Vorsitz im Verein, den unsere Ortsdichterin niederlegen will. Die Sache ist jetzt bis zum Platzen reif, seitdem der Weinhändler den Titel Geheimer Kommerzienrat bekommen hat. Die Rolfs hat herausgefunden, ein Mann, wie Walter, der immer Rat findet, geheim Wasser in Wein zu verwandeln und so seinen Kommerzien aufzuhelfen, habe seinen Titel verdient. Sie können sich denken, wie dieses Wort gewirkt hat. Eine Klage soll zuerst beabsichtigt gewesen sein. Aber damit hätte sich der neugebackene Geheimrat in der Gesellschaft unmöglich gemacht und so hat er denn lieber in den Beutel gegriffen und die Thronansprüche seiner Frau hier im Verein mit einem runden Sümmchen unterstützt. Frau Rolfs Aussichten sind nun arg gesunken und wenn sie nicht in der Ex-Exzellenz mit den Schmachtlocken eine Bundesgenossin gefunden hätte, würde sie gar nicht mehr in Betracht kommen.«

Der Professor leckte die Lippen im Vorgeschmack der Witze, die er über das Adelsdreieck des Berufes, des Geldes und der Gelehrsamkeit machen wollte. Ehe er jedoch damit beginnen konnte, bemerkte er, daß sein Zuhörer sich von ihm abgewandt hatte und eifrig auf Käthe Ende einsprach. Er behielt nun seine Bemerkungen für sich, sah aber von da an drein, als ob er an versetzten Blähungen leide.

117 Lachmann bemühte sich unterdessen, den aufgeregten Fragen der Schriftführerin Rede zu stehen, deren Angst vor einer öffentlichen Beschämung durch das voreilige Eingehen auf Weltleins Redeplan immer mehr wuchs. Er suchte die vielerlei Wenns und Abers, mit denen er seine Aussagen milderte, dadurch zu verdecken, daß er diese unangenehmen Worte durch eine heftige Körperbewegung bald nach rechts, bald nach links fortwarf. Im Grunde war er aber sehr froh, als die Glocke ertönte und das Fräulein Doktor mit dem Namen Kampf die Rednertribüne betrat. Er tat so, als ob er sich sehr für den Vortrag interessierte und überließ die unbequeme Fragerin ihrer verzweiflungsvollen Ungewißheit. Zu seiner großen Befriedigung hatte die Dame da vorn ein angenehmes Organ, so daß er sich wenigstens einen musikalischen Genuß versprach.

Es dauerte aber gar nicht lange, so hatte diese wohltuende Stimme den skeptischen Arzt so beeinflußt, daß er zum ersten Mal in seinem Leben von seinem Grundsatz abging, die Ansichten einer Frau von vornherein für dumm zu halten. Er wurde sich dieser Verzauberung seines Geistes durch das Ohr bewußt, da er sie aber zu den geistigen Ansteckungen Weltleins hätte rechnen müssen, die er doch durchaus für Narrheit halten wollte, gab er sich ihr hin, ohne Widerstand zu leisten. Auf diesem Wege kam er zu dem Glauben, daß Fräulein Kampf eine Menge Kenntnisse besitze und sie in geordneter Folge mit einleuchtender Klarheit vorzutragen wisse. Ja, schließlich interessierte ihn der Vortrag so, daß er sein Notizbuch hervorzog und den Gang der Rede aufschrieb; diese Aufzeichnungen, unterbrochen und erläutert durch Lachmanns Bemerkungen, haben sich in dem papierenen Nachlaß gefunden, zu dessen Verwalter mich Frau Willens Spruch eingesetzt hat. Sie werden hier wörtlich mitgeteilt aus Gründen, die der Leser alsbald erraten wird.

