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Nach einer schlaflos verbrachten Nacht hatte sich Flora gerade in ihr Wohnzimmer begeben, als sie zu ihrer Ueberraschung Mary in Hut und Mantel bei sich eintreten sah; Stanhope folgte ihr auf dem Fuß.
»Fräulein Dalton will das Haus verlassen,« begann letzterer nach flüchtigem Gruß. »Als ich zum Frühstück hinuntergehen wollte, traf ich sie auf der Treppe. Sie sagte, ein Mißverständnis, das zwischen ihr und Ihnen entstanden sei, nötige sie, sich ohne Aufschub von hier zu entfernen. Verhält sich das wirklich so?«
»Wenn Fräulein Dalton der Aufenthalt in diesem Hause nicht länger zusagt,« entgegnete die junge Witwe mit Würde, »so darf ich mir nicht anmaßen sie zurückzuhalten. Da sie in völlig unabhängiger Lage ist, hat sie allein darüber zu bestimmen. Ich muß jedoch sagen, daß ich es ziemlich gefährlich für ein junges Mädchen finde, mit einer so großen Summe Geldes durch die Stadt zu gehen.«
Sie deutete auf den kleinen Sack, den Mary am Arme trug.
Stanhope warf einen Blick darauf, schien jedoch nicht verwundert, sondern nur um ihre Sicherheit besorgt. »Wäre es nicht besser, das Geld in eine Bank zu bringen?« fragte er.
»Das war auch meines Vaters Wille, aber ich habe es bisher unterlassen,« entgegnete Mary.
»Herr Dalton gehört zu den Leuten, die ihr Geld am liebsten in ihrer eigenen Behausung verwahren,« fügte Stanhope erklärend hinzu. »Ich selbst habe dort weit größere Summen gesehen, als seine Tochter jetzt bei sich haben kann.«
Flora traute ihren Ohren kaum.
»Sie kannten also Fräulein Dalton,« rief sie »und wußten, daß sie nicht war, wofür ich sie hielt, als ich sie zu mir nahm?« –
»Ich wußte, daß Sie in ihr eine Gefährtin, eine Freundin finden würden – denn, Flora, sie ist Mary Evans.«
Einen Augenblick stand die junge Witwe wie vom Donner gerührt, doch schnell faßte sie sich wieder. »Ist es möglich – sie – Mary Evans – und ich habe sie gekränkt, an ihr gezweifelt! – O, verzeihen Sie mir,« bat sie, zu Mary gewendet und ihre Hand ergreifend.« Er hatte mir gestanden, er liebe ein Mädchen dieses Namens und ich vermochte es nicht zu ertragen, daß er sich für eine andere erwärmte. Alles wäre anders gekommen, hätte ich ahnen können, wie die Sachen standen. – Ich habe ja versprochen, für Mary Evans zu sorgen – nicht wahr, Stanhope? – und das werde ich auch thun, selbst gegen Ihren Willen.«
Sie nahm ihr geschäftig Hut und Mantel ab und schloß sie liebreich in die Arme. Mary widerstand nicht länger: »Aber ich kann nicht bleiben,« flüsterte sie, »es wäre zu schwer und schmerzlich für mich, Sie müssen das ja einsehen. Lassen Sie mich fort von hier, damit erweisen Sie mir den besten Freundschaftsdienst.«
Stanhope war unruhig auf und ab gegangen. »Wenn meine Gegenwart der Grund Ihres Fortgehens ist, Mary,« sagte er endlich, vor ihr stehen bleibend, »so kann ich Ihnen mitteilen, daß ich bereits die nötigen Schritte gethan habe, um alle Geschäftspapiere meines Vaters von hier fortzuschaffen. Ich verlasse dies Haus noch heute. Wollte Gott, es läge in meiner Macht, die Sache auf eine andere – eine ganz andere Weise zu lösen.«
Flora hatte in tiefem Sinnen dagestanden.
»Und warum sollten Sie nicht Ihrem Herzen folgen, Stanhope?« sagte sie jetzt im Ton innigster Ueberzeugung. »Ueber der Treue gegen die Toten dürfen wir die Pflichten gegen die Lebenden nicht vergessen. Hat Ihr Vater Ihnen auch geboten, keine andere zur Frau zu nehmen als Nathalie Yelverton, so wissen Sie doch nicht einmal, ob es in der ganzen Welt überhaupt ein Mädchen dieses Namens giebt. Wollen Sie nun in blindem Gehorsam gegen einen Befehl, den Ihr Vater vielleicht selbst aufs Bitterste beklagen würde, nicht nur Ihr eigenes Lebensglück, sondern auch den Frieden dieses jungen unschuldigen Geschöpfes auf immer zu Grunde richten? Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum – glauben Sie das mir, der Witwe Ihres Vaters.«
»Könnte ich es doch,« seufzte Stanhope aus tiefster Seele.
»Sie können und werden es,« fuhr die Witwe fort. »Mary, die Sie lieben, die Ihnen vertraut, sie nicht ohne Schutz und Heimat zu lassen ist Ihre heiligste Pflicht. In den höchsten Fragen darf der Mann nur dem Rat seines Gewissens folgen, kein Mensch hat ihm Vorschriften zu machen, selbst der eigene Vater nicht. Der Ihrige ahnte gar nicht einmal, daß Sie schon andere Verpflichtungen hatten.«
»Das ist wahr, o Gott, es ist wahr!«
»Wenn Sie dies einsehen, so widerstreben Sie dem Zuge Ihres Herzens nicht länger, er wird Sie sicher an das ersehnte Ziel bringen.«
Flora sah, daß ihre Worte Eindruck gemacht hatten und verließ rasch das Zimmer, überzeugt, daß sie es getrost Mary überlassen dürfe, ihre Sache weiter zu führen.
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