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Siebenundzwanzig Jahre sind es her,« hob der Oberst an, »da herrschte Schrecken in dem Lager, das eine Gesellschaft Goldgräber am Fuß der Sierra aufgeschlagen hatte. In der Nacht war Schnee gefallen und die kahlen Berggipfel, deren Riesenmauer sich gegen Westen erhob, kleideten sich allmählich in ein weißes Gewand. Es drohte zum Leichentuch zu werden für die elenden Menschen, die in ihrer Not der Verzweiflung nahe waren. Schon zwei Wochen zuvor hatte ein Schreckensgespenst Einzug gehalten im Lager – der Mangel an Nahrungsmitteln. Immer fester nistete es sich ein und ließ sich nicht mehr vertreiben.
»Die Gesellschaft bestand aus zwölf Männern, von denen zwei jetzt vor euch stehen – und einem kleinen Knaben von zwölf Jahren – meinem Sohn. Ein zwölfjähriges Kind an diesem Ort des Grauens, der beherzte Männer zittern machte! Er hieß Bernhard und war ein schöner Knabe. Alle Beschwerden, die wir ertragen mußten, hatten ihm seinen Frohsinn nicht getrübt, seinen Mut nicht gebrochen. Auch der neuen Gefahr, die uns sämtlich bedrohte, sah er kühn ins Angesicht und beschämte, ohne es selbst zu wissen, die entmutigten Männer.
»Ich liebte den Knaben mehr als mein Leben und wenn ich daran dachte, daß ich ihn selbst hierhergeführt in den gewissen Tod, so fluchte ich dem Goldfieber, das mich bethört hatte, und gelobte, wenn er mir erhalten bliebe, keine Hand mehr auszustrecken nach den gleißenden Schätzen und wenn mir die Goldklumpen auch dicht vor den Füßen lägen.
»Noch ein anderer Feind bedrohte an jenem Tage unser Lager: die Seuche. Vor einer Woche war unser Führer gestorben; wir hatten nicht gewagt, den Namen seiner Krankheit auf die Lippen zu nehmen, aber wir entflohen, sobald sein Atem stillstand. Wir kannten den Weg nicht, gerieten in eine falsche Schlucht und verloren sechs kostbare Tage in der Irre, sonst wären wir schon jenseits der Berge gewesen, ehe der Schneefall eintrat.
»An jenem Morgen ward abermals ein Mann vom Fieber befallen; wir sahen es mit Schaudern, aber es war nicht das größte Uebel, vor dem uns bangte. Die brennendste Frage für den Augenblick war, ob wir den Uebergang des Gebirges wagen oder in der Schlucht warten sollten, bis man uns Entsatz und Hülfe schickte.
»Ich stimmte dafür, vorwärts zu dringen, White ebenfalls und auch – dieser Mann hier; aber andere von den Gefährten schraken zurück vor der Gefahr, denn der Schnee fiel in dichten Massen, allmählich füllten sich die Schluchten und Weg und Steg ward verweht. Wer gehen wollte, mußte sofort aufbrechen, sonst war keine Möglichkeit des Gelingens für das Unternehmen.
»Die Gesellschaft beschloß sich zu teilen. Sechs Männer sollten über das Gebirge gehen, die andern sechs, unter ihnen der Kranke, in dem Lager zurückbleiben. Zwischen den beiden Gruppen hagerer, verhungerter Gestalten stand mein kleiner Sohn in der Mitte. Mit hellem Lachen, als gelte es ein fröhliches Spiel, lief er bald nach der einen, bald nach der andern Seite: ›Welches ist meine Partei, soll ich gehen oder bleiben?‹ fragte er lustig. Als ich in vorwurfsvollem Ton seinen Namen rief, flog er wie ein Pfeil auf mich zu und warf sich mir an den Hals. ›Glaubtest du, ich würde dich verlassen, Vater?‹ sagte er; ›ich machte ja nur Spaß, das thue ich so gern.‹
»Von den kärglichen Lebensmitteln, die vorhanden waren, gaben die Zurückbleibenden für jeden von uns einen kleinen Vorrat ab. Der Knabe erhielt weniger als ihm zukam, allein ich überging das mit Stillschweigen. Wenn wir nicht durch einen besonderen Glückszufall den richtigen Weg fanden, waren wir doch alle dem Tode geweiht, bevor wir noch die Brotrationen aufgezehrt hatten. Vom langen Fasten waren unsere Körperkräfte ohnehin dermaßen geschwächt, daß die zitternden Füße uns kaum zu tragen vermochten.
»So nahmen wir denn Abschied von unseren Gefährten und brachen auf, White und der Mann hier, Dick Hughes, zwei Brüder aus Kentucky, ich selbst und mein kleiner Bernhard. Kaum aber hatte ich einige Schritte gethan, da ward es mir dunkel vor den Augen, als sei die Nacht plötzlich hereingebrochen, ich vermochte die bleischweren Füße nicht mehr vom Boden zu heben. Hilflos streckte ich die Arme aus, es war als stürzte ich in eine unergründliche Tiefe, und die Sinne schwanden mir. Die Seuche hatte auch mich ergriffen, und die andern mußten ohne mich weiterziehen.
