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Fünfzehntes Kapitel.
Männerart

Mit dem festen Entschluß, seinen Koffer zu packen, um sofort nach Washington abzureisen, hatte sich Stanhope auf sein Zimmer begeben. Als er dort jedoch die inzwischen eingelaufenen Briefe durchzusehen begann, erkannte er bald, daß er sein Vorhaben fürs erste aufgeben müsse. Er bedurfte noch geraume Zeit, um die Geschäfte seines verstorbenen Vaters zu ordnen, und dieser Pflicht konnte er sich nicht entziehen.

Im Laufe des Tages erfuhr er, ohne besonders danach zu fragen, noch manche Einzelheit über Marys Ankunft im Hause. Ein Wagen hatte sie gebracht und zwar nur wenige Minuten vor seiner eigenen Rückkehr. Sie mußte also unverzüglich vom Markham-Platz dorthin gefahren sein. Ihren Koffer hatte sie nicht bei sich; derselbe kam bald nach dem Frühstück mit dem Paketwagen, er war ganz neu und gar nicht schwer; davon konnte sich Stanhope selbst überzeugen. Von ihrem Vater traf keinerlei Botschaft ein.

Gegen Mittag ging Stanhope in Geschäften aus und als um sechs Uhr die Essensstunde herannahte, begab er sich in das Klubhaus, wo er den Abend schreibend und lesend verbrachte. Es kostete ihm keine geringe Ueberwindung, der Stätte fern zu bleiben, nach der ihn seines Herzens Verlangen zog, aber das kurze Zusammensein mit Mary am Morgen hatte ihn darüber belehrt, daß er nur hoffen durfte, in dem Kampf Sieger zu bleiben, wenn er ihre früheren Beziehungen möglichst zu vergessen trachtete und die Gegenwart des geliebten Mädchens mied, soviel dies unter den schwierigen Verhältnissen thunlich war.

Dieser erste Abend war nur der Anfang einer langen und mühseligen Selbstüberwindung. Gern wäre er der Versuchung entflohen und hätte das Haus verlassen, in dem er sich gezwungen sah, den beiden Damen täglich mindestens einmal zu begegnen, aber die Pflicht bannte ihn unerbittlich an des Vaters Schreibpult. Mit Mary allein zu sein vermied er aufs Aeußerste, und Flora, welche wußte, in wie seltsamer Lage er sich der ganzen Frauenwelt gegenüber befand, mußte es ja begreiflich finden, wenn er ihre Gesellschaft nicht vorzugsweise aufsuchte.

Trotzdem er sich aber so geflissentlich zurückzog, war es ihm nicht entgangen, wie schnell Mary heimisch geworden war in dem Reichtum und Luxus ihrer neuen Umgebung, ohne doch dabei etwas von ihrer Einfachheit und Natürlichkeit zu verlieren. In Floras Nähe erschien ihr Wesen noch anziehender als sonst. Die beiden waren fast unzertrennlich, man sah sie stets beisammen und die junge Witwe fand in der frischen, noch unberührten Seele und dem feingebildeten Geist ihrer liebenswürdigen Gefährtin einen Reiz und Genuß, wie ihn kein früherer Umgang je für sie gehabt hatte.

Daß Flora und Mary die Zurückhaltung Stanhopes schmerzlich empfanden, konnte dem jungen Mann nicht verborgen bleiben. In Floras Augen war er entschuldigt, aber wie sollte sich Mary sein seltsames Benehmen erklären? Die Wochen vergingen und mit Besorgnis nahm Stanhope in Marys Wesen eine steigende Unruhe wahr, ihr Frohsinn schwand und ihr Blick ward trübe. Der Gedanke, daß er, ohne es zu wollen, dem armen Kinde vielleicht Kummer bereite, schmerzte ihn tief und er sann auf Mittel und Wege, sie, ohne ihr Zartgefühl zu verletzen, wissen zu lassen, weshalb es nicht mehr in seiner Macht stehe, über seine eigene Zukunft zu bestimmen.

Im Begriff auszugehen traf er eines Tages mit Flora, die aus der Stadt zurückkehrte, in der Vorhalle zusammen.

