Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

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14. Kapitel.

Strickt der Strumpf oder wird er gestrickt?

Agathe erwachte am nächsten Morgen mit dem herrlichen Gefühl, zum ersten Mal seit langer Zeit gut geschlafen zu haben, und als sie daran dachte, wie schön der gestrige Tag geendet hatte, geriet sie in eine ausgelassene Stimmung, die sie fast veranlaßt hätte, das 74 ernsthafte Geschäft des Anziehens lustig wie ein junges Mädchen zu betreiben. Gerade noch zur rechten Zeit, um sie zu verhindern, mit dem großen Schwamm Fangball zu spielen, gewahrte sie, wie unter dem sorglos auf den Stuhl geworfenen Badetuch zwei behäbige violette Bänder vorwurfsvoll herabhingen, wie die schlaffen Arme einer resignierten Frau. Diese Bänder erinnerten sie daran, daß sie den Hut gestern Abend frevelhaft bei Seite geworfen hatte, statt ihn sogleich in die Schachtel zu sperren. Agathe schämte sich, vollendete ihre Toilette mit Würde und entsprechender Langsamkeit, und gleichsam um den teueren Kopfputz für die schlecht verbrachte Nacht zu entschädigen, knüpfte sie ihre Schleife mit geziemend abgemessenen Bewegungen.

Die Folge dieser langwierigen Sorgfalt war, daß sie ihren Bruder nicht mehr vorfand. Der Herr sei vor zehn Minuten fortgefahren, sagte der Portier. Sofort befiel Agathe die Angst vor einer neuen Flucht. Beinahe hätte sie einen Wagen genommen, um rascher zu ihrem Berater Lachmann zu kommen. Aber die bessere Einsicht, daß ja das Markstück ebensogut für Alwines Aussteuer gespart werden könnte, veranlaßte sie zu gehen.

Auf dem Wege stritten sich das Gefühl ihres Alters und der Wunsch, rasch zum Ziel zu gelangen, und an diesem Zwiespalt schienen selbst die Schleifenbänder teil zu nehmen, wenigstens stand, als Agathe atemlos anlangte, das eine ganz unternehmend nach oben, während das andere sich doppelt wichtig aufbauschte.

Schon auf dem Korridor hörte sie das Lachen der beiden Männer. Sie atmete auf, und selig, den verloren Geglaubten wieder zu haben, trat sie ein.

»Guten Morgen, Ihr Männer! Ihr seid lustig! Verzeiht mir, daß ich zu spät komme. Aber du hättest auch warten können, August. Ich habe mich halb tot geängstigt.« Sie verstummte plötzlich. Da war wieder der Kalbsblick. »Wirklich, es war recht rücksichtslos von dir, August.«

Der Angeredete blickte sie unverwandt an. »Wann reisest du ab?« fragte er.

Agathe war starr. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »So laß doch das dumme Lachen, Ernst,« schalt sie den Vetter aus, 75 sie erinnerte sich, daß sie mit dem Bruder vorsichtig sprechen müsse. »Wann ich abreise? Du weißt ja, ich bleibe so lange wie es dir hier gefällt; und dann, wenn wir wieder daheim sind, dann soll es nett bei uns werden. Es war ja schrecklich die letzte Zeit. Ich war noch in der Minute vor meiner Abreise in deinem Zimmer. Der Don Quixote liegt aufgeschlagen auf deinem Schreibtisch, gerade bei dem Gespräch, in dem der Pfarrer und die Haushälterin über die Flucht des edlen Ritters beraten. Mir war es als ob das Buch seufzte, und ich glaube, es ist sogar eine Träne darauf gefallen. Hoffentlich gibt es keinen Fleck.« Sie trat an den Bruder heran und legte die Hand zärtlich auf seine Schulter. »Ich bin so froh, dich wieder zu haben, August.«

»Thomas.«

Agathe fuhr zurück. «Um Gotteswillen, August!«

»Thomas, Thomas Weltlein. Hast du vergessen, was ich dir schrieb? Überhaupt verstehe ich dich nicht. Wo ist dein Panzer, wo sind die Handschuhe? Sechs Wochen dauert die Ansteckungsgefahr beim Scharlach.«

Agathe nahm unwillkürlich die Hand von seiner Schulter.

Thomas lächelte befriedigt. »Nicht wahr, Lachmann, sechs Wochen.«

Die Schwester hatte sich gefaßt. »Weißt du es denn noch gar nicht,« sagte sie, vor Freude lachend, und faßte nach seiner Hand. »Du hast nicht das Scharlachfieber gehabt. Es war alles nur Scherz von dir, Gott sei Dank.«

Thomas hob die Tasse zum Munde. Dem Vetter, der bisher still beobachtet hatte, wollte es fast scheinen, als ob er dadurch ein Lächeln verberge. Ritterlich empört, mischte er sich ein.