»– Rednerin beginnt mit einer treffenden Übersicht über die Ausbreitung der Prostitution, die ziffermäßig das Anwachsen der Liederlichkeit beweist. Genaue Vertrautheit mit dem Gegenstand. Muß sich lange und eingehend damit befaßt haben. – Seltsamer Widerspruch zwischen dem Wesen der Rednerin und dem Inhalt ihrer Worte. Sanftes Gesicht, aschblondes Haar und wasserblaue 118 Augen. Eine derartige Darlegung menschlicher Gemeinheit aus weiblichem Munde sollte beleidigen. Warum bleibt diesem Mädchen gegenüber dieser Widerwille aus? – Gefahren durch Duldung der Prostitution. Ihr öffentliches Auftreten wirkt psychisch ansteckend. Gefahren für die sittliche Gesundheit. Zerstörender Einfluß auf die Ehe, die Rednerin als die Grundlage alles höheren Lebens bezeichnet. – Murren bei einzelnen Vereinsmitgliedern. – Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten durch die Prostitution. Gefahr für die körperliche Gesundheit und für die Nachkommen. Vorschlag, den Geschlechtsverkehr Syphilitischer, besonders die Ehe zu verbieten und zu bestrafen. – Lachmanns Zwischenbemerkung: Wenn wahr wäre, was die Wissenschaft schwatzt, gäbe es keine gesunden Menschen mehr. Das Untersuchen der jungen Mädchen könnte manchem passen. – Spricht weiter über Vererbung und Ansteckung. – Das Organ der Rednerin versöhnt. Die Psyche des Hörers wird durch den Klang beeinflußt. Eine Ansteckung des Geistes durch den Körper. In Weltleins Theorie steckt Weisheit. – Hebung der Sittlichkeit. Es ist von allen kleinen Mitteln abzusehen. Die Knaben müssen besser erzogen werden. Bewunderung der Mütter für die Unarten ihrer Söhne; räumen den Knaben eine frevelhafte Freiheit ein, statt ihre niederen Triebe zu bändigen, wie es bei den Mädchen geschieht. So ziehen die Frauen selbst die Unsittlichkeit groß. Die Lösung des Problems liegt nicht in der freien Liebe, sondern in der Festigung der Ehe. Die Männer sollten zur Keuschheit gebildet werden. – Wirkung auf die Zuhörer. Ernste, aufhorchende Gesichter. – Es handelt sich nicht darum, den Frauen das Recht zu erobern, wie es den Männern gewährt ist, die Freiheit des Geschlechtsverkehrs. Dies Recht ist das schwerste Unrecht, die Frau, die es zu erwerben sucht, frevelt gegen ihr Geschlecht, gegen den Adel des weiblichen, ja des menschlichen Herzens. Wir Frauen stehen über den Männern. Es ziemt sich nicht für uns, zu ihrer Niedrigkeit hinabzusteigen. Wir wollen sie zu unserer Höhe erheben, nicht gewaltsam, voreilig, unweiblich mit Reden und Schelten, sondern langsam, sicher, unwiderstehlich als Mütter der Kinder.«

Die letzten Worte hatten offenbar Gedanken ausgesprochen, die 119 alle Anwesenden hegten oder gern vortäuschen wollten. Lebhafter Beifall erscholl von allen Seiten und erregt drängten sich die Frauen nach vorn, um der Rednerin zu danken. Das Mädchen, dem man nichts von Gelehrtheit ansah, stand mitten unter ihren Verehrerinnen so unbefangen und freudig, wie ein Schulkind, das eine gute Zensur nach Hause gebracht hat, und selbst der mürrische Kietz vergaß darüber seinen Zynismus, nickte mehrmals mit dem Kopfe, als ob er sein Lieblingsgericht unerwartet vor sich sähe, und schmunzelte: »So lasse ich mir das Frauenstudium gefallen, solche Frauen zu studieren, lohnt sich.«

Den tiefsten Eindruck empfing Agathe, die schon während des Vortrags aufmerksam gelauscht hatte. Sie verliebte sich förmlich in das frische Wesen und den freien Handschlag dieser Frauenrechtlerin, küßte sie herzlich und zog sie neben sich auf einen Stuhl, weil sie sie recht nahe haben müsse. Ihr altes Herz hatte sich erwärmt und am liebsten hätte sie gleich selber angefangen, Knaben zu erziehen, wenn sie nur einen zur Hand gehabt hätte. Daß Thomas, dieses Sorgenkind ihrer mütterlichen Triebe, dicht bei ihr saß, noch dazu mit schrecklichen Redegedanken, vergaß sie ganz und war darauf gespannt, den Augenblick nicht zu verpassen, in dem sie sich an dem eben beginnenden Meinungsaustausch beteiligen könne.

Der entsprach freilich gar nicht ihren Erwartungen. Schon die Unordnung, die eingetreten war, beleidigte ihr Empfinden. Man saß nicht mehr, wie während des Vortrags, sondern alles drängte sich in den engen Raum vor den Stühlen zusammen und aus dem erregten Gemurmel klangen abgerissen die Worte irgend einer besonders kampflustigen Frau. Als dann endlich durch die Glocke der Vorsitzenden eine leidliche Ruhe hergestellt war, trat eine spitznasige Frau Rechnungsrätin auf, die in ihrem schlechtsitzenden Korsett und in dem zänkischen Vorstrecken des Zeigefingers es deutlich zur Schau trug, wie sehr sie sich mit dem Leben herumärgern mußte. Sie fing damit an, die zunehmende Unsittlichkeit aus den Stammtischabenden ihres Herrn Rechnungsrates abzuleiten und endete mit der Erzählung von einer Köchin, die ihre – mit Respekt zu sagen – Unterhosen am Ofen des Familienzimmers getrocknet habe.

