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Fünftes Kapitel.
Am Ort der That

Im Erdgeschoß fand Jack den Hausmeister Felix in großer Aufregung. »Der Coroner und die Geschworenen sind da«, sagte er, »sie haben nach Herrn Stanhope gefragt, soll ich ihn holen?«

»Ich will selbst gehen«, versetzte Jack, und stieg die Treppe wieder hinauf. Er teilte dem Freunde mit, daß seine Gegenwart bei der Leichenschau erforderlich sei, bat ihn aber zugleich, von seinen Zweifeln und Befürchtungen nichts laut werden zu lassen, sondern einfach auf die Fragen zu antworten, welche die Herren an ihn richten würden.

Als sie zusammen das Zimmer betraten, wo die Geschworenen um das Bett versammelt waren, auf welches man die Leiche gelegt hatte, stöhnte Stanhope laut auf vor unsäglichem Schmerz. Er hatte mit ganzer Seele an seinem Vater gehangen und vermochte den Anblick der jetzt so todesstarren, geliebten Züge nicht zu ertragen. Den Kummer des Sohnes ehrend warteten die Versammelten schweigend, bis Stanhope seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte und im stande war, über die näheren Umstände des traurigen Ereignisses Auskunft zu geben, soweit er selbst davon unterrichtet war.

Die Lage, in welcher der Sohn die Leiche gefunden hatte, die ganze Beschaffenheit des Zimmers und viele andere Thatsachen sprachen so deutlich für einen unglücklichen Zufall, daß die Geschworenen nicht lange zögerten, ihren Ausspruch zu thun. Als sie das Zimmer verlassen hatten, schöpfte Hollister tief Atem, drückte Stanhopes Hand und rief wie von einem Alp befreit:

»Jetzt ist das Schlimmste vorbei; geh' nun voraus auf dein Zimmer, ich komme sogleich zu dir; nur möchte ich vorher noch einige Fragen an Felix richten.«

Aus der soeben beendeten Verhandlung hatte Jack etwa folgende Einzelheiten entnommen: Gleich nach der Trauung waren die Vermählten nach dem Elternhaus der Braut gefahren, um die Glückwünsche der Freunde und Bekannten in Empfang zu nehmen. Von dort hatten sie sich in ihre künftige Wohnung begeben, welche Herr White seiner jungen Frau zu zeigen wünschte, ehe sie die Hochzeitsreise nach dem Süden antraten.

Er hatte sie durch das ganze Haus geführt bis zu dem für sie eingerichteten Boudoir im zweiten Stock und sich dann in sein Schlafzimmer begeben, um die letzten Reisevorbereitungen zu treffen.

Vor dem Schlafzimmer befand sich ein kleines Gemach, welches White, seit er Witwer war, meist als Arbeitszimmer benutzte. In der Mitte desselben stand sein Schreibtisch, der Schlafstubenthür gerade gegenüber. Außer dieser hatte das Gemach noch zwei Eingänge, von denen der eine auf die Haupttreppe führte und meist von den Familiengliedern benützt wurde, während der andere, für die Dienerschaft bestimmte, durch einen schmalen Gang mit der Hintertreppe in Verbindung war.

Im Schlafzimmer stand der Koffer bereits verschlossen, und nur die offene Reisetasche, die oben darauf lag, bewies, daß noch nicht alles zur Abfahrt fertig gewesen war. Dicht neben dem Koffer hatte man Whites Leiche ausgestreckt gefunden und Felix, der, sobald er den Schuß gehört hatte, unmittelbar nach Frau White und Stanhope herbeigeeilt war, wollte bemerkt haben, daß die Schlüssel, die an der Reisetasche hingen, sich noch hin- und herbewegten, als habe seines Herrn Hand sie gerade berührt, wie er getroffen zu Boden stürzte. Die Geschworenen hatten aus diesem Umstand den Schluß gezogen, daß White die Pistole eben in den Reisesack legen wollte, als der Schuß losgegangen war, aber Jack fragte sich, ob nicht White vielmehr in dem verhängnisvollen Augenblick die Pistole aus dem Reisesack genommen habe. Das hätte freilich wie Absicht ausgesehen, während in ersterem Fall nur von Unvorsicht die Rede sein konnte. Daß ein so praktischer und erfahrener Mann wie White überhaupt eine geladene Pistole eingepackt haben sollte, schien Jack mehr als unwahrscheinlich; deßhalb war er geneigt zu glauben, White habe im letzten Augenblick noch die Waffe zur Hand genommen, um die gefährliche Kugel zu entfernen.