»Wie freue ich mich, Stanhope,« rief die junge Witwe lebhaft, »Sie einen Augenblick allein zu sehen. Sie vertiefen sich doch allzusehr in die Arbeit und entziehen uns Ihre Gesellschaft ganz und gar. Fräulein Dalton muß sich wirklich darüber wundern, daß Sie auch nicht einen Abend daheim zubringen. Wenn Sie jeden freundschaftlichen Verkehr mit uns Frauen meiden, müssen wir ja glauben, Sie seien ein Weiberfeind geworden.«

Flora war, während sie dies sprach, in das Wohnzimmer getreten, wohin ihr Stanhope mechanisch folgte. »Meine Zeit ist jetzt so sehr von anderen Dingen in Anspruch genommen, daß ich einstweilen auf die Freuden der Geselligkeit verzichten muß,« sagte er. »Sie dürfen mir das nicht als Unhöflichkeit auslegen. Fräulein Dalton wird es gewiß nicht thun; denn in ihrer Stellung kann sie wohl keine besonderen Ansprüche erheben.«

»In ihrer Stellung? Glauben Sie etwa, ich betrachte dies liebreizende junge Mädchen wie eine bezahlte Gesellschafterin? Sie ist mir eine liebe Freundin und der Umgang mit ihr mein größtes Vergnügen. Wundert Sie das etwa?«

»O nein,« entgegnete Stanhope, – »ich finde das sehr natürlich. Fräulein Dalton ist eine höchst anziehende Erscheinung.« Er sprach in einem Ton, der seine niedergeschlagene Stimmung deutlicher verriet, als er selber wußte.

Die junge Witwe sah ihn betroffen an. Eine Weile schwieg sie und fuhr dann mit völlig verändertem Wesen fort:

»Ich habe immer gehofft, Sie würden mir eine Mitteilung machen,« – sie stockte – »haben Sie noch keine Spur des jungen Mädchens gefunden, welches Sie –« der Satz blieb unvollendet, die Worte wollten ihr nicht über die Lippen.

»Fragen Sie mich nicht,« rief er heftig bewegt. »Ich bin gezwungen, das Gefühl aus meiner Seele zu reißen, und jede Hindeutung auf das, was ich für immer vergessen muß, macht mir den Kampf noch schwerer.«

Flora schrak unwillkürlich zurück: auf einen solchen Ausbruch war sie nicht vorbereitet. Sie warf einen trostlosen Blick um sich her; wie öde und wertlos erschien ihr in diesem Moment das Leben, die Welt, die Pracht und der Luxus, der sie umgab und um dessen Besitz sie noch vor wenigen Monaten ihr eigenes Selbst verhandelt hatte.

»Verzeihen Sie,« stammelte sie endlich, »daß ich Ihnen wehe gethan habe. Es soll nie mehr geschehen. Ich sprach nur aus Freundschaft.«

»Und ich sprach aus der Tiefe meiner bekümmerten Seele. Vergeben Sie mir meine Ungeduld. Viel lieber will ich selber leiden, als jemand kränken, der so gütig und edel ist wie Sie.«

»Dies Lob verdiene ich nicht,« rief sie beschämt und dennoch beglückt, »aber ich will versuchen –«

Hier wurden sie von Felix unterbrochen, der eine Botschaft auszurichten hatte. Flora benutzte gern die Gelegenheit, um der Unterredung ein Ende zu machen, welche in ihrem Herzen wieder Gefühle wach gerufen hatte, die sie für immer erstickt zu haben glaubte. Sie folgte dem Diener ins Vorzimmer und bald hörte Stanhope sie die Treppe hinaufsteigen. Er seufzte tief auf und wollte sich eben entfernen; da sah er in der dunkelsten Ecke des Gemachs eine schlanke Gestalt sich von dem halb verborgenen Divan erheben und vor ihm stand mit bleichem Gesicht das geliebte Mädchen, welches fort und fort alle seine Gedanken beherrschte.

Der Anblick überwältigte ihn. »Mary!« rief er in namenloser Ueberraschung.

»Ich hatte Ihre Worte gehört,« sagte sie leise. »Es war nicht meine Schuld; dann aber schämte ich mich aufzustehen und das Zimmer zu verlassen.«

Er fühlte, daß der entscheidende Augenblick seines Lebens gekommen war. »Wenn Sie alles gehört haben,« entgegnete er, »so wissen Sie auch, daß ich einen tiefen, unheilbaren Gram im Herzen trage. Das Gefühl, von dem ich sagte, ich müsse es aus meiner Seele reißen, ist nichts anderes als meine Liebe zu Ihnen, Mary.«

Ein Ausruf der Verwunderung entrang sich ihren bebenden Lippen.