120 Dann folgte die Frau eines verabschiedeten Hauptmanns, die, demütig-salbungsvoll den fetten Kopf zur Seite neigend, von dem Segen des frommen Glaubens sprach, von der Verderbtheit der Jugend, die aus Büchern und Zeitungen alles schon lerne, was zu ihrer Zeit ein ehrbares Mädchen erst im Wochenbett erfahren habe.

Jetzt traten die beiden Hauptkämpen auf den Plan: Zuerst ergoß sich eine Flut Geist aus dem Munde der Frau Professor Rolfs über die Zuhörer. Wenn die witzige Frau nicht die böse Angewohnheit gehabt hätte, ihre treffenden Bemerkungen schon vorher durch ein scharfes Kichern anzukündigen, hätte sie für eine ausgezeichnete Rednerin gelten können. Mit ihren boshaften spitzen Augen, deren Pupillen durch Morphium eng zusammengezogen waren, bald diese, bald jene Nachbarin stechend, griff sie die dumm-dreiste Selbstgefälligkeit der Kirchengläubigen an, setzte aus eigener Machtvollkommenheit und mit vielem Aufwand von wissenschaftlichen Schlagworten einen neuen lieben Gott ein, der in jeder einzelnen Menschenseele sein Quartier aufschlage, sprach von dem Recht der Persönlichkeit und der Sklaverei der Ehe, in der die Gottheit der Frau schlimmer entwürdigt werde, als in dem Straßengewerbe der Dirnen und schloß mit einer leidenschaftlichen Lobpreisung der freien Liebe, mit deren Einführung ein neues Zeitalter beginnen werde.

Kaum hatte sie Zeit, sich an dem lebhaften Beifall ihrer Freundinnen zu weiden, als schon die dicke Geheimrätin sich erhob und in trocknem Ton erklärte, das einzig Richtige sei, die jungen Mädchen wie früher zu tüchtigen Hausfrauen zu erziehen. Sie sprach die Worte so langsam und vollgewichtig, als ob sie jedes einzelne mit ihrer stattlichen Person belaste. Für Mann und Kind zu leben, sei das Glück der Frau, alles andere gehe sie nichts an und stille Ordnung und bescheidener Fleiß sei das Werkzeug, mit dem sie ihr Glück schmiede, das freilich nicht glänzend sei – »Wenn man es nicht mit Brillanten behängt,« rief die Frau Professor dazwischen. »Ich trage die Brillanten, weil mein guter Mann sie mir geschenkt hat,« versetzte die Dicke gleichmütig, »und ich trage sie stolz, weil ich sie in langer tätiger Arbeit im Dienste für seine Bequemlichkeit verdient habe, und wenn die Ringe hier auf meiner rauhen Hand 121 auch mancher Dame seltsam erscheinen mögen, so trage ich sie doch gerade deshalb gern. Denn sie erinnern mich täglich daran, was ich meinem Mann verdanke und was er mir verdankt. Sie sind mir gewissermaßen eine Mahnung mitten in dem Strudel der Meinungen über die Stellung der Frau, der auch mich oft genug ergriffen und arg verwirrt hat, nicht zu vergessen, daß Mann und Weib zusammengehören und daß der liebe Gott nicht ohne Grund zwei Geschlechter geschaffen hat, damit sie sich ergänzen. Ich bin einfach erzogen und habe wenig gelernt. Aber das Eine weiß ich und habe es mir gemerkt, daß die Frau eine Gehilfin des Mannes sein soll, und deshalb verstehe ich nicht, warum ich den Mann, zu dessen Hilfe ich geschaffen bin, bekämpfen sollte. Das also ist der Sinn von meinen Brillanten, damit Sie's nur wissen, Frau Professor Rolfs.«

