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Der Bankier starrte sein Gegenüber eine lange Weile an, ehe er in dem wüsten Menschen seinen alten Freund wiedererkannte.
»Wahrhaftig, Sie sind es, Herr Müller. Der Bürgermeister rief 60 es mir zu, daß Sie hier in irgend welchen wunderlichen Verlegenheiten festsäßen und ich fuhr her, um mich Ihnen zur Verfügung zu stellen. Aber wie sehen Sie aus. Beinahe hätte ich Sie für einen Stammgast des Gefängnisses gehalten.«
»Nicht wahr? Täuschend ist die Verkleidung. Aber ich bitte, nennen Sie mich nicht Müller. Ich reise inkognito. Weltlein heiße ich, Thomas Weltlein.«
»So erklären Sie mir doch –«
»Später, später, lieber Freund. Vorläufig fahren Sie mich zum nächsten Schneider! Sie sehen, wie nötig ich es habe.« Dabei zog er den kleinen Niedlich mit sich fort, und stieg in den Wagen, der vor der Türe hielt.
»Sehen Sie,« begann er, als sie dahin fuhren, »sehen Sie diesen Ärmel! Er erklärt Ihnen alles.«
Der Bankier, dessen Augen schon von Natur so aus dem Kopf herausstanden, als ob er sich beständig über die eigene Existenz wundere, starrte verblüfft auf den Flanellappen, der ihm vorgehalten wurde.
Thomas brach bei dem Anblick in lautes Lachen aus. »Es ist ein Götterzeichen, mein Lieber, Sie mögen es glauben oder nicht. Erkennen Sie nicht den tiefen Sinn? Sehen Sie nicht, wie es aus dem Ärmelloch spricht: Wer dem Hohen zustrebt, werfe ab, was ihn hindert und wenn es der letzte Rock ist, den er besitzt. Ich bin dem Ruf gefolgt. Mich fordert ein großes Werk und um es zu vollbringen, mußte ich von Hause fort und alles hinter mir lassen, Kleidung, Geld und selbst den Namen. Den Namen vor allem.«
Niedlich faßte sich allmählich. »Oh, ich verstehe,« sagte er. »Sie machen Studien nach dem Leben, wollen Erfahrungen in Verbrecherkreisen sammeln. Äußerst interessant ist das, ich wußte nicht, daß Sie sich mit einer solchen wichtigen Arbeit befassen.«
»So ganz richtig ist Ihre Vermutung nicht. Meine Absichten sind viel größer, ja ich kann sagen, daß ich mir das höchste Ziel gesteckt habe, das der Mensch sich erdenken kann. Es ist nicht leicht, Ihnen das in ein paar Worten zu erklären. Sehen Sie, die Sache ist die: Nach meiner Ansicht wird der Mensch in die Welt gestellt, wie der Schößling eines Baumes, der in die Tiefe der Erde 61 allerwärts seine Wurzeln treiben und mit Ästen und Zweigen um sich greifen soll. Ich habe, wie übrigens die meisten Menschen, diese Bestimmung arg vernachlässigt, bin gewissermaßen ein verkrüppelter Baum geworden, der seine Säfte und Kräfte nur nach einer Seite hin verbreitete. Sie haben gewiß einmal ein neugeborenes Kind gesehen.«
Herr Niedlich lächelte. »Unser drittes ist unterwegs,« sagte er. »Wenn Sie uns die Freude machen wollen, einen Löffel Suppe mit uns zu essen –«
»Nein, nein, ich danke sehr. Ich habe keine Zeit, Suppe zu essen, oder vielmehr ich bin nicht frei, muß meiner Wege ziehen, vorwärts, so rasch wie möglich vorwärts.«
»Wie schade, ich hätte Ihnen gern meine Kinder gezeigt. Salchen ist solch nettes Mädchen. Wenn sie bei mir ist, holt sie sich sofort meinen Zylinder, hält ihn sich vor den Mund und ruft Zahlen, richtige Zahlen hinein, und dann wieder horcht sie daran. Sie nennt das Telephon spielen. Und der Junge! Er ist kaum zweiundeinhalb Jahre. Das ist ein Genie. Denken Sie, er unterscheidet genau Silber und Gold. Nein, einen Augenblick,« er hielt dem ungeduldigen Thomas den Arm fest, als ob er ihn dadurch am Sprechen hindern könne. »Er ist sich seines Wertes bewußt. Neulich sagte er: Papa, wenn ich sie trinke, ist die Milch silbern, und ich mache sie dann zu Gold.« Der Bankier schlug die Beine übereinander und sah seinen Bekannten herausfordernd an.