»Diese Liebe ist mein Verhängnis und meine Seligkeit, sie stürzt mich in Verzweiflung und bringt mir unsagbaren Schmerz,« fuhr er fort, ohne seine Leidenschaft, die er bisher mit starkem Willen gezügelt hatte, noch länger zurückzuhalten. »Von dem ersten Augenblick an, da ich Sie sah, liebte ich Sie mit aller Glut meines Herzens. Aber ein grausames Schicksal versagt mir die Freuden des Ehestandes. Sie mein zu nennen, wäre mein höchstes Glück, dennoch –«

»Ich bin nicht wert, Ihre Gattin zu sein,« flüsterte sie in schmerzlicher Bewegung.

Sie so gedemütigt zu sehen, vermochte er nicht zu ertragen. Er ergriff ihre Hand und beteuerte, daß sie für ihn stets die herrlichste Blume ihres Geschlechts sein würde.

»Aber weshalb –« begann sie, und fügte dann wie erschreckt über ihre eigene Kühnheit leise hinzu: »ich weiß – mein Vater, nicht wahr?«

Er schwieg einen Augenblick. Ja, Ihr Vater hätte vielleicht im Wege gestanden, wenn sonst kein Hindernis vorhanden gewesen wäre. Aber jetzt war er nicht der Stein des Anstoßes.

»Nicht Ihr Vater – sondern der meinige,« sagte er endlich seufzend.

Sie blickte mit trüben Augen verwundert zu ihm empor.

»Er ist ja tot.«

Wie konnte er es ihr erklären? Welche Worte sollte er wählen? – Sie kam ihm jedoch zuvor.

»Ich verstehe,« sagte sie mit edlem Stolz: »Samuel Whites Sohn darf keine Tochter von dunkler Herkunft zum Weibe nehmen. – Leben Sie wohl, Herr White!«

Er hielt ihre Hand fest. »Nein,« sagte er flehend, »verlassen Sie mich nicht, bis ich Ihnen erklärt habe, warum ich meinem Herzen nicht folgen darf. Mein Vater hat, ehe er starb, für mich die Wahl getroffen. Er that es ohne mein Wissen, aber ich kann in einer so wichtigen Angelegenheit nicht seinen Wünschen zuwider handeln. Wenn ich je in die Ehe trete, so müßte ich ein Mädchen heiraten, das ich bis heute nie gesehen habe. Ich werde unvermählt bleiben. – Nicht wahr, Sie begreifen jetzt mein Verhalten Ihnen gegenüber, liebe Mary?«

Statt der Antwort schüttelte sie nur das Haupt, starr und unnahbar stand sie vor ihm, höchstens konnte er in dem weichen Glanz ihrer Augen eine Spur der Teilnahme an seinem Kummer lesen. Ein bitterer Seufzer entrang sich seiner Brust; er beugte sich tief über ihre kalte Hand. »Sie wissen nicht, was mein Vater mir gewesen ist,« sagte er, »sonst würden Sie verstehen, daß ich seinem Wunsche gehorchen muß.«

»Ich darf hier nicht länger bleiben,« war ihre einzige Erwiderung.

Seine Erklärung war ihr unverständlich, das erkannte er wohl. »Nicht meines Vaters Reichtum bindet mich,« stammelte er verwirrt. »Wäre er arm gewesen, ich würde ihm ebenso unbedingten Gehorsam geleistet haben. Es lagen Gründe vor –« Aber von diesen konnte er nicht zu ihr reden. Sie hatte seinen abgerissenen Worten mit gesenktem Haupte zugehört; jetzt entzog sie ihm leise ihre Hand.

»Es ist sehr gütig von Ihnen, mir noch weiteren Aufschluß geben zu wollen,« murmelte sie, »aber mir genügt die eine Thatsache, welche Sie zuerst erwähnten. Sie gehören einer Anderen an. O, warum muß ich das erst jetzt erfahren!«

Länger vermochte sie ihr Gefühl nicht zu beherrschen. Sie preßte beide Hände auf ihre wogende Brust, große Thränen standen ihr in den Augen und flossen langsam über ihre Wangen. Von Leidenschaft übermannt schloß Stanhope sie in die Arme.

»Du liebst mich,« rief er, »du leidest Schmerzen gleich mir. O Mary, Mary!«

»Ja, ich liebe dich und leide wie du. Dies eine Mal sei es gestanden. Jetzt aber gehe ich fort – fort von hier –«

Er sah sie fragend an. »Wohin?«

»Ich weiß es nicht; ich glaubte hier eine Heimat gefunden zu haben – eine andere besitze ich nicht.«

Es klang so hülflos, so verlassen. Was hatte er gethan! Wie durfte er diesem armen Kinde den einzigen Schutz und Zufluchtsort rauben!

»Ihr Vater,« murmelte er.

