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Am andern Morgen erschien Thomas ziemlich spät bei seiner Schwester, die schon zum Gehen bereit war. Als sie ihn sah, warf sie den Brief ihrer Tochter, den sie eben las, beiseite und eilte ihm entgegen. »Du siehst arg übernächtig aus,« neckte sie ihn.
Er nickte freundlich, wies dann auf den Brief und sagte: »Laß dich nicht stören. Ich liebe freilich das Warten nicht. Aber in meiner Lage gilt es, sich im Entsagen üben.«
Agathe wollte davon nichts wissen. Sie brannte vor Begierde, zu Lachmann zu kommen, und mit den Worten: »Ich weiß schon, was in dem Brief steht,« zog sie den Bruder mit sich fort.
101 Unterwegs war Thomas einsilbig und gab halbe Antworten. Nur einmal fuhr er aus seiner Zerstreutheit mit der seltsamen Frage auf: »Hat sich Alwine schon verlobt?«
Agathe wagte es nicht, ihren Zorn laut werden zu lassen. Schweigend streckte sie ihren Sonnenschirm vor und spannte ihn auf. Aber in dem plötzlichen Ruck, mit dem sie es tat, drückte sich ihre Entrüstung aus. Thomas lachte.
»Antworte doch! Was brauchst du erst dein Gefieder zu sträuben.«
Die Bewegung, mit der Agathe den Schirm schulterte, hätte einem Gefreiten Ehre gemacht. Nur stieß sie sich dabei den heiligen Hut schief und als sie nun mit zusammengepreßten Lippen und starrem Blick weiter marschierte, sah sie gefährlich aus.
»Die Frage ist ungehörig,« sagte sie. »Meine Tochter ist noch ein Kind.«
»Alt genug, um selber ein Kind zu bekommen, kindisch genug, um der Erziehung eines Mannes noch Aussicht auf Erfolg zu geben. Schaff ihr einen Mann und wenn er zu nichts taugte, als ihr ein Kind zu machen, von dem sie dann lernen mag. Dein Freund Breitsprecher pflegt zu sagen: Der Beruf der Frau ist –«
»Mutter zu werden. Du brauchst den Pastor nicht zu zitieren. Du verstehst ja doch nichts davon mit deinen Junggesellenansichten. Alwine ist noch zu jung.« Damit riß sie Lachmanns Haustür auf, vor der sie eben angekommen waren, und rauschte mit ihrem schiefen Hut und dem offenen Sonnenschirm in den Flur wie ein Schlachtschiff, das siegreich in den Hafen einläuft, während Thomas pfeifend hinterher schlenderte.
Lachmann, der mit seinem Manuskript in der Hand die beiden erwartete, sah erstaunt von Einer zum Andern. »Zankst du schon wieder, Agathe,« sagte er und hob mißbilligend die Papierrolle in die Höhe.
Frau Willen achtete nicht darauf. Sie warf Hut und Sonnenschirm beiseite und stürmte in das Zimmer. »Das geht nicht so weiter. Er beträgt sich flegelhaft. Er braucht Ausdrücke, Ausdrücke, die er nur im Tingeltangel aufgelesen haben kann.«
Thomas saß schon. Er war gerade dabei, eine Serviette um 102 den Hals zu binden. Jetzt hielt er mitten in der Bewegung inne und sprach salbungsvoll und langsam über das ausgebreitete weiße Linnen hinweg. »Ich bin allerdings in einer Singhalle oder, wie du sagst, in einem Tingeltangel gewesen. Daß aber ein Kind gemacht werden muß, wenn es zur Welt kommen soll, wußte ich schon vorher. Im übrigen wünsche ich nicht, daß du hinter mir her spionierst.«
»Ich verbitte mir deine rohen Ausdrücke,« fuhr Agathe auf, »hörst du, ich verbitte mir das.«
Thomas lächelte milde. »Vergiß nicht, liebe Agathe,« sagte er, während er seine Vorbereitungen zum Schmaus bedächtig fortsetzte, »daß du hier nicht in meinem Hause bist und suche deinen Ton zu mäßigen, wie es sich unserm gütigen Wirt gegenüber ziemt.«
Agathe wurde blutrot und schlug die Augen nieder.