Der fiel sofort ein: »Also ein Kind, ein Kind. Wenn es geboren wird, sieht es und hört es nicht, spricht nicht und geht nicht. Aber es hat Augen, Ohren, Beine und Mund. Wozu gab ihm die Natur das alles gleich mit? Es ist eine Aufforderung, sich auszubilden, sich zu bemühen. Der Mensch soll gebrauchen lernen, was er hat, so wird er vollkommen. Was aber haben meine Augen gesehen, so lange ich lebe? Buchstaben und Bücher. Mein Mund hat nichtige Dinge gesprochen, wie die Ohren nichtige Dinge gehört haben. Meine Füße haben mich nicht in das Leben getragen, wie sie es gesollt hätten. Über ein Menschenalter habe ich in Finsternis verbracht, ein Menschenalter verschwendet wie ein Toller. Das ist verrückt. Ich war verrückt. Jetzt aber bin ich klar geworden, Mir 62 ist, als ob ich meine Wiege vor mir sähe, darin mein eigenes kleines Ebenbild, den Säugling, aus dem ich wuchs, der der Vater meines Wesens ist. Und wie der verlorene Sohn möchte ich mich vor diesem Bilde niederwerfen, und flehen: vergib mir, ich habe gesündigt vor dir, ich habe vergeudet, was du mir gabst.«
Der Bankier war wenig zufrieden. Zu den glücklichen Träumen, in die ihn die Erinnerung an die Handelstalente seines Sprößlings versetzt hatten, paßte dieses Schwärmen nicht. Es wurde ihm unbehaglich und als der gute Thomas sich gar einen Verrückten nannte, pflichtete er mit dem Kopfnicken bei, mit dem er richtige Bemerkungen zu begleiten pflegte. Über diesem Kopfnicken erschrak er, denn sein Blick fiel dabei auf den Ärmel, durch den Thomas eben langsam und feierlich seinen Arm hindurch steckte. Der kleine Mann duckte sich in die Ecke des Wagens und verdrehte die Augen krampfhaft, um unbemerkt über seine vorspringende Nase hinweg die wunderlichen Anstalten des Nachbarn überwachen zu können.
»Ich habe mir den Vater des verlorenen Sohns als alten Mann vorgestellt,« sagte er zaghaft.
Thomas hatte gerade die Hand aus dem Ärmelloch hervorgestreckt und damit in die Luft gegriffen, als ob er jemand an die Gurgel fahren wollte. Dabei sah er unter den Brauen hervor seinen Bankier so seltsam an, daß er sich vor Angst die Taschen zuhielt.
»Es ist alles symbolisch, lieber Freund, alles. Der Vater des verlorenen Sohnes ein Symbol des Wickelkindes und dieser Ärmel ein Symbol meines Lebens. Verstehen Sie? So will ich durch das Dunkel der Welt wandeln, wie meine Hände durch den schmutzigen Tunnel dieses Verbrecherkleides. Oh, dieser Verbrecher, was hat er mich gelehrt! Man muß die Gelegenheit ergreifen, ja, aber man muß sie auch herbeilocken. Sehen Sie, der Ärmel hier war vorher abgetrennt. Sie können noch die Spuren der Schnitte sehen. Bei dem Ruck, mit dem er sich losriß, blieben seinen Wärtern die Ärmel in den Händen. Der Kerl hätte nicht entfliehen können, wenn er nicht vorher sein Kleid zerfetzt hätte. So habe ich alle Bande zerfeilt, zerschnitten, zersprengt, die mich an meine Vergangenheit knüpften, und nun juble ich der Freiheit entgegen, die mich vollkommen machen soll. Nur den Weg, den Weg, den sehe ich noch nicht. Es 63 stehet geschrieben, wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden. Ich habe mich erniedrigt, aber noch ward ich nicht erhöht.«
Herr Niedlich streckte die gespreizten Hände nach vorn; »Gott der Gerechte, lästern Sie nicht, ich bin ein gläubiger Christ.«
Thomas fuhr auf. »Es steht geschrieben,« rief er drohend, »und ich werde sehen, ob es wahr ist. Vorläufig mißlang es. Ich bin noch nicht vollkommen. Vielleicht ist es die Freude, die mich empor führt, Lust größer noch als Herzeleid. Und ich preise das Geschick, das Sie mir in den Weg führte, just als ich Geld brauchte.«
Der Bankier drückte auf den Gummiball, mittelst dessen er dem Kutscher das Zeichen zum Halten zu geben pflegte. »Wieviel brauchen Sie,« fragte er und öffnete den Schlag.