»Ich kenne seinen Aufenthaltsort nicht. In dem Hause, wo Sie mich trafen, wohnt er nicht mehr. Ich stehe ganz allein. Aber das schadet nichts,« fügte sie schnell hinzu. »Ich werde mir andere Freunde erwerben, werde eine neue Heimstätte finden. Frau White –«

»Nein,« unterbrach er sie heftig, »wenn eines von uns dies Haus verläßt, so will ich es sein. Sie dürfen nicht freundlos und heimatlos bleiben. Schlagen Sie sich das Fortgehen ganz aus dem Sinn. Versprechen Sie mir, nie wieder daran zu denken.« –

»Aber, Sie sind ja der Herr des Hauses. Sie müssen bleiben.«

»Nicht doch. Das Haus gehört Frau White.«

»Wirklich? Und weiß sie –«

»Daß ich Sie liebe? Nein, ich habe ihr nie gesagt, daß Sie Mary Evans sind.«

»Nicht? – Das ist gut!« murmelte sie. »Aber ich höre Schritte. Sie ist es selbst. Lassen Sie mich fort.«

»Zuerst versprechen Sie mir, dies Haus nicht zu verlassen.«

»Versprechen kann ich nichts, doch will ich Sie in diesem Fall zuvor davon benachrichtigen.«

Als sie sich umwandte war schon an kein Entrinnen mehr zu denken. Die Thür hatte sich geöffnet und Flora stand im Zimmer, vor Ueberraschung keines Wortes mächtig.

Mit rascher Geistesgegenwart trat Stanhope auf sie zu. »Ich habe mich bei Fräulein Dalton entschuldigen müssen,« sagte er in ruhigem Tone. »Leider hatte das Fräulein mit angehört, was wir soeben hier gesprochen haben, doch hat sie mir die scheinbar unehrerbietige Rede verziehen, wie Sie sehen.«

Die junge Witwe war viel zu weltgewandt, um auch nur durch das leiseste Zeichen ihr Mißfallen zu verraten. Lächelnd hörte sie die ihr gebotene Erklärung an und als Stanhope sich bald darauf empfahl, verabschiedete sie sich so freundlich von ihm, als sei nichts vorgefallen.

Mary hatte Mühe gehabt, die verlorene Fassung wiederzugewinnen und ihre Gemütsbewegung war Flora natürlich nicht entgangen. Sich über die Ursache derselben Gewißheit zu verschaffen, lag ihr zunächst am Herzen.

»Einen jungen Mann, wie Stanhope White, findet man unter Tausenden nicht wieder,« warf sie scheinbar absichtslos hin. Die arme Mary drückte ihre Zustimmung aus und bemühte sich, das Gespräch fortzusetzen so gut sie konnte. Wie sehr erschrak sie jedoch, als Flora ohne jede Vorbereitung plötzlich die Frage an sie stellte, ob sie wohl schon einmal geliebt habe.

Sie errötete tief vor Verwirrung und Bestürzung und vermochte keine Antwort zu geben. Bei dem Anblick der tief schmerzlichen Erregung des jungen Mädchens bereute Flora ihr übereiltes Verfahren; rasch schlang sie die Arme um den Hals ihrer Gefährtin und drückte ihr einen herzlichen Kuß auf die Stirn.

»Habe ich Ihnen wehe gethan, Mary?« rief sie, »o, verzeihen Sie mir; ich hätte nicht so leichtsinnig reden sollen, aber wie konnte ich ahnen, daß ich eine Wunde berührte. Armes Kind! ich weiß nur zu gut, welches Leid die Liebe bringen kann, und jede Frau, welche liebt, flößt mir Mitleid ein.«

»O, dann bemitleiden Sie auch mich,« murmelte Mary unwillkürlich.

Flora ward bleich. »Wer – wer ist es?« rief sie, die Hand des jungen Mädchens ergreifend.

»Fragen Sie nicht,« flehte dieses in sichtlicher Qual.

»Gewiß nicht, wenn es Ihnen Kummer bereitet,« entgegnete Flora. »Ich möchte Sie vor allem behüten, was den Frieden Ihrer Seele stören kann. Damit Sie sehen, wie groß meine Liebe und mein Vertrauen zu Ihnen ist, will ich Ihnen eine Geschichte erzählen von jemand, den Sie kennen, eine Geschichte, die noch nie über meine Lippen gekommen ist. Doch nicht jetzt und nicht hier – heute Abend, wenn wir zusammen in meinem Boudoir am Kamin sitzen, sollen Sie sie hören.«

*


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