Schnell kam ihr Lachmann zu Hilfe, der breitbeinig und mit den Händen auf dem Rücken hinter der Cousine gestanden und sich an dem Eifer der Dame geweidet hatte. »Sieh, sieh, du Schelm, warst im Tingeltangel und nimmst deinen alten Freund nicht mit. Das ist nicht recht. Gab's hübsche Mädchen?«
»Es geht,« erwiderte Thomas mürrisch.
»Warst wohl im Reichsadler bei der dicken Selma?«
»Selma oder Wanda, was weiß ich. Das Insekt hatte mich hineingeschleppt, das Malerinsekt. Ich hatte ihn gemietet, um an ihm zu experimentieren.«
Agathe hob den Kopf und seufzte. »Wenn du nur das Manschen mit Gift lassen könntest, hier sticht dich doch keine.«
»Es gibt auch Wanzen in Menschengestalt,« sagte Thomas ernst. »Meine Experimente sind aber höher gerichtet.« Er faltete sorgfältig seine Serviette zusammen, legte sie auf den Tisch und deckte die Hand darüber, als ob er den Schatz der Weisheit dort eingewickelt hätte. »Dieser Keller-Caprese ist eine Naturmerkwürdigkeit. Es ist ja bekannt, daß friedliche Menschen durch den Wein streitlustig werden. Mein Maler hat nun mit wahrhaft bewundernswerter Selbstüberwindung und Gedankenschärfe Versuche darüber gemacht, bis zu welcher Feinheit sich diese Reaktion ausbilden läßt. Er ist imstande, jeden Tropfen Wein, den er genießt, 103 in seinem Lauf durch den Körper zu verfolgen und anzugeben, an welcher Stelle des Organismus er eingreifen wird.«
»Der Kerl steht immer drei Zoll unter Alkohol,« rief Lachmann dazwischen. »Merkwürdig ist er nur im Lügen.«
»Ich weiß, daß dieser Mann lügt,« fuhr Thomas fort, ohne sich stören zu lassen. »Hierin hat er aber die Wahrheit gesprochen. Ich habe der Wissenschaft ein Zwanzigmarkstück geopfert und die Tatsachen haben mich überzeugt. Keller-Caprese gab mir vor jedem Glas, das er trank, genau an, in welchem Körperteil sich der Wein geltend machen würde. Zuerst wurde das Herz ergriffen. Ich fühlte seinen Puls und konnte die Richtigkeit seiner Vorhersage bestätigen. Jetzt kommt die Gesichtshaut an die Reihe. Wirklich, seine Farbe wurde braunrot. Jetzt werde ich den Wein in die Zunge schicken; im nächsten Augenblick fing er an zu lallen. Dieses letzte Wort machte mich nachdenklich. Wie, sagte ich mir, der Mann spricht so, als ob er Nahrungsstoffe willkürlich in bestimmte Körperteile werfen könne. Ich dachte sofort an dich, Lachmann. Denn du wirst begreifen, was sich alles mit einer solchen Gabe auf ärztlichem Gebiete ausrichten läßt, und da ihr vorgebt, mit Fingerhutkraut auf das Herz und mit Salizylsäure auf kranke Gelenke einwirken zu können, schien mir die Sache des Nachforschens wert. Ich fragte also mein Versuchstier danach. So ohne weiteres gehe es nicht, meinte er. Wenn er aber Gegenstände mit dem Wein mische, die seine psychischen Kräfte nach bestimmten Richtungen hin steigerten, so gelinge es ihm allerdings. So tue er ab und zu, wenn er nicht malen könne, zwei, drei Tropfen Terpentinöl in ein Glas Wein und sofort befalle ihn ein unbezwingbarer Drang, den Pinsel zu führen. Ich beschloß, die Sache zu erproben und warf ihm ein Goldstück in sein Glas. Anfangs wollte er sich der schlimmen Folgen wegen nicht darauf einlassen, aber auf meine dringenden Bitten gab er nach, und wahrhaftig, kaum hatte er getrunken, so griff er nach meiner Börse, die ich noch in der Hand hielt, und er hätte sie unter dem Zwange des psychisch verstärkten Goldweins eingesteckt, wenn ich sie nicht sofort in meine Tasche versenkt hätte.«