»Agathe hat ganz Recht, und es ist Zeit, daß du die Dummheiten läßt. Aus eitel Bosheit hast du Antipyrin geschluckt, und von Scharlachfieber ist keine Rede.«

So hastig war Thomas selbst bei seiner Flucht aus dem Lumpenwagen nicht aufgesprungen, wie jetzt. »Neidisch seid Ihr,« schrie er, und schlug dabei mit der Faust auf den Tisch. »Neidisch! Pfui! – Verzeiht,« fuhr er in ruhigerem Tone fort. »Es ziemt sich nicht, daß ich mich derart vergesse. Aber ich hätte Euch eine vornehmere Gesinnung zugetraut. Weil Ihr selbst klein gesinnt seid, gönnt Ihr 76 es mir nicht, daß mich der Dämon des Fiebers aus vielen auserwählte, und wollt mir weismachen, das Morgenrot meines Körpers sei ein gemeiner Medizinausschlag.«

»Aber ich versichere dich, es war das Antipyrin,« fielen die beiden andern gleichzeitig ein.

»So? und die Verwandlung? Das Riesenwachstum meiner Seele? Ist das auch Antipyrin? Und der Sieg über das rote Gezücht? Wie? Habt Ihr das vergessen? Sind sie nicht tot, vernichtet, verschwunden? Und was wißt Ihr denn von den drei Symbolen? und vom Weg der Schmerzen, von dem Tunnel der Erniedrigung? Das da,« er wies auf seine Schwester, »das ist eine Frau. Die Frauen können nie die Größe des Mannes fassen, und ich verzeihe ihr. Aber du,« er wandte sich an seinen Vetter, »bei dir ist es Neid. Du bist Arzt und in deiner schäbigen Arztesseele, die die Bewunderung von Kranken und Schwachen aufgeblasen hat wie einen Ballon, wurmt es dich, daß du nicht die Entdeckung der inneren Ansteckung gemacht hast, sondern ich, ein Laie, ein Kranker, ein Arztesknecht.«

Lachmann hatte längst seine Überlegung wiedergewonnen.

»Was für eine Entdeckung meinst du?«

Agathe fiel angstvoll ein. »Um Gotteswillen, laß ihn, laß ihn, wenn er davon erst anfängt, hört er nicht wieder auf. Er redet irre.«

Thomas rückte sich würdevoll zurecht. »Ich rede nicht irre,« sagte er ruhig und sanft, »ich werde auch nur so viel sagen, wie unbedingt nötig ist, um die Dinge zu verstehen. Ich brauche Lachmann. Er soll diesen Teil meiner Lebensaufgabe übernehmen, und ich zweifle nicht daran, daß er seine Arbeitskraft und seine Kenntnisse gern einer Sache dienstbar machen wird, die der Menschheit nützlich ist, ihm selbst einen Namen geben wird. Ich habe nämlich unter anderem herausgefunden,« wandte er sich an seinen Vetter, »daß es unrecht ist, jede Krankheit unbedingt zu bekämpfen. Du siehst, das geht dich, den Arzt, allerdings etwas an. Die Krankheit ist durchaus kein kulturfeindliches Element, wie es uns das Geschwätz der Ärzte weis machen will und weis gemacht hat; vielmehr ist sie eines der Werkzeuge, durch welche die Natur den Menschen zu seiner Höhe empor gehoben hat. Rottet man die Krankheit aus, so vernichtet man damit alle Sitte und alle Religion, so verhindert man die 77 Entwicklung des Einzelnen und der Gesamtheit, und ich behaupte, daß unsere moderne Hygiene nur den wahren Adel des Menschen in fahrlässiger Weise schädigt.«

»Damit hast du nicht so ganz Unrecht,« pflichtete Lachmann bei. Agathe sah mit Erstaunen, daß der Vetter diesem Verrückten ganz ernsthaft zuhörte.

»Ich verstehe,« fuhr Thomas fort, »dir werden auf einmal Dinge klar, die du längst dunkel ahntest, wie sie ja jeder ahnt. So ist es mir auch gegangen. Im ersten Moment war ich völlig überrascht von dem neuen Gesicht, das mir die Welt zeigte. Was, die Seuchen ein wünschenswerter Zustand, fragte ich mich, die mörderische Tuberkulose, die schändliche Syphilis ein Nutzen, ja eine Bedingung des Fortschritts? Die Antwort, die ich mir gab, lese ich jetzt auch in deinen Augen. Aber der Gedanke zwingt weiter zu gehen. Warum sucht der Mensch die Gefahr? Weil er sich im Kampfe wachsen fühlt, weil er in der Not edler wird. Sokrates wußte es, Christus wußte es, sie suchten beide das Elend, den Tod, und so sucht es jeder zu allen Zeiten. Jeder, jeder Mensch liebt das Unglück, weil es ihn adelt. Und die große Natur, wo du sie auch packst, tut es dem Menschen gleich. Alles Hohe wächst aus dem Unglück, die Glücksjäger sind alle verächtlich.« Mit einer starken Bewegung des Armes machte er einen Strich durch die Luft, um zu zeigen, wie tief sie in seiner Achtung stünden.