»Noch heute trage ich die Spuren der furchtbaren Krankheit im Gesicht. Sie raste mit dämonischer Gewalt in meinen Gliedern. Neun Tage lang lag ich in Fieberglut in der kleinen Bretterhütte, die man für mich aufgeschlagen hatte. Als ich endlich zum Bewußtsein erwachte und die Augen öffnete, fiel mein erster Blick auf meinen kleinen Sohn, der bald jubelte, bald weinte vor Freude, daß ich ihn wiedererkannte.
»Er ließ nicht ab, mir die Hände zu küssen und die Decke, welche mich umhüllte; ich aber hätte vor Entsetzen aufschreien mögen, denn ich kannte jetzt meine Krankheit und die schreckliche Gefahr der Ansteckung.
»Ich war jedoch noch zu schwach, um einen Laut von mir zu geben, und als er allmählich ruhig ward, lag ich still da und suchte in seinen geliebten Zügen zu lesen, was sich während der Zeit meiner Bewußtlosigkeit im Lager zugetragen haben mochte. Etwas Gutes schwerlich, denn seine sonst so runden, blühenden Wangen waren eingefallen, und in den lachenden Augen lauerte jener hungrige Blick, den ich früher nur bei den darbenden Männern gesehen hatte.
»›Ist kein Entsatz gekommen?‹ stieß ich mühsam heraus.
»Er schüttelte den Kopf, sah sich mit scheuer Miene in der kleinen Hütte um, beugte sich dann über mich und flüsterte mir ins Ohr: ›Nein, aber sei nur ohne Sorge, ich habe Nahrung genug für dich.‹
»Vorsichtig, mit leisem Tritt schlich er in einen Winkel der Hütte, kauerte sich nieder und begann die Erde auszugraben, wobei er sich von Zeit zu Zeit ängstlich umsah. Ich verstand sein seltsames Gebühren nicht, bis er plötzlich aufsprang und mit seligem Lächeln etwas in die Höhe hielt, das mir ein Stück Brot zu sein schien. Heiße Thränen stürzten mir aus den Augen bei dem rührenden Anblick.
»Aber mein Hunger regte sich mächtig und mit Gier verschlang ich die Stückchen, welche er für mich abbrach. Bei jedem Bissen, den ich aß, strahlte er vor Freude, und als mein heftigstes Verlangen gestillt war und ich das müde Haupt nach der Wand kehrte, hörte ich noch vor dem Einschlafen das kleine Gebet, das er aus dankbarem Herzen zum Himmel emporsandte.
»Ich schlief lange und fest; als ich die Augen wieder aufschlug und mich nach meinem kleinen Sohn umschaute, kam er eben von draußen zur Hüttenthür herein. Er hatte im Lager die Nachricht verkündet, daß ich in der Genesung sei.
»›O, Vater,‹ rief er, ›wir dürfen wieder hoffen! Ein fremder Jäger ist heute früh angelangt, er sagt, daß Leute von der Ebene herangezogen kommen, mit vielen Wagen und großen Vorräten an Lebensmitteln.‹
»›Dann muß ich rasch wieder gesund werden,‹ erwiderte ich. ›Sie dürfen keine gefährliche Krankheit hier im Lager finden, die sie verscheuchen würde. Ist der andere Kranke gestorben, Bernhard?‹
»Der Knabe ließ den Kopf hängen, dann schaute er fröhlich auf. ›Ja, aber er hatte auch keinen kleinen Sohn, der ihn pflegen konnte.‹
»›Und die Leute, die in das Gebirge zogen? Hat man etwas von ihnen gehört?‹
»›Vor einer Woche sind sie zurückgekommen, Vater. Sie haben den Paß nicht finden können. Jetzt wünschen sie, daß sie nicht zurückgekehrt wären.‹
»›Weshalb denn, mein Kind? Sieht es hier im Lager so schrecklich aus? Sind noch mehr Leute krank oder nahe am Verhungern?‹ frug ich.
»›Es steht schlecht, Vater, so schlecht, daß sie sich vor nichts mehr fürchten, sie fürchten sich nicht einmal hier in die Hütte zu kommen,‹ gab er mir zur Antwort.
»›Und du, Bernhard, fühlst du dich ganz wohl?‹ fragte ich besorgt.
»›O ja!‹ antwortete er, so zuversichtlich er konnte.
»Ich sah, daß, wenn der Entsatz nicht bald kam, ich den Knaben, der meine ganze Freude und Hoffnung war, nicht lange mehr behalten würde. Bald darauf muß ich wieder eingeschlummert sein, denn ich hatte einen Traum. Der alte Mann hier – er ist in Wirklichkeit mehrere Jahre jünger als ich, wie unglaublich das auch scheint – kann sagen, ob es auf Wahrheit beruht.