Thomas sah abwechselnd seine Schwester und seinen Vetter an, als ob er den Ausdruck ihres Erstaunens erwarte. Agathe schüttelte 104 nur vielsagend den Kopf, während der lange Vetter mit ernsthafter Miene sagte: »Wenn du noch ein Goldstück los sein willst, so brauchst du das Experiment nur mit mir zu wiederholen.«
Thomas sah seinen Freund geringschätzig an. »Ich hätte mir gleich denken können, daß du ein solches Phänomen nicht aufzufassen vermagst. Daß er das Goldstück nahm, war selbstverständlich. Aber daß er nach der Geldbörse griff, nicht wahr, das hättest du nicht getan, das hätte niemand getan. Und mein Versuchsmann bestätigte mir, daß er unbewußt handelte, daß der Zwang der Mischung gegen seinen Willen die Hand geleitet habe. Er machte mir Vorwürfe über mein vorwitziges Experiment, das ihn beinahe zum Diebe gemacht habe.« Thomas schlug selbstzufrieden die Beine übereinander, und sich weit über den Tisch lehnend, bekräftigte er seine Worte mit dem Zeigefinger. »Siehst du, mein Junge, das ist es. Mit einem Glas Wein und einem Goldstück einen ehrlichen Mann zum Diebe machen, das geht noch über die Traumzustände nach der Hypnose, das wirft das ganze Strafrecht um.«
Bei dieser Narrheit verlor Lachmann beinahe die Fassung. »Solch ein Kerl stiehlt auch ohne das.«
Wieder traf ihn ein verächtlicher Blick Weltleins. »Auch diesen Einwurf habe ich bedacht und erprobt. Der Versuch ist in anderer Form sofort wiederholt worden. Ich habe Fräulein Selma –«
Agathe horchte auf. »Wer ist denn das,« fragte sie.
»Du hast es ja von Lachmann gehört, die dicke Selma aus dem Reichsadler, ein sehr nettes und wißbegieriges Mädchen, dessen ich mich annehmen werde.«
»Mit einem solchen Weibsbild hast du gesprochen?«
»Sie saß die ganze Zeit bei uns, zeitweise auf meinem Schoß, das war aber unbequem. Ich brauche Umgang mit Damen, er hebt, er vertieft mich, er adelt. Aber unterbrich mich nicht.« Die Mahnung war unnötig. Agathe war entrüstet in ihren Stuhl zurückgesunken, sie hatte die Arme so fest gekreuzt, als ob sie die dicke Person damit zerdrücken wollte.
»Also ich bat Selma, die mit klugen, verständigen Augen zugesehen hatte, einen Kuß auf den Rand des Weinglases zu drücken, das ich eben frisch gefüllt hatte.«
105 »Nun und –«
»Die Reaktion war über Erwarten stark, so daß die Sitzung ein unvermutetes Ende fand. Kaum hatte Keller-Caprese den kußgewürzten Wein getrunken, so wurde er vom bacchischen Wahnsinn ergriffen, seine Hände und sein Mund begannen unwillkürliche Tastbewegungen nach der Dame hin zu machen, ja, er wurde handgreiflich, Fräulein Selma aber, so plötzlich in ihrem Zartgefühl verletzt, schrie ein wenig auf und alsobald erschienen zwei wohlgekleidete Herren mit erschreckenden Fäusten und ersuchten uns höflich, den Saal zu verlassen, und als der Maler Schwierigkeiten machte, warfen sie ihn hinaus.«
Lachmann krümmte sich auf seinem Stuhl, so schwer wurde es ihm, das Lachen zu verbeißen, während Agathe sich mit dem Taschentuch wedelte und bei jeder Armbewegung mechanisch ein Pfui hervorstieß.