Jetzt litt es Agathe nicht mehr. Ganz aufgeregt erhob sie sich. »Die Frau Geheimrat hat ganz recht,« rief sie, »so recht, daß ich mich nicht enthalten kann, auch ein Wort zu sagen, obwohl ich hier nur ein Gast bin. Auf die Erziehung kommt alles bei uns Frauen an. Dazu sind wir von Gott eingesetzt als Mütter. Und einfach sollen wir unsere Kinder erziehen. Verwöhnt sie nicht und macht sie nicht zu eiteln Fratzen, die stundenlang vor dem Spiegel stehen, und ein Gesicht ziehen, wenn Mutter befiehlt, eine Schürze umzutun. Einfach in Worten und Werken, einfach auch in der Kleidung, in der vor allem. Ein junges Mädchen, das gewöhnt ist sich sauber und nett zu tragen, wird selber sauber und nett, denn das Äußere wirkt gar sehr auf das Innere ein. Und ein Ding, das von der Mutter in eiteln Putz und Zier gehüllt wird, wird leicht auch im Herzen verziert und putzsüchtig in ihren Gedanken, weil das Kleid, das sie trägt, an–« Hier unterbrach sich Agathe plötzlich. Sie sah den Blick des Bruders starr auf sich gerichtet.

Verwirrt begann sie von neuem: »Es läßt sich gar nicht leugnen, ein kostbares Kleid macht ungeschickt zur Arbeit. In der Küche fürchtet man den Kohlenstaub und in der Speisekammer den Butterteller und bei jedem Schritt denkt man nur daran, daß man nicht hängen bleibe und etwas von den teuren Spitzen verderbe. Ja, man wehrt gar Mann und Kinder von sich ab, damit ihre Zärtlichkeit nichts zerdrückt. Das Glück vieler Menschen wird durch solche 122 törichte Pracht zerstört, weil ja das Herz des Menschen rasch angesteckt wird – du sollst mich nicht immer ansehen,« fuhr sie heftig auf ihren Bruder los und setzte sich blutrot im Gesicht hin, ohne den Satz zu vollenden.

Eine verlegene Pause entstand, ausgefüllt von vereinzeltem unterdrücktem Lachen. Um dem Spott ein Ende zu machen, ergriff nun die Vorsitzende das Wort, die immer noch von dem Lob Weltleins zehrte. Ganz geschickt wußte sie die abweichenden Meinungen in dem vieldeutigen Satz zusammenzufassen, daß man die Menschen zur Liebe erziehen solle und eröffnete dann ohne Übergang der Versammlung, daß einer der verehrten Gäste, Herr Thomas Weltlein, die Güte haben werde seine Ansichten über den Gegenstand vom männlichen Standpunkt aus mitzuteilen, was gewiß sämtlichen Anwesenden doppelt interessant sein werde, da bisher nur Damen gesprochen hätten. Das verdrossene Schweigen, mit dem diese Ankündigung aufgenommen wurde, schien freilich die gute Meinung der Präsidentin zu widerlegen, und sie war schon dabei, eine Entschuldigung zu stottern und die Versammlung zu schließen. Aber Thomas stand längst wie eine Katze vor dem Sprunge da und fiel mit mächtiger Stimme in das Gestammel ein.

Er las seine Rede ab, und man merkte seinem kindlichen Vergnügen an, wie er sich an seinem eigenen Machwerk berauschte. Wie wir sehen werden, hat der Zufall sein Manuskript erhalten, so daß ich es hier, ergänzt durch mündliche Erzählungen wiedergeben kann. Merkwürdig war mir daran die auffallend saubere Handschrift, in der nicht das Mindeste durchstrichen oder verbessert war. Thomas pflegte mit besonderer Betonung darauf hinzuweisen als auf ein Zeugnis höherer Eingebung, da er doch vor seiner Berufung alle Zeit schlecht und unordentlich geschrieben habe, jetzt aber sich deutlich in seiner Schrift die Hand Gottes zeige.

»Gestatten Sie mir, verehrte Damen, Ihnen zuerst meinen Dank zu sagen, daß Sie mir durch den Mund der Dichterin, die als schönes Sinnbild der Künstlerseele des Weibes im allgemeinen und des idealen Gedankenfluges dieses von höherer Zukunft träumenden Vereines im besonderen den Vorsitz führt, daß Sie mir erlauben, die nüchternen Bemerkungen eines Mannes zu 123 äußern, obwohl ja mit einer einzigen mir sehr merkwürdigen Ausnahme alle Rednerinnen der Ansicht sind, daß die Frage sich praktisch nur durch die Mutter oder wenigstens durch die Ehe lösen lasse. Da ich nun weder verheiratet noch Mutter bin –«

»Zur Sache,« ertönte die Stimme der Frau Rolfs, die durch einen Rippenstoß ihrer gefälligen Nachbarin darauf aufmerksam gemacht worden war, daß sie mit der Ausnahme gemeint sei.

