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Neuntes Kapitel.
Das braune Paket

Nicht lange blieb Stanhope allein und seinen Gedanken überlassen.

»Herr Hollister wünscht Sie zu sprechen,« meldete der eintretende Diener.

Jack war in fieberhafter Erregung, doch fiel ihm sofort die günstige Veränderung im Wesen seines Freundes auf. »Du siehst aus, als hättest du entdeckt, daß deine Befürchtungen unbegründet sind,« rief er erfreut.

»Mein Schmerz ist ruhiger geworden, ich kann jetzt den Verlust meines Vaters betrauern, ohne zu denken, daß er in Verzweiflung von uns geschieden ist,« gab Stanhope zur Antwort.

»Das erleichtert mir die Pflicht, dir dies Schreiben zu übergeben,« versetzte Jack, indem er ein Papier aus der Tasche zog. »Der Adressat des einen der Briefe, die dein Vater gestern zur Post gab, ist gefunden. – Dieser eine war an mich gerichtet und enthielt diese Einlage für dich. – Aber um des Himmels willen, Stanhope, was hast du, was fehlt dir?« fuhr er erschreckt fort, als er sah, daß sein Freund, der inzwischen den Brief geöffnet hatte, mit bleichem Gesicht und wie geistesabwesend die Schriftzüge anstarrte.

»Ich begreife nicht – wie soll ich das verstehen –« stammelte Stanhope verwirrt. Jack fürchtete ein neues Unglück; er nahm ihm das Billet aus der Hand und las:

»Es ist mein bestimmtes Verlangen, mein größter und dringendster Wunsch, daß Du – wenn Du überhaupt heiratest – ein Mädchen Namens Nathalie Yelverton zur Frau nimmst. Sie ist die Tochter des Stefan Yelverton, von dem Du wahrscheinlich bald nach meinem Tode hören wirst. Suche nicht zu erforschen, warum ich dies von Dir begehre. Daß ich es wünsche und Dir jede andere Heirat untersage, sei Dir ein Beweis, daß Du nur durch diese Verbindung Dein Glück finden und die Ehre unseres Namens aufrecht erhalten kannst.

Dein Dich liebender Vater
Samuel White.«

»Nathalie Yelverton? – wer in aller Welt ist denn das?« war Jacks überraschter Ausruf.

»Ich weiß nicht; der Name ist mir ganz unbekannt,« murmelte Stanhope wie betäubt. »Wollte Gott, ich hätte diese Zeilen nie zu Gesicht bekommen. – Warum soll ich dies fremde Mädchen heiraten? Wonach soll ich nicht forschen? – Was hat das alles zu bedeuten? Wahrhaftig, mein Unglück war vorher schon groß genug!« –

Jack schien ein so willkürlicher Eingriff in das Recht des Mannes, seine eigene Gattin selbst zu wählen, völlig unerhört. Er sprach seine Meinung darüber ziemlich unumwunden aus und endete mit der Behauptung:

»Kein Gesetz kann dich zwingen, diese Ehe einzugehen. Ich meinesteils würde wenigstens erst genau prüfen, ob diese Nathalie Yelverton auch alle Ansprüche befriedigt, welche ich an meine künftige Gattin stelle.«

»Mit einem Mädchen, das Nathalie heißt, werde ich mich niemals vermählen,« versicherte Stanhope mit Festigkeit.

Jack sah ihn betroffen an: »Das klingt ja fast, als ob – ist etwa dein Herz nicht mehr frei?«

Der andere lächelte bitter: »Und wenn dem so wäre?«

Jack besaß Zartgefühl genug um zu begreifen, daß dies nicht der Augenblick war, sich in des Freundes Vertrauen zu drängen; so bezwang er denn sein Verlangen mehr zu wissen und schwieg.