»In einer Schlucht, zwischen himmelhohen Felsen, sah ich fünf Männer mit verzweifelter Anstrengung vorwärts dringen durch den sich immer hoher türmenden Schnee. Wie scharfe Nadeln schmerzten die eisigen Krystalle, die ihnen der Sturm ins Gesicht wirbelte; mühsam nur hoben sie die Füße und ich sah, daß ihre schwachen Kräfte bald erliegen müßten, wenn die Wut der Elemente nicht nachließ oder irgend ein Felsvorsprung ihnen ein schützendes Obdach gewährte. Der vorderste Mann, der Führer der kleinen Schar, war groß, kräftig gebaut, mutig und entschlossen. Er trotzte dem Sturm mit erhobenem Haupt und rief seinen Genossen mehr als einmal ermunternde Worte zu. Ihnen zunächst schritt ein schmächtiger Mann, aber zäh an Muskeln und Sehnen; er glitt häufig aus, erhob sich aber von jedem Fall und hielt sich dicht an seinen Gefährten. Sie waren ausgezogen um Gold zu finden, wonach ihre Seele dürstete, und nur der Tod konnte ihrem Trachten ein Ziel setzen. Die drei andern schleppten sich langsamer hinterdrein, nach wenigen Schritten stürzten sie immer wieder in den Schnee und alle Versuche der beiden vordersten Männer, sie zu stützen und aufzurichten, blieben erfolglos. Bald erhoben sich auf dem öden Pfade drei Schneehügel, wo vorher alles eben gewesen war; nur die zwei mutigsten Wanderer arbeiteten sich noch weiter fort durch Schnee und Sturm. Plötzlich stieß der vorderste einen lauten Schrei des Entzückens aus. Sie waren gerettet. Zu ihrer Linken that sich in der schroffen Steinwand eine Zuflucht auf; schon in der nächsten Sekunde kauerten sie in der engen Höhle, wo sie, vor Wind und Schneegestöber gesichert, die Augen wieder frei dem Licht zu öffnen vermochten.
»Der gierige Goldgräber kennt nichts Höheres als seine Leidenschaft. Statt auf die Kniee zu sinken, um dem Himmel für ihre wunderbare Rettung zu danken, stierten die beiden Männer mit heißhungrigen Blicken auf das Felsgestein zu beiden Seiten der Höhle. ›Gold!‹ lallte der eine mit schwerer Zunge, ›Gold!‹ stammelte der andere mit bebenden Lippen.
»Während sie mit dem Brot, das sie bei sich trugen, den nagenden Hunger stillen, schauten sie unablässig bald nach dem Gestein über ihren Häupten, bald auf den Boden der Höhle. Jetzt stürzt der eine nach einer Felsenspalte hin, in der er etwas glitzern sieht. Als er zurückkommt zittert er an allen Gliedern vor Aufregung und verbirgt die Hand in der Tasche.
»›Zeig' her,‹ ruft ihm der stärkere Gefährte zu. Zögernd thut jener ihm den Willen; in der langsam sich öffnenden Hand liegt ein Klümpchen Gold, das sie beide unverwandt anstarren.
»Dicht an einander gedrängt, um sich zu wärmen und zu stützen, nehmen sie jetzt auf dem Boden der Höhle Platz. ›Wir dürfen nicht unterliegen; unser Leben hat jetzt noch Wert, wir müssen suchen es zu erhalten,‹ das ist ihr einziger Gedanke, indem sie berechnen, wie lange ihr Brotvorrat noch reichen kann. Unterdessen fällt der Schnee dichter und dichter; er häuft sich immer höher auf vor dem Eingang der Höhle; kaum bleibt ihnen noch Licht genug, einander zu erkennen.
»›Die Flocken werden größer und fallen langsamer,‹ sagte der eine, ›heute Nacht wird sich der Himmel aufhellen und morgen können wir zurückkehren. Was meinst du – sollen wir unsern Fund geheim halten?‹
»›Ja, ja,‹ erwiderte der andere, ›außer uns beiden darf niemand darum wissen. Haben wir den Schatz doch mit Gefahr unseres Leben entdeckt.‹
»›Das Lager ist ein elender Ort, aber wir sind dort sicherer als in den Bergen. Soll unser Reichtum uns je Genuß und Ehre bringen, so müssen wir alles daran setzen, bei Kräften zu bleiben, bis Hülfe kommt. Wollen wir Kameraden sein?‹ So sprach der eine wieder eifrig.
»›Ja, laß uns beide zusammenstehen. Geht uns die Nahrung aus, so sättigen wir uns am Golde, hurra, hurra!‹ war die schnell folgende Antwort des andern.
»Der Freudenruf hatte einen matten Klang, denn der einst so starke Mann war nahe daran zu erliegen. Sein Kopf sank auf die Brust herab und er schlummerte ein, neben dem Gefährten. Draußen hatte sich der Sturm gelegt, es herrschte Totenstille und immer langsamer fielen die schweren Schneeflocken zur Erde.
»Drei Tage später erschienen die beiden wieder im Lager, weit schwächer als da sie es verließen; in ihren Augen aber funkelte eine unnatürliche, wilde Gier, denn ein Dämon war seit jener Stunde in ihre Brust eingezogen, als sie den Goldschatz in der Felsenhöhle entdeckt hatten.«
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