Thomas steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus. Ein Depeschenträger ging vorbei und der Gedanke an Agathe schoß ihm durch den Kopf. »Ich muß fort.«
»Sie haben ganz recht.« Niedlich drängte ihn auf den Tritt hinaus. »Hier ist Geld« Er holte aus seiner Brieftasche Banknoten und gab sie seinem Freunde, der ihm immer unheimlicher wurde. Auch er sah den Boten gehen und während er den seltsamen Gast fast aus dem Wagen stieß, rief er: »Ich muß zur Post fahren, will Ihrer Schwester telegraphieren,« dann zum Kutscher gewendet: »Los, was die Pferde laufen.«
Thomas hatte Lust ihm nachzurennen. »Agathe,« schrie er, »nur nicht Agathe.« Dann sah er ein, daß die Pferde schneller waren als er, und rasch sich wendend eilte er zu dem Schneider. Er sah nur noch, wie der Bankier den Tunnel der Erniedrigung aus dem Wagenfenster warf.
So sehr sich Thomas auch beeilte, es verging doch wohl eine Stunde und mehr, ehe er zu seiner Zufriedenheit ausgestattet war. Von dem Gedanken beherrscht, so bald als möglich weiter zu reisen, hatte er sich den ersten besten Anzug ausgesucht und fragte nun, sich flüchtig im Spiegel musternd, nach dem Preise. Der dienstfertige Schneider bückte sich, anscheinend um den Preiszettel zu suchen, obwohl er ihn soeben eigenhändig abgerissen hatte. Der Mann da gehörte zu seinen besten Kunden, gerade weil er auf Rechnung arbeiten zu lassen pflegte. Man mußte verhüten, daß er sich das 64 Barzahlen angewöhnte und wohl gar dahinter käme, wie viel billiger das sei. Als er sich eine Weile vergeblich abgemüht hatte, richtete sich der Kleiderkünstler auf, warf mit kühnem Schwung das Zentimetermaß vom rechten Arm auf den linken und rief: »Haase, sehen Sie einmal nach, was der Anzug Nr. 52 kostet. Einen Augenblick, Herr Müller.«
Thomas zuckte bei dem Namen zusammen und öffnete schon den Mund, um den Tod des Herrn Müller anzukündigen. Aber der Schneider eilte davon, um selbst nachzusehen, wie er sagte, in Wahrheit aber, um seinem Gehilfen klar zu machen, daß der Preis von Nr. 52 nicht aufgefunden werden dürfe. Achselzuckend kam er zurück und erzählte, leider lasse sich die Summe im Augenblick nicht feststellen, er werde sich erlauben, die Kleinigkeit auf die Rechnung zu setzen.
Thomas wandte sich zum Gehen. »Nun gut, wenn ich Ihnen sicher bin.«
Der Schneider legte seine kurzfingrige Hand auf die Herzgegend, die mit einem wahren Stachelzaun von Stecknadeln austapeziert war, so daß es aussah, als wollte er sich zur Bekräftigung seines edlen Vertrauens sämtliche Finger spicken, neigte den Kopf auf die linke Schulter und flötete: »Der Herr Müller belieben zu scherzen, solch ein alter Kunde.«
»Weltlein, Thomas Weltlein, wenn ich bitten darf, nicht Müller,« fuhr Thomas auf. »Ich wünsche nicht, daß meine Anwesenheit bekannt wird, ich habe Gründe, unter fremdem Namen zu reisen –« er zögerte ein Weile, – »ja, wenn meine Schwester, Frau Willen nach mir fragen sollte, so wäre es mir lieb, wenn Sie mich nicht gesehen hätten.«
Der Schneider spitzte die Ohren. Der abgerissene Zustand des feinen Herrn Müller hatte seine Neugier geweckt, jetzt glaubte er die Lösung gefunden zu haben. Der Herr ging auf galante Abenteuer aus. Mit einem feinen Lächeln des Verständnisses suchte er seinen Mann zu beruhigen, während er gleichzeitig in Gedanken berechnete, wie er dieses Schaf am besten scheren könne.