»Noch eins,« rief Stanhope nach einer Weile, aus dumpfem Sinnen erwachend, »was stand in den Zeilen, die an dich gerichtet waren, Jack?«

»Nur, daß er sich zu einer Reise anschicke, bei der ein Unfall nicht ausgeschlossen sei. Er bat mich, im Fall seines Todes, dir die Einlage zu übergeben. Was damit geschehen solle, falls ihm nichts zustieße, erwähnt er nicht, und das ist doch seltsam, wenn man es recht bedenkt.«

»Schlage es dir aus dem Sinn,« versetzte Stanhope mit bleicher Miene. »Ich muß versuchen, das Kreuz zu tragen, das mir auferlegt worden ist; aber kein Wort mehr darüber, Jack, wenn du mich liebst.«

Mancherlei Fragen und Zweifel stürmten auf Stanhope ein, als er allein blieb. Sein Vater hatte vorausgesehen er werde nicht mehr am Leben sein, wenn Jack den Brief erhielt. War dies keine bloße Ahnung, sondern eine furchtbare Absicht, so konnte dieselbe nur aus der plötzlichen Erkenntnis des Herzenszustandes seiner jungen Frau entsprungen sein. Was anders als Eifersucht – eine grundlose Eifersucht auf seinen eigenen Sohn – konnte der Beweggrund für den seltsamen Befehl sein, der ihm jetzt noch nach dem Tode des Vaters zukam?

War die rätselhafte Heirat, die er ihm vorschrieb, nicht vielleicht nur ein Vorwand, um ihn überhaupt von der Ehe zurückzuhalten?

Daß die Trauung stattgefunden und Herr White noch zum Abschied Worte voll Vertrauen und liebevoller Zärtlichkeit an seine junge Frau gerichtet hatte, diente nur dazu, Stanhope in seiner Vermutung zu bestärken. Er kannte die ritterliche Natur seines Vaters, der es nicht über sich vermocht hätte, den leisesten Schatten auf die Ehre und den guten Ruf einer Frau zu werfen. Auch wenn er wirklich Grund zur Eifersucht zu haben meinte, würde er sich nicht an der Ungetreuen gerächt haben. Die einzige Genugthuung, die er suchte, bestand darin, daß er den Sohn in seinen Handlungen beschränkte.

Entsetzliche Vermutungen! Eine grauenvolle Möglichkeit! Stanhope schauderte vor Scham und Schmerz bei dem bloßen Gedanken an den Abgrund von Verzweiflung und beleidigtem Gefühl, welchem der Entschluß, jene Zeilen niederzuschreiben, entsprungen sein mußte. Denn sein Vater hatte ihn stets geliebt und würde das Glück seines Sohnes, auf den er so große Hoffnungen setzte, nicht willkürlich zerstört haben, wenn nicht Groll und Bitterkeit ihm den Sinn verwirrten. Die Wunde, die er dem Sohne geschlagen, war weit tiefer und schmerzlicher, als er hätte ahnen können. Nicht einmal der Neugier gab Stanhope Raum, wer jene Nathalie Yelverton wohl sein möchte. Er glaubte nicht, daß eine solche Persönlichkeit überhaupt vorhanden sei; für ihn war sie ein bloßer Name. Seiner Ansicht nach verschloß ihm also des Vaters Verbot überhaupt jede Aussicht auf das Glück der Ehe, für das er doch nicht nur durch seine Liebe zur Häuslichkeit, sondern auch durch alle Eigenschaften des Herzens und Geistes vorzugsweise geschaffen schien.

Um nicht länger diesen quälenden Gedanken nachhängen zu müssen, begann er jetzt seine früheren Forschungen von neuem.

Er war überzeugt, das Paket, auf welchem die Worte ›eigenhändig zu öffnen‹ gestanden hatten, müsse die Pistole, die tödliche Waffe enthalten haben. Es war offenbar des Vaters Wunsch gewesen, seinen Tod in ein Geheimnis zu hüllen und den Verdacht eines Selbstmords zu vermeiden. Aber Stanhope wollte Gewißheit haben; er suchte nach dem Pistolenkasten in allen Schiebladen und Fächern und fand ihn endlich auf dem obersten Bücherbrett. Was er vermutet hatte bestätigte sich; der Kasten paßte genau in die Falten des braunen Umschlags, den er nebst der grünen Schnur im Papierkorb gefunden hatte. Der Kasten war neu und trug auf seinem Boden die