An die Möglichkeit, daß ein Selbstmord vorliegen könne, würde Hollister von selbst niemals gedacht haben. Nur das dem Freunde gegebene Versprechen bewog ihn, noch weiter nach dem Zusammenhang der Dinge zu forschen. So suchte er denn Felix auf, ließ sich von ihm noch einmal alle Einzelheiten berichten und fragte im Verlauf des Gesprächs ganz gelegentlich, was wohl aus den Briefen geworden sei, welche Herr White noch kurz vor der Trauung geschrieben haben solle.

»Die sind längst auf der Post. Ich sah den Hausknecht damit zur Hinterthür hinausgehen, noch ehe die Herren in die Kirche fuhren.«

Jack hoffte im Stillen, der Bote werde die Briefe nicht in den Kasten geworfen haben, ohne zuvor die Adressen zu lesen. Ihm lag jedoch noch etwas anderes auf dem Herzen, das zu berühren ihm große Ueberwindung kostete.

»Die arme, junge Frau«, rief er seufzend, »wie traurig hat ihr Glück geendet!«

»Freilich, Herr«, pflichtete ihm Felix bei, »ich habe noch nie jemand so vom Schmerz überwältigt gesehen. Als sie ins Zimmer trat und sah, was geschehen war, stieß sie einen Schrei aus und sank dann wie zerschmettert in die Kniee. Aber es fehlt ihr nicht an Kraft und Mut – sobald sie wußte, daß ihr Gatte wirklich tot war, nahm sie sich zusammen und wurde ruhiger. Dadurch erleichterte sie es uns sehr, alles Nötige ungesäumt zu thun. Sie ist eine so schöne und vornehme Dame; Herr White wäre gewiß stolz auf sie gewesen, hoffentlich bleibt sie hier im Hause als unsere Gebieterin.«

Als Jack den Hausmeister verließ, beschäftigten ihn mancherlei Gedanken. Es war ja unmöglich, mit Sicherheit zu beweisen, daß White freiwillig in den Tod gegangen war; aber wußte nicht vielleicht die junge Frau mehr als sie sagen wollte? Hatte das Trauerspiel für sie nicht eine tiefere Bedeutung als die Welt ahnte? Freilich, am Traualtar war nichts davon zu bemerken gewesen. Nur kühle Ruhe und Selbstbewußtsein hatte Jack in ihren Mienen gelesen. Er dachte daran, wie stolz sie ausgesehen mit all den Kostbarkeiten, die sie schmückten – ein ganzes Vermögen in Diamanten und Spitzen trug sie ja an sich. Erst nachher bei dem Gratulationsempfang, als sich die Freunde um sie drängten, hatte sie einige Gemütsbewegung gezeigt. Es war Jack, als sähe er die beiden noch am Ende des Saales stehen. Ein süßer Liebreiz schien über das ganze Wesen der jungen Frau ausgegossen und von Zeit zu Zeit warf sie verstohlene Blicke nach ihrem Gatten, deren Bedeutung Jack nicht verstand. Herr White hatte in seinem Benehmen keinerlei Aufregung verraten; wenn sein Wesen wirklich verändert war, wie Stanhope behauptete, so hatte vielleicht irgend ein Verdruß über geschäftliche oder politische Angelegenheiten seinem Vater die Stimmung verdorben. Daß er sich in diesem Augenblick mit Selbstmordgedanken getragen haben sollte, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Hätte er wohl mit dem Tod im Herzen so ruhig und scheinbar unbekümmert an der Seite der jungen, lieblichen Gattin stehen können?

Und doch – gibt es nicht eine Ruhe der Verzweiflung, die bei einem furchtbaren Schicksalsschlag, der unser ganzes Glück plötzlich zertrümmert, den Menschen äußerlich gefaßt erscheinen läßt, wie sehr auch der Schmerz in seinem Innern wühlt? –

Jack fand keine Antwort auf die Zweifel, welche ihn bestürmten. Im Begriff zu Stanhope zurückzukehren, traf er im Vorsaal den Hausknecht, der jene Briefe am Morgen auf die Post getragen hatte. Durch wenige geschickte Fragen erfuhr er, was er wissen wollte. Peter hatte die Adressen nicht gelesen, aus dem einfachen Grunde, weil er überhaupt Geschriebenes nicht lesen konnte. – Sollte vielleicht Herr White hieran gedacht haben, als er ihm und nicht Felix den Auftrag gab, die Briefe zu besorgen? –

*


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