»Nach einer Weile,« fuhr Thomas fort, »boten die beiden Herren mir den Arm. Obwohl ich entschlossen war, auch ohne diese Einladung zu gehen, ließ ich mir die ehrende Begleitung gefallen.«
»Also wahrhaftig hinausgeworfen,« schrie Lachmann. »Das ist ja ein famoser Spaß. Was sagst du nun, Agathe, zu den Früchten deiner Erziehung?« Er war von der Komik der Situation so gefaßt, daß er ganz seine Aufgabe als Arzt vergaß, und wenn Weltlein nicht in diesem Augenblick das Manuskript unter des Vetters Arm hervorgezogen hätte, wäre wahrscheinlich der mühsam ausgedachte Heilungsplan ganz zu Wasser geworden. Thomas entfaltete die Papierrolle und las bedächtig den Titel: »Rede des Dr. Besserwisser über den Nutzen der Krankheit.« Sein Gesicht wurde nachdenklich und als ihm Lachmann die Schrift fortriß, blieb er eine Zeitlang regungslos sitzen.
Der Vetter hatte inzwischen seine Gedanken gesammelt. Ihm lag daran, den Titel nachwirken zu lassen, und so sagte er ablenkend: »Also auf diese Weise bist du dein Versuchstier los geworden.«
»Nein,« versetzte Thomas, »noch nicht. Die Sache hatte ein Nachspiel. Ich sagte ja, die Reaktion war über Erwarten stark. Als ich langsam die Straße hinabging, sah ich meinen Maler wieder im 106 Handgemenge mit zwei weiblichen Wesen, zu deren Reizen ihn der psychisch verstärkte Weingenuß hinzog. Ich schritt ein, gab dem unglücklichen Mann erst ein paar Ohrfeigen und dann, weil ich doch selbst an seinen unschicklichen Handlungen schuld war, ein kleines Schmerzensgeld und riet ihm, sich davonzumachen. Als ich mich dann nach der Dame umsah, erkannte ich in ihr – die andere Dame war nämlich ein Dienstmädchen – Käthe Ende, unseres Vikars Schwester.«
Bei dem Namen Ende fuhr Agathe auf. Etwas Seltsames begegnete ihr. Sie, die sich nie mit Visionen abgegeben hatte, sah plötzlich am hellen lichten Tage ihre Laube vor Augen und darin Alwine, aber nicht allein, nur vermochte sie den Mann nicht zu erkennen, der bei ihr stand. Schon im nächsten Augenblick war das Traumbild zerstoben, und sie sah ihren närrischen Bruder vor sich. In dem ernsthaften Nicken, mit dem er sich zu ihr wandte, glaubte sie die Worte zu lesen: »Jawohl, du hast ganz richtig gesehen.« Und rasch fragte sie: »Mit wem soll sich Alwine verloben?«
Thomas achtete nicht auf die Frage. »Ich habe das gute Mädchen, das aus einer Gesellschaft zurückkam, nach Hause begleitet und wir haben uns recht hübsch unterhalten. Sie hat mir ihre Ansichten über die Frauenfrage auseinander gesetzt, was mir erwünschte Gelegenheit gab, die Anschauungen zweier lediger Frauen, Selmas und Käthes miteinander zu vergleichen. Bei Beiden kommt es darauf hinaus, daß die Männer an allem Unglück schuld sind, weil sie nicht richtig zu lieben verstehen. Aber den Begriff Liebe fassen die Damen recht verschieden auf.« Thomas lachte selbstgefällig. »Übrigens werde ich heute erfahren, wie sich die Masse zu der Frage stellt. Die kleine Ende, die Schriftführerin des hiesigen Vereins für Frauenbildung und Frauenstudium ist, und als solche wohl ab und zu den Mut zeigen muß, sich spät auf der Straße herum zu treiben, hat mich zu einer Versammlung eingeladen. Ein Fräulein Dr. Kampf wird über Hebung der Sittlichkeit sprechen, und ich denke, wir gehen alle drei hin. So viel ich verstanden habe, will dieser Kampf die Folgen geschlechtlicher Ansteckung schildern und da fühle ich mich bei meinen Epoche machenden Erfahrungen berufen einiges zu sagen.« 107