»Der Atem geht einem schon vom Zuhören aus,« erklärte sie leise der lieben Freundin. »Aber ich werde ihm mit einem seiner langgedrehten Satzstricke die Kehle zuschnüren.«

Thomas sah verwundert nach der Gegend, von der her der Zwischenruf erscholl, dann fuhr er fort: »Mein sehnlicher Wunsch ist Mutter zu werden. Ich sehe darin keinen Grund zu lachen, meine Damen. Ich teile diesen Wunsch mit dem Geist jedes Zeitalters, das immer ein neues, höheres gebären will, wovon freilich das unsere eine Ausnahme macht, da es sich das Zeitalter des Kindes nennt und damit seine Unfruchtbarkeit kindisch genug ausspricht. Gerade in der Frauenfrage zeigt sich diese Unfruchtbarkeit, die man fast unsittlich nennen möchte, genau so unsittlich, wie die Sucht der Frauen, selbst unfruchtbar zu bleiben.«

»Zur Sache,« ertönte es von neuem aus dem Munde der Professorin und diesmal stimmten ein paar alte Mädchen und die kinderlose Hauptmannsfrau mit ein.

»Ich bin mitten in der Sache. Es handelt sich um die Hebung der Sittlichkeit durch die Frauen, und wodurch könnten sie dies Ziel besser erreichen, als durch Gebären. Die Sünde liegt nicht in der Sinnlichkeit, oh nein. Die Raserei des Geschlechtsverkehrs ist heilig und es täte unserer Zeit not, ihr wieder den Phallos zu zeigen, damit sie anbete.«

Der Professor Kietz stieß seinen Nachbar Lachmann in die Seite und schaute grinsend in die Runde. Die gelehrte Ungeheuerlichkeit des Narren da vorn wurde freilich nicht verstanden, aber das Rauschen der Kleider und das Schwanken der Frisuren zeigte doch, daß ein Sturm bevorstand. Durch eine zufällige Wendung schob ihn der ahnungslose Thomas noch einmal hinaus.

»Wie eindringlich mahnte uns eben der Dichtermund einer 124 Frau, die Kinder zur Liebe zu erziehen –.« Die Präsidentin errötete beglückt bei der achtungsvollen Bewegung, mit der Thomas sich zu ihr wandte. »Wahrlich ein herrliches Wort, dessen Tiefe unergründlich ist. Das andere aber ist dem gleich, daß das Weib dem Manne dienen solle, und es ziert die Frau, die es sprach, mehr wie der Schmuck der Edelsteine, die sie als Symbol ihrer hohen Gesinnung gewiß richtig deutete. Der Schmuck gebührt der Frau. Denn ist sie auch die Dienerin des Mannes, so ist sie doch die Herrin der Zukunft, und keine Krone kann reich genug sein, um auf dem Haupt einer Mutter zu ruhen.«

Die entrüsteten Mienen der Zuhörerinnen glätteten sich größtenteils und jede reckte den Kopf hoch, um den unsichtbaren Glanz wenigstens anzudeuten, den ihr je nachdem zwei oder sieben Rangen über die Stirn ausgossen. Nur um Frau Rolfs herum schlossen sich die Reihen der Mißvergnügten enger.

»Klänge es nicht frevelhaft, so würde ich der Frauen Kraft mit der Gottes vergleichen, der als höchstes Wunder seiner Macht Menschen schuf. Welch seltsames Schauspiel ist es nun, daß die Frau, deren prometheische Natur wir Männer staunend beneiden, nach den armseligen Leistungen des Mannes geizt, ihm den erkünstelten und entwürdigenden Lebenszweck des Berufs mißgönnt und mit ihm, der ein Arbeitssklave ist, in Wettbewerb tritt. Sie nennen das ein Recht, während es doch ganz gewiß ein Unrecht ist.«

Jetzt ging Frau Rolfs zum Angriff über. Mit einer bissigen Bemerkung gegen die Vorsitzende, über mangelhafte parlamentarische Disziplin, beantragte sie den Schluß der Debatte, da der Redner nicht dazu zu bewegen sei, zur Sache zu sprechen, auch wohl kaum noch irgend etwas Neues vorgebracht werden könne.

Gegen den Beifall, der rings um die Kennerin geordneter Verhandlungen ausbrach und Weltleins entrüstete Versicherung, er habe allerdings ein neues Evangelium zu verkünden, weit übertönte, erhob sich sofort als zweite Streiterin um den künftigen Vorsitz die dicke Kommerzienrätin, und hinter ihrer schützenden Breitseite ließen sich in allen Stimmarten die Rufe: Weiterreden, vernehmen. Erheblich verstärkt wurde das Schlachtgeschrei dieser Partei durch die kräftige Stimme des Professor Kietz, der in der 125 Hoffnung, seine junge Schülerin doch noch bei einer neuen Pikanterie des seltsamen Redners erröten zu sehen, seine Lungen mächtig anstrengte, um Thomas wieder das Wort zu verschaffen.

