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Kurz darauf ist der Student noch einmal mit Thomas zusammengetroffen. Sie begegneten sich auf der Straße, und Thomas forderte ihn auf, mitzukommen.
»Und wo soll die Reise hingehen?« fragte Seebach.
246 »Geradeaus. Muß denn alles immer ein Ziel haben? Wir lügen uns doch bloß etwas vor, wenn wir uns einbilden, wir hätten ein Ziel im Auge.«
Der Student zögerte mitzugehen. Seine Aufmerksamkeit war durch eine gelbe Chrysantheme gefesselt, die Thomas in seltsamer Weise im Knopfloch trug, ihr Kopf hing nach unten. »Wenn Sie wieder von der Willensfreiheit sprechen wollen, komme ich lieber nicht mit. Ich kenne Ihre Ansichten darüber –«
»Nicht,« unterbrach Thomas, »aber Sie mißbilligen sie.« Er schob den Arm unter den Seebachs und zog ihn mit sich fort. »Ich sehe, Sie interessieren sich für meine Blume, merken aber selbst noch nicht, daß Sie in ihr die Antwort auf die Willensfreiheit finden. Oder sind Sie schon mit dem Vorsatz ausgegangen, mich über den Haufen zu stechen.«
Der Student antwortete nicht, ging aber mit.
»Besinnen Sie sich an Zarathustras Mahnung, die Welt ab und zu zwischen den Beinen hindurch anzusehen? Ich habe das heute probiert und bin zu merkwürdigen Resultaten gekommen. Man kehrt in gewissem Sinne in die Kindheit zurück, wenn man so alles von unten sieht. Anfangs ist es ein bißchen unbequem, so gebückt zu gehen, aber das lernt sich, namentlich, wenn man erst dahinter kommt, wie interessant die untere Seite eines Stuhles oder eines Tisches aussieht. Denken Sie sich ein Wesen mit dem empfänglichen System des Kindes in der Atmosphäre und mit dem Horizont des Rohrstuhls, auf dem jemand sitzt, oder unter den Eindrücken des halbdunkeln Raumes unterhalb des gedeckten Tisches mit den Gehörsempfindungen der klappernden Teller und Gabeln auf solchem Resonanzboden und mit den verschiedentlichen Geruchswahrnehmungen, mit den seltsam gespenstisch anmutenden Feststellungen des Auges, daß eine Menge Beine ringsum sind ohne dazugehörige Oberkörper. Ich bin der Ansicht, daß weder die Psyche des Kindes noch die des Hundes auch nur annähernd begriffen werden kann ohne gründliche experimentelle Forschungen in der Richtung, die ich heute, wenn auch nur sehr obenhin, eingeschlagen habe. Das Sehen durch die Beine hindurch hat dann noch den Vorteil, daß es von vornherein vom Mittelpunkt alles Lebens aus betrachtet, daß es 247 erotisch betont ist.« Er schwieg einen Augenblick in Nachdenken versunken, zupfte seine Bluse zurecht und fuhr fort. »Die Höhe des Genusses habe ich erreicht, als der Kellner mir den Nachmittagskaffee brachte. Ich hatte wieder den Eindruck des Riesigen, als ich seine Beine auf mich zukommen sah. Unangenehm war nur, daß der Mann sich auch bückte und mir etwas suchen helfen wollte, was ich gar nicht verloren hatte. Das ist auch der Grund gewesen, warum ich den Spaziergang in dieser Stellung aufgegeben habe. Bis in die Mitte des Korridors bin ich ziemlich unbelästigt gekommen, aber dann kam der Hausknecht und fing an zu suchen und dann das Stubenmädchen, der Zimmerkellner schloß sich auch wieder an, und als der Hoteldirektor zufällig vorbeiging, hielt er es für seine Pflicht, ebenfalls mit den Händen auf dem Boden herumzuarbeiten. Alle diese Leute redeten auf mich ein und störten meine Beobachtungen durch die immer wiederholte Frage, was ich verloren hätte. Schließlich verlor ich die Lust, meine Studien fortzusetzen; hatte aber im letzten Augenblick noch die Freude zu sehen, wie einer der Gäste die fünf Mitglieder der Forschungsexpedition filmte. Ich nehme an, daß wenigstens von mir beide Gesichter auf der Platte sind. Das Zimmermädchen ist sicher bloß mit dem