»Ich verstehe vollkommen, .vollkommen, Herr Weltlein. Nicht wahr Weltlein? Gestatten Sie mir, einem alten Routinier, eine Bemerkung. Wenn man ein Glück bei Damen machen will, –«
65 Thomas sah ihn erstaunt an.
» – Bitte tausendmal um Verzeihung,« beeilte er sich einzulenken. »Ich glaubte, da die Frau Schwester nichts von der Sache erfahren soll, der Herr Weltlein gehe auf Eroberungen bei dem schönen Geschlecht aus, und da dürfte dieser Anzug doch ein wenig zu power sein. Das schöne Geschlecht pflegt bei solchen Gelegenheiten auf ein hochzeitlich Gewand zu sehen.«
Mit zwei Schritten trat Thomas in die Mitte des Ladens und warf das eben gekaufte Jaket ab. »Ein hochzeitlich Gewand, natürlich. Fortuna ist ein Weib, der darf man nicht wie ein Bettler entgegentreten. Wie ein König und Sieger muß man einherziehen, dann wirft sie sich zu unsern Füßen.«
Während nun immer neue Schätze des Ladens anprobiert wurden und der geschäftige Schneider Kleider, Wäsche und Hüte in den Tiefen eines rasch herbeigeholten Koffers verschwinden ließ, gingen die Reden unaufhörlich hin und her.
»Ich habe die Zeit versäumt, mein Lieber, habe mein Leben verträumt und bin eingerostet und versauert. Fast bin ich schon zu alt, um noch etwas zu erreichen.«
»Oh, oh, zu alt, solch stattlicher Herr. Haase, rasch einen andern Gehrock, größere Nummer. Das ist gerade das rechte Alter. Man flattert nicht mehr von einer zur andern, wählt sorgfältig und hält fest an der einen Liebe.«
»Ich will daran festhalten, bis an mein Lebensende. Die Wogen der Freude und Lust sollen mich empor heben, mich der Vollkommenheit und Schönheit entgegen tragen, in ihnen will ich mich gesund baden.«
»Ganz recht, ein Bad, das wird nötig sein, Herr Müller, pardon, Herr Weltlein. Auf dem Bahnhof finden Sie dazu Gelegenheit. Und gesund muß die Liebste sein. Nur keine kranken Verhältnisse, sonst hat man arg zu schleppen. Hier der Frack muß noch einmal aufgebügelt werden. Gesundheit und Liebe gehören zusammen. So, nun sehen Sie gefälligst in den Spiegel. Als ob Sie die Welt erobern wollten.«
»Die Welt, die Welt. Ich fühle wie sie nach mir verlangt, wie ich ihrer begehre. Nein, das Alter drückt mich nicht. Seit die 66 Lumpen mir von den Gliedern gefallen sind, beseelt mich neue Kraft, und Ihre Kleider –«
»Nun noch der Zylinder. Kleider machen Leute.«
Thomas packte den Schneider vorn an der Brust und schüttelte ihn. »Er weiß es, er weiß es, die tiefe Weisheit von der Ansteckung kennt er, dieser Mann, und spricht sie aus wie etwas Alltägliches. Ja, so ist es. An sich sind wir nichts. Wir handeln nicht aus eigener Macht. Was uns umgibt, was auf uns einwirkt, das läßt uns handeln. Wenn wir lieben, so lieben nicht wir, sondern der Wein, den wir tranken, liebt, wir hassen nicht, sondern der schwere Pudding, der uns im Magen liegt, haßt. Sind wir geistreich, so ist es, weil unsere Kleidung uns gefällt, oder weil ein sympathischer Ton unser Ohr traf, der den Kerker unseres Verstandes sprengte, weil ein Strahl wunderbaren Lichtes in unser Auge fiel. Aus sich heraus schafft der Mensch nichts. Alles liegt in den Verhältnissen, in denen wir leben. Die soll der Mensch wählen, so gut er kann. Gewiß, Kleider machen Leute, Kleider symbolisch das Leben zusammenfassend, die Wohnung, die Speisen, der Umgang, die Bücher. Umgib dich mit Freude, so wirst du freudig, umgib dich mit Vollkommenheit, so bist du vollkommen.«
Eben fuhr der Wagen vor, der den Schwärmer mit all seinen Schätzen zur Bahn führen sollte, und stolz schritt Thomas an dem tief dienernden Schneider vorbei. Auf dem Bahnhof tat er nach des Schneiders Rat, und als er nun endlich frisch gesäubert und frisch gekleidet im Zuge saß, rief er sich selber zu: »Siehst du Thomas, du böser Zweifler, diesmal behalte ich Recht. Kleider machen Leute. Jetzt bin ich wirklich Mensch. Und jedenfalls, wenn man die Freude sucht, muß man anständig angezogen sein.«
Seit ihm auf dem Wege der Schmerzen Agathe als abschreckender Engel erschienen war, endete jedes Selbstgespräch des Wahrheitssuchers mit dem Gedanken an die Freude. Wo er ihr begegnen würde, wußte er. Der Vetter Lachmann verstand sich darauf. Bei dem würde er die Freude und die Vollkommenheit finden.
In Wahrheit fand er bei dem Freunde weder das eine noch das andere, wohl aber seine Schwester Agathe. 67