Die gutmütige Dichterin, die immer in die größte Bestürzung geriet, wenn von ihr eine Entscheidung über die Form der Verhandlung verlangt wurde, lief verzweifelt von der Frau Kommerzienrat zur Frau Professor und von der zu Thomas, um Frieden zu stiften und schließlich drängte sie sich hilfesuchend an die Exzellenz, die in einsam-hagerer Größe dastand und spöttisch lächelnd auf den Moment wartete, einzugreifen.

»Ich bitte abstimmen zu lassen,« rief Frau Rolfs, »mein Antrag ist genügend unterstützt.« Und da sich die Vorsitzende bei dieser unvorhergesehenen Aufgabe nur noch sorgfältiger hinter ihrem ministeriellen Schutzturm verkroch, ergriff die Präsidentin des Geistes kurz entschlossen die Glocke und schwang sie energisch. Ihre kleinen Augen funkelten dabei in dem Vorgefühl ihres kommenden Sieges und in dem Bewußtsein, das Abzeichen der Macht in Händen zu haben. Ohne im geringsten bei ihrer Lüge zu stocken, verkündete sie dann dem lauschenden Kreise, die Leitung der Verhandlung sei ihr von der Vorsitzenden, die sich wegen ihrer engen Freundschaft mit dem Redner für parteiisch erklärt habe, abgetreten worden und ließ abstimmen. Es wurde nun allerdings mit einer kleinen Mehrheit die Fortsetzung der Debatte beschlossen, aber ein Blick belehrte Frau Rolfs, daß ihre Anhängerschar sich in den letzten fünf Minuten fast verdoppelt hatte. In der sicheren Hoffnung, daß es dem Schützling der Weinpantscherin in seiner Albernheit gelingen werde, die Rivalin ganz aus ihrer Anwartschaft herauszureden, ließ sie der Sache ihren Lauf.

Der harmlose Thomas hatte inzwischen dagestanden wie eine mannbare Kirghisenbraut, um die sich zwei Krieger raufen, hoch erfreut über die Wichtigkeit, die seiner Person beigelegt wurde, und in erwartungsvoller Scham harrend, wie sein Schicksal sich entscheiden werde. Kaum war die Abstimmung vorbei, so begann er mit doppelter Selbstgefälligkeit zu sprechen.

»Jedem steht ein gewisses Maß der Schaffenskraft zu Gebot. Im allgemeinen sind ihre Grenzen eng genug gezogen, ein Mann, 126 der als einzelner schaffend wirkt, wird mit Recht als Wunder angestaunt. Das Los der Meisten ist, das Glied eines Ganzen zu bilden und erst im Verein mit gleichstrebenden Kräften kann der Mann etwas leisten. Und dann ist es auch nichts weiter, als irgend ein Vorteil für das Leben des Menschen, eine neue Bequemlichkeit, eine neue Möglichkeit stärker zu leben, wenn es hoch kommt, ein Werk, das den Adel des Menschen beweist und viele erhebt oder umbildet. Weiter aber geht die Macht des Mannes nicht. Er vermag nicht, wie die Frau, zu erschaffen, ein Klümpchen Eiweiß zu beseelen, es wachsen zu lassen zu Haupt und Gliedern, zum neuen Menschen, und den als Wahrzeichen unsterblicher Kraft in die Welt zu setzen, damit er lebe. Menschen zu bilden, das ist die Bildung der Frauen, und sie recht nach ihres Gottes Ebenbild – das ist der Mann – zu gestalten, sollte ihr einziges Studium sein. Und mit der Erschaffung des Lebens ist auch die zeugende Kraft der Frau erschöpft. Es ist eitel Anmaßung, Unsittlichkeit, in ein anderes Gebiet hinüber zu greifen, das dem Manne gehört.«

Ein Wogen der Entrüstung ging durch den Saal, durch das die scharfe Stimme der Frau Rolfs schrillte. »Ich entziehe dem Redner das Wort.«

Alles hatte sich von den Stühlen erhoben und Thomas sah, wie plötzlich eine Menge Arme durch die Luft fuhren, Hüte aufsetzten, energisch Mäntel und Jacken umherschwenkten, oder eilig nach Brillenfutteralen, Täschchen und Börsen griffen. Dicht neben ihm stand einsam nur noch die Schwester, deren Arm Lachmann festhielt, um sie vor einer Torheit zu bewahren. Denn während sie mit der freien Hand den tollen Bruder am Rock zog, schossen ihre Augen Unheil verkündende Blitze nach der Exzellenz hinüber, die eben laut rief.