Thomas Weltleins Gesicht zeigte jetzt den Ausdruck angestrengten Nachdenkens. »Die Not lehrt beten, das ist ein tiefes Wort. Das will sagen, die Not der Menschen, der ganzen Natur ist der echte Beweis vom Dasein Gottes. Im Unglück offenbart sich seine Güte am lautesten.«

Jetzt hörte auch Agathe mit gefalteten Händen zu. »Ganz wie der gute Breitsprecher redet er,« sagte sie andächtig.

»Schweige,« redete Thomas sie mit großartigem Ausdruck an. »Was sollen uns, die wir ernst sprechen, die Pfaffen? Sie haben die Sünde erfunden. Als ob es Sünden gäbe. Hinweg mit ihnen!« Er schob sie mit einer Handbewegung beiseite. »Wenn ihr mir folgen wollt, so müßt ihr alles lassen, was ihr bisher liebtet. Ihr müßt wieder Menschen werden. Unterbrechen ist unmenschlich. Aber so 78 sind die Weiber. Sie bilden sich immer ein, das Denken sei wie Strümpfe stricken, das man beliebig unterbrechen und wieder aufnehmen kann, und bei dem es auf ein paar fallengelassene Maschen nicht ankommt. Übrigens ist es ein Irrtum zu sagen: ich stricke einen Strumpf, zum mindesten ist es ungenau, man kann ebensogut sagen, der Strumpf strickt mich, ja erst mit dieser Wendung zeigt man, daß man eine Ahnung von dem Verlauf der Weltgeschichte hat. Der Mensch macht nicht, sondern er wird gemacht. Wenn Agathe mir einen Strumpf strickt, so weiß ich, daß ich demnächst eine neue Fußbekleidung haben werde, und kann mich darüber freuen. Sage ich aber, der strickt Agathen, so sehe ich auf einmal die Geschichte des weiblichen Geschlechtes vor mir, wie es sich Jahrtausende lang in der Beschäftigung mit dem Kleinen verderben ließ und verdarb. Nichts Dümmeres gibt es als unsere Grammatik, unsere Sprache, dieses Erbstück der dunkelsten Zeitalter, das jeder Wahrheit unüberwindliche Hindernisse in den Weg legt und des klaren Denkens spottet. Wie kann man mit altersschwachen Beinen Berge erklettern? Aber das ist etwas für den Philologen, den ich finden werde, nicht für den Arzt. Und doch auch für dich, Vetter Arzt, wird es lehrreich sein. Du sollst von mir noch diagnostizieren lernen. Sieh dir einmal meine Schwester an. Du denkst, sie ist dieselbe Agathe wie vor zwanzig Jahren, ein wenig älter geworden, aber im Grunde dieselbe. Weit gefehlt. Weißt du, was sie ist? Agathe ist eine Hutschleife.«

Lachmann schrie fast vor Vergnügen, während Agathe empört aufsprang.

Thomas fuhr ruhig fort: »Ja, sicher. Als sie damals ihren seligen Willen geheiratet hatte und sehr bald dahinter kam, welche Dummheit sie begangen hatte, wollte sie vernünftig werden. Und um sich dazu zu zwingen, schaffte sie sich den würdigen Kopfputz der Mütter, den Capothut mit langen Bändern an und knüpfte jeden Tag gewissenhaft eine regelrechte Schleife. Das ging so eine Zeit lang. Jetzt aber ist es schon seit Jahren anders. Agathe wird von der Schleife geknüpft. Die Bänder zerren sie durchs Leben, wie das Seil des Metzgers ein Kalb. Ist es nicht so, Schwesterherz?«

Agathe schlug die Augen nieder. Sie dachte an ihre 79 Morgenerlebnisse. Thomas war gutmütig lachend zu ihr herangetreten und hatte sie um die Taille gefaßt. »Adieu, Beste! Wir wollen nun kneipen gehen.« Als er an der Tür war, drehte er sich noch einmal nach den alten Liebesleuten um, die sich mit vielsagendem Seitenblick auf den Narren die Hände drückten. »Ihr seht wohl selbst ein, daß eine solche Weltanschauung, wie ich sie jetzt habe, nur durch gewaltsame Erschütterungen veranlaßt sein kann, daß ich verwandelt bin. Und was sollte mich verwandelt haben, wenn nicht das Scharlachfieber?« Er warf hochmütig den Kopf zurück, senkte ihn aber wieder und fügte nachdenklich hinzu: »Und wie sollte sonst das rote Gezücht verschwunden sein?«

Vom Fenster aus sah Agathe, wie die beiden eifrig miteinander sprechend dahinschritten.

 


 


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