zweiten vertreten, und wie es mit den anderen ist, weiß ich nicht; aber besonders beim Kellner denke ich es mir schön, wie sich zwischen den geteilten Vorhängen der Frackschöße die Unterwelt hervordrängt. Ich bin dann, weil ich nicht wünschte, das ganze Hotel in gleicher Weise an meinen Forschungen teilnehmen zu lassen, in mein Zimmer zurückgegangen und habe mich mit Hilfe dieser Blume symbolisch in die Stellung mit dem Kopf nach unten gebracht. Es gehört Anstrengung dazu, um lediglich phantastisch Kopf zu stehen, aber es geht. Erleichtert wird es durch die Einstellung des Gemütes auf den Neid; denn daß das die Grundstimmung ist, wenn man die Welt von unten besieht, werden Sie ja wohl daran gemerkt haben, daß ich mir eine gelbe Blume gewählt habe.«
Der Student blieb plötzlich stehen. »Woher wußten Sie, daß ich Sie so stark haßte und am liebsten gemordet hätte?«
Statt jeder Antwort wies Thomas auf die Chrysantheme. Erst nach einer Weile, als er aus dem fragenden Blick des Studenten 248 herauslas, daß seine Bewegung nicht verstanden wurde, sagte er: »Der Neid ist gelb, und Ihre Augen waren gelb, als Sie auf die Blume sahen. Und der Kopf der Chrysantheme hängt gerade über meinem Herzen. Übrigens sagte ich Ihnen ja, Neid und Haß sind die Grundstimmung dessen, der von unten nach oben sieht. Und da wir einmal alle kleine Kinder gewesen sind, so ist Neid und Haß die tiefste und älteste Empfindung unserer Seele.«
Seebach zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Sie sind ein Schauspieler, Weltlein, und noch ein schlechter dazu, der mit starkem Unterstreichen der Effekte auf die Galerie zu wirken sucht.«
Thomas nickte nachdenklich. »Sie haben ganz recht,« sagte er. »Ich hätte neulich, nach der Versammlung, als ich merkte, wie ihre Gesinnung gegen mich gelb wurde, irgend eine Gemeinheit gegen Sie begehen sollen, dann würden Sie mich jetzt lieben, statt zu hassen.«
Der Student lachte höhnisch auf. »Die große Kunst macht Sie rasend, Verehrter, Sie stellen die Dinge wirklich auf den Kopf. Ich liebe Sie nicht und ich hasse Sie nicht, Sie sind mir völlig gleichgültig.«
»Lügen Sie nicht!« schrie ihn Thomas an, dann, sich sogleich beruhigend, fuhr er fort: »Es hat keinen Zweck, sich mit Ihnen zu streiten. Sie haben irgend etwas auf dem Gewissen, was Sie an mir verbrochen haben, und infolgedessen müssen Sie versuchen, mich so weit zu reizen, daß ich ins Unrecht komme. Das ist ein weiblicher Zug Ihres Wesens, aber gerade das weiblich Enttäuschte, was Sie haben, gibt Ihnen die merkwürdig schnelle Aneignungsgabe, die mich an Ihnen anzieht.«
Der Student brauste auf: »Weder ist mir bewußt, weibisch zu sein, noch wünsche ich, daß Sie mich zum Gegenstand Ihrer Neigung machen, am wenigsten in dem Sinne, der allzudeutlich die perverse Schamlosigkeit Ihres Wesens verrät.«
Thomas schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie haben etwas Schweres auf der Seele, glauben mir ein Unrecht getan zu haben, das sich nicht sühnen läßt.« Plötzlich blieb er vor dem Studenten stehen, sah ihn scharf an und sagte: »Nennen Sie mir eines der Gebote, das erste, das Ihnen einfällt. Rasch, eines der Gebote!«
249 Seebach irrte mit dem Blick umher und sagte scharf: »Lassen Sie mich mit Ihrem Unsinn zufrieden!«
Thomas hatte ihn an der Schulter gepackt und schüttelte ihn. »Eines der Gebote! An welches haben Sie gedacht? Sie werden doch eines der Gebote sagen können! Eines der Gebote!
Der Student hatte jeden Halt verloren; wie ein kleiner Junge ließ er sich hin und her schütteln und während sein Gesicht einen hilflosen Ausdruck bekam, stotterte er: »Das fünfte.«
Thomas ließ ihn los. »War es das erste, was Ihnen in den Sinn kam,« fragte er eindringlich.
Seebach zuckte die Achseln. »Das fünfte oder das sechste, ich weiß es nicht, es kann auch das siebente gewesen sein.«
»Mit anderen Worten, Sie haben zunächst an das siebente gedacht. Was kann ein Mensch wohl einem anderen stehlen?«
Seebach zögerte eine Weile, bis er ein seltsames Lächeln auf Weltleins Gesicht bemerkte, dann antwortete er. »Ich habe Ihre Meinungen gestohlen, sie für mein Eigentum ausgegeben, erst gestern noch.«
»Es war also nicht nötig, daß Sie sich aufregten, als ich Ihre Aneignungsgabe pries. Übrigens will ich Ihnen einen guten Rat mit auf Ihren Weg geben, den Sie ja doch nun ohne mich gehen wollen.« Ganz gegen seine gewöhnliche Art sprach Thomas schneidend und scharf, so daß der Hohn deutlich durchklang. »Wenn eine klar gestellte Frage zögernd beantwortet wird, ist die Antwort stets – hören sie wohl – stets eine Lüge, eine halbe Wahrheit. Und so ist es auch nur halb wahr, was Sie eben von dem geistigen Diebstahl sagten. Sie schieben das nur vor, und weil Sie im tiefsten Innern das wissen und sich darüber schämen, werden Sie immer tiefer in die Wut gegen mich hineingetrieben. Und sie werden mich verlassen. Aber Sie nehmen sich selbst und Ihr Schuldbewußtsein ja mit, es hilft Ihnen gar nichts. Helfen würde Ihnen nur das robuste Gewissen, von dem bei Ibsen die Rede ist. Sündige tapfer darauf los, das ist ein weiser Spruch.« Thomas lächelte selbstgefällig, vertrat sich im selben Moment den Fuß und blieb bebend vor Wut stehen. »Wanze,« schrie er, »mit den äußeren Bestien wirst du fertig werden, du Wanzenwürger, aber da drinnen«, er schlug sich 250 vor die Stirn, »saugen sie alles aus und setzen Stich an Stich in das Gehirn, bis du eine einzige Beule stinkiger Eitelkeit bist. – Du sollst nicht töten, lautet das fünfte Gebot,« wandte er sich wieder unvermittelt an seinen Begleiter. »Das wäre ja nach dem, was Sie mir vorhin über Ihre Mordphantasien gegen mich gesagt haben, ohne weiteres verständlich, wenn Sie es nicht mit dem sechsten Gebot verknüpft hätten. In dieser Verknüpfung verrät sich aber, daß Sie selbst das sind, was Sie soeben« – er lachte boshaft – »pervers zu nennen beliebten, eine Dummheit, die ich Ihnen nicht zugetraut hätte, wenigstens nicht, daß Sie sie mir gegenüber vorbringen würden.« Aus jedem Wort, das Thomas sagte, klang der grenzenlose Hochmut heraus und weil er das merkte, wurde er immer heftiger. »Sie wollen mich töten, ja, aber zunächst so, wie man den Mann tötet, wenn man ihn einen Kopf kürzer macht. Verstehen Sie, oder muß ich es deutlicher sagen? Kürzer machen und das sechste Gebot, so schwer ist es doch nicht zu begreifen.«
Der Student schritt schweigend neben Thomas her, sein Blick war ganz starr, aber er wehrte sich nicht.
Zwischenbemerkung des Herausgebers.
Der gefällige Leser wolle sich gütigst daran erinnern, daß diese Unterredung nur durch Lachmann überliefert ist, der sie von dem Studenten haben will. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sie so, wie sie erzählt wird, nicht stattgefunden hat, daß vielmehr Lachmann sie absichtlich oder unbewußt verändert hat. Daran ändert Lachmanns Behauptung der völligen Objektivität seines Berichtes nicht das geringste, denn mit der Objektivität ihrer Beobachtungen oder Äußerungen haben es alle Ärzte, obwohl sie recht gut wissen könnten, daß ihr Beruf absolut subjektiv ist. Wie willkürlich Lachmann dabei verfahren ist, geht schon daraus hervor, daß er seine eigene, übrigens sehr unvollkommene Technik der psychoanalytischen Behandlung in dieses Gespräch hinein redigiert hat, ein bei Ärzten unumgängliches Verfahren, ohne das ihre Tätigkeit nicht denkbar zu sein scheint. Die merkwürdige Abweichung in dem Charakter des Helden hat übrigens Agathes Mißbilligung so stark erregt, daß der 251 Bericht von Ausrufungs- und Fragezeichen ihrer Hand geradezu gespickt ist, ja Worte wie ›Verleumdung‹, ›schändlich‹ usw. finden sich dazwischen. Als Abschluß des Ganzen hat Agathe mit dicken Buchstaben die Worte geschrieben: »Ist ein ärztliches Attest und deshalb unwahr.« Der Herausgeber hielt es für zweckmäßig, diesen kleinen Zug mitzuteilen, weil er bezeichnend für die unerschütterliche Rachsucht einer enttäuschten Frau ist.
Lachmanns Bericht lautet weiter:
»Fünftes und sechstes Gebot werden fast immer zusammen genannt, die Verwandtschaft von Liebe und Tod spricht sich darin aus und da ist Stoff genug zum Nachdenken. Hier nur so viel: die Liebe springt in Haß um und der Haß tötet. Aber es wäre so viel einfacher, wenn die Menschen wüßten, daß weder Liebe noch Haß dauern, daß sie wechseln wie Tag und Nacht, die ja auch nicht Gegensätze sind, sondern gegenseitige Bedingungen. Wenn sie vernünftiger wären, ließen sie die Nacht des Hasses vorübergehen und morgen liebten Sie mich wieder.«
Seebach stieß die Hand, die ihm Thomas entgegenstreckte, heftig zurück. »Päderast,« war das einzige, was er vorbringen konnte.
Thomas zuckte die Achseln und lachte gutmütig auf. »Soll es eine Beschimpfung sein? Sie trifft mich nicht. Ich habe keine Freude am Weib und auch keine am Mann, sagt Hamlet, und das ist auch mein Fall. Aber die Frage der Homosexualität interessiert mich, ja ich kann Ihnen verraten, daß ich heute Abend zu einem Ball der Urninge gehen will. Sie sind nur leider heute nicht imstande unbefangen zuzuhören, sonst würde ich Ihnen dieses und jenes zum späteren Gebrauch über das Urningtum sagen.«
»Ich bin vollkommen ruhig,« erwiderte Seebach, »sprechen Sie also, ich höre.«
Statt jeder Antwort wies Thomas auf eine Gruppe von Schulmädchen hin, die vor ihnen herging und die der Student schon eine Zeitlang betrachtet hatte. Zwei von den Mädchen gingen eng umschlungen nebeneinander, während eine dritte mit verzerrtem Gesicht einen halben Schritt hinter ihnen herging.
»Du bist treulos, Anna,« hörten sie sie eben schelten. »Wenn 252 eine Neue kommt, gleich läufst du hinter ihr her und schleckst dich mit ihr ab und vergißt alle Schwüre, die du mir gegeben hast.«
Das eine der beiden vorderen Mädchen rief über die Schulter weg, während sie sich noch dichter an ihre Kameradin schmiegte: »Spare du nur deine Eifersucht. Ich mache mir doch nichts aus dir. Du bist ein langweiliges Ding.«
Seebach lächelte. »Früh übt sich, was ein Meister werden will. Eine richtige Liebestragödie in Backfischkleidern.«
»Habe ich nicht recht,« sagte Thomas eindringlich, als ob er voraussetzte, daß der Student seine Gedanken erraten und ihm widersprochen hätte.
»Das ist etwas anderes, eine harmlose Kindersache.«
»Gewiß, aber –. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß unsere Gesetze nur die Liebe zwischen Männern verbieten, die zwischen Weibern straflos lassen?«
Der Student, dem das einsame Mädchen gefiel, war nicht mehr bei der Sache. »Das versteht sich von selbst,« sagte er und zupfte seine Manschetten hervor, die ihn die langen Jahre der Armut als unwiderstehliches Lockmittel für Mädchen betrachten gelehrt hatten.
Thomas war schon mitten in seinem Thema, der Zeitpunkt, bis zu dem er Wert auf Zuhörerschaft legte, war schon überschritten und er schwefelte infolgedessen darauf los, ohne sich um irgend etwas anderes zu kümmern.
»Das Phänomen wäre gar nicht zu erklären, wenn man nicht annehmen könnte, daß das Verbot der Knabenliebe ursprünglich eine Maßregel der Kirche gewesen ist, um das Heidentum in seiner Wurzel zu treffen. Die griechische Kultur ist undenkbar ohne die Vorliebe für männlichen Geist und männlichen Körper und damit, daß man dem antiken Eros, der zunächst die Mannesliebe war, ein Schandmal auf die Stirn brannte, ihn mit einem Kleide von naturwidrigem Kot überzog, vernichtete man den Mythus und die Geistesart der antiken Welt. Achill und Patroklos, Zeus und Ganymed, Orest und Pylades, alles wurde für den Christen unerträglich. Männer wie Sokrates und Lykurg versanken im Sumpf und Alexanders Adel, die thebanischen Helden des Epaminondas und 253 der dorische Staat der Spartiaten wurde der Gegenstand des Abscheues.«
Der Student beschleunigte seinen Schritt, die drei Mädchen waren eben in eine andere Straße eingebogen, und er wollte sie nicht aus dem Auge verlieren. Thomas wurde bei dem eiligen Tempo etwas kurzatmig, was sich noch dadurch vermehrte, daß er nach einem Taschentuch suchte, um sich die Nase zu schnauben.
»Wir leiden an dieser damals begreiflichen Verdammung der Knabenliebe mehr und mehr, denn allmählich ist auch die edle Form dieses Triebes« – er schnaubte sich jetzt mit solcher Macht, daß sich die drei Mädel erstaunt umsahen und so dem Studenten Gelegenheit boten, ein schmachtendes Gesicht aufzusetzen und den Hut zu ziehen – »die Freundschaft des Mannes mit dem Manne unmöglich geworden. Der Mann steht so einsam in der Welt wie ein Kirchturm.«
Ein neuer Gedanke stieg in ihm auf und er blieb stehen, um ihm mehr Nachdruck zu geben. Sein Begleiter jedoch, der es als Erfolg seines Grußes betrachtete, daß nun alle drei Mädchen Arm in Arm dahin schritten und sich eine nach der anderen umdrehten, um dann sich irgend etwas zuzutuscheln, verdoppelte seine Gangart, und Thomas blieb nichts anderes übrig, als halb im Laufschritt, immer noch mit dem Taschentuch in der Hand, hinter ihm herzulaufen, wobei er versuchte, den Studenten am Rockschoß zu packen.
»Der Kirchturm,« keuchte er, »beweist nun doch, daß der Trieb unausrottbar ist und sich überall wieder vordrängt, selbst mitten in die Religion hinein. Ja, mir fällt gerade ein, daß sich im Neuen Testament – aber so hören Sie doch – mein Gott, das ist doch wichtig – man muß die Studien machen – der Vikar –«
Die Mädchen sowohl wie der Student waren stehen geblieben, da eine vorbeiziehende Kompagnie des Alexanderregiments den Übergang über eine Querstraße versperrte.
»Da ist ein neues Beispiel, es ist wirklich interessant. Der Soldat wird bunt herausgeputzt, und was ihn auszeichnet, ist das Gewehr, mit dem er schießt. Die Explosion, die aus dem hohlen Lauf, der Seele, das Geschoß schleudert, ist ja deutlich eine gestaltete Ejakulation und der Knall deutet an, wo das Ziel liegt. Das Gewehr 254 des Mannes –« Wieder begann die Hetze. Die Mädchen, die der Student angeredet hatte, liefen jetzt ebenfalls schneller, um zu entkommen. Thomas schnappte förmlich nach Luft, aber er ließ sich diesmal nicht beiseite schieben. Vorsichtig hatte er den Studenten während des Wartens am Arm gepackt und hielt ihn fest.
»Sehen Sie hier,« rief er und wies auf eine Littfaßsäule, die an der Straßenecke stand, »mitten in dem tosenden Berlin in unserem heuchlerischen Jahrhundert steht der Phallus aufgerichtet, und Männlein und Weiblein schauen ihn an, begierig seine Geheimnisse kennen zu lernen. Der elektrische Wagen fährt daran vorbei, den Liebesstrom symbolisierend, und die vorbeirasenden Autos lassen es aus ihren Auspuffern stinken.«
Der Student hatte sich andauernd gegen Weltleins Griff gewehrt. Eben stiegen die beiden Freundinnen in eine Tram, während Seebachs Flamme, sich nach ihm umguckend, langsam weiter ging.
»Sie sind ein Narr,« sagte er, riß sich los und schrie dahinrennend noch: »und ein Schwein dazu.«
Seebach hat Weltlein nicht wiedergesehen, man weiß nicht, ob Thomas zu dem Ball der Urninge gegangen ist.