»Das ist ein verrückter Narr und ein ungezogener Mensch dazu, der nicht weiß, was Anstand ist. Schließen Sie die Versammlung,« wandte sich jetzt die Ministerfrau an Frau Rolfs, faßte die tiefbeschämte Vorsitzende, die immer noch bang hinter ihr stand, am Arm und schritt mit zurückgeworfenem Kopf dem Ausgang zu. Neben der Tür stand noch Käthe Ende. Sie hatte sich wie ein gezüchtigtes Schulkind mit dem Gesicht gegen die Wand gedreht 127 und schluchzte leise vor sich hin. Als die Exzellenz im Vorbeigehen ihr zurief: »Sie sind schuld an dem Skandal, Fräulein Ende,« zuckte sie zusammen und drehte sich um.

Eben klang der laute Glockenklang wieder durch den Saal, und Frau Rolfs schrie mit Aufbietung aller Stimmkräfte. »Die Versammlung ist geschlossen.« Im nächsten Augenblick schoß auch schon die siegesbewußte Thronprätendentin an Käthe Ende vorüber, sie mit einem boshaften Lächeln musternd, das der Schriftführerin den Untergang weissagte, wenn erst Frau Rolfs das Szepter des Vereins schwang. Dieser höhnische Blick brachte das Mädchen zu einem raschen Entschluß. Kaum war ihre Gegnerin hinter der Exzellenz herlaufend aus dem Saal verschwunden, so schlug Käthe Ende die Tür zu und lehnte sich davor, fest entschlossen, niemanden herein oder hinaus zu lassen, ehe der Ausgang der Neuwahl entschieden sei.

Thomas hatte inzwischen ruhig weiter gesprochen, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand zuhöre oder nicht. »Das Streben der Frau sei, den Mann zu lieben und ihm seine Züge abzulauschen, um sie im Kinde neu zu bilden. Der Mann sei ihr Studium, an ihm bilde sie sich und alle Kenntnisse der Welt helfen ihr nichts; alles Streben ist verfehlt, wenn sie den Mann nicht liebt und ehrt. Das ist die wahre Frömmigkeit des Weibes, dessen Religion Anbetung der zeugenden Kraft sein sollte, nicht Nächstenliebe, wie denn das Christentum nur dem Manne gehört. Den Weg weist unwiderstehlich die Natur selber, die das Weib durch die Empfängnis umgestaltet. Der Same, der die Frau befruchtet –«

»Du bist ein schändlicher Mensch,« schrie jetzt Agathe, riß ihm seine Schrift aus der Hand und warf sie wie einen Pestlumpen von sich. Lachmann bückte sich danach und sammelte sorgfältig die einzelnen Blätter auf, während Agathe den aufgeregten Bruder mit aller Kraft fort zu ziehen suchte, und ihm sogar den Mund zuhielt, als er sprudelnd von Entrüstung und Weisheit die Worte hervorstieß: »Jede Hündin beweist es. Es ist das große Gesetz psychisch-physischer Ansteckung. Ist sie vom ruppigen Köter belegt, so gleicht noch lange hinaus ihr Wurf –« Alles Übrige war nur noch ein rauhes Gurgeln von Tönen, das noch dazu durch den lauten Klang der Glocke überschallt 128 wurde. Kaum hatte nämlich die Kommerzienrätin bemerkt, daß ihre Gegnerin das Feld voreilig räumte, als sie entschlossen vortrat, mit der einen Hand den unheiligen Thomas faßte, mit der anderen die Glocke der Vorsitzenden. Und so stand sie, ein dicker Engel des Schwertes und des Zornes, da und wartete auf den Moment, wo die Tür sich hinter der Frau Rolfs schloß. Dann aber stieß sie mit einem Ruck ihres arbeitskräftigen Armes den stammelnden Thomas mitsamt seiner Schwester weit von sich und schwang mit aller Macht die Glocke, wobei die Brillanten in ihren Ohren um die Wette baumelten. Die Arme immer ausgebreitet haltend, als ob sie die ganze Versammlung unter ihren Schutz nähme, rief sie mit ihrer rauhen Stimme: »Bleiben Sie, meine Damen, bleiben Sie! Ich werde den Schimpf rächen, der dem Verein angetan ist. Ich werde den Mann, der hier Schweinereien zu machen wagt, hinauswerfen wie ihm gebührt.« Und nun packte sie den verdutzten Thomas am Kragen und führte ihn, immer die Glocke schwingend, unter dem jubelnden Gelächter der Zuschauer zur Tür, die von Käthe Ende geöffnet wurde. So wurde denn Thomas vor den Augen seiner einstigen Anbeterin wie ein Schaf, das der Polizist ausklingelt, durch den Saal geschleppt, und mit ihrer Mithilfe vor die Tür geworfen.

Hinter ihm und der nachdrängenden Agathe schloß sich wieder die Pforte und die Kommerzienrätin kehrte auf ihren Platz zurück, während Käthe Ende die zum Ausgang drängenden Frauen zurückwies und sie laut aufforderte, an der Wahl einer neuen Vorsitzenden Teil zu nehmen, die ja auf keine andere fallen könne, als auf die Retterin der Ehre aller, auf die geehrte Frau Geheimrat Walter. Lauter Beifall folgte dem Vorschlag und während Käthe Ende standhaft die Tür mit ihrem kräftigen Rücken gegen einen Überfall von außen und mit ihren Händen gegen eine Flucht von innen deckte, ging die Neuwahl vor sich. Auch der brave Lachmann, der endlich die umhergestreuten Blätter gesammelt hatte, wurde von der Hüterin der Pforte auf seinen Platz zurückgescheucht und mußte wohl oder übel bei der Wahl zugegen bleiben. Um sich die Zeit zu vertreiben, ordnete er die Blätter von Weltleins Rede der Reihe nach und las sie mit wachsendem Erstaunen darüber, was alles der gute Thomas in seiner närrischen Unschuld dem weiblichen 129 Anstandsgefühl zu bieten wagte. Er schüttelte von Zeit zu Zeit nachdenklich den Kopf oder schmunzelte und steckte schließlich die Schrift zu sich. Ich gebe hier den Schluß der Rede, wie sie sich in Agathes Nachlaß erhalten hat. Wie allerdings die Fortsetzung des Satzes lautete, in dem Thomas so rauh unterbrochen wurde, muß der Leser sich selbst zurechtdenken. Gerade dieses Blatt war bei dem Kampf zerrissen worden. Ja es scheinen noch ein paar Sätze verloren gegangen zu sein, wenigstens beginnt der Text ziemlich unzusammenhängend mit den Worten: »– – fehlt der Frau und doch ist jede Arbeit ihres Lohnes wert.« Dann geht es heftig weiter zu dem tollen Schluß. »Dieser Mangel ist das wahrhaft unsittliche Prinzip der Ehe, ja, des gesamten Lebens. Der Mann vergewaltigt seine unwissende Frau, die noch nicht fähig ist zu genießen, und ihre Kälte, ihr Ekel scheucht ihn zurück. Vielleicht erst spät, erst nach Jahren, wenn bei ihm die blinde Leidenschaft schwindet, aber unentrinnbar tritt dieses Verhängnis ein. Und nun kommt die furchtbare Ironie, mit der die Natur stets die Sünde wider ihre Macht bestraft, eine lächerlich grausame Strafe. Denn in der Zeit wo der Mann sich von den alternden Reizen seiner Geliebten, die nicht geliebt sein wollte abwendet, erwacht in der Frau der Trieb, der durch die ungeschickte Pflege lange dahin kümmerte, sich aber endlich mit unwiderstehlicher Kraft emporringt. Es wäre der Stoff zum erschütternden Lustspiel oder zur lächerlichsten Tragödie.

Gewiß, der Mann muß erzogen werden, aber nicht, wie es kurzsichtige Menschen verlangen, zum reinen Toren, sondern zum unwiderstehlichen Verführer zur sinnlichen Freude. Er muß unterrichtet werden, methodisch und genau, so wie er das ABC lernt, mit welchen Mitteln in einem Mädchen die Glut anzufachen ist. Schulen müßt ihr gründen, in denen gelehrt wird, wie ein Mann ein Mädchen nimmt und sie zum Weibe macht, in denen die Sinnlichkeit geübt wird und die Kunst zu lieben, zur Liebe zu verführen. Denn die höchste Sittlichkeit liegt in der Sinnlichkeit und die Wurzel alles Schlechten in der widernatürlichen Sucht der Mütter, ihre Kinder zu entmannten Engeln zu machen. Darum, wollt Ihr Frauen die Sittlichkeit heben, so hebt die Sinnlichkeit.

Das Manuskript schließt mit drei Ausrufungszeichen, eines dicker 130 als das andere, dahinter aber steht mit Bleistift geschrieben ein Fragezeichen von Lachmanns Hand, und man hat mir erzählt, daß der kluge Doktor an jenem Nachmittag sehr nachdenklich nach Hause gegangen sei, nachdem endlich Frau Walters Wahl entschieden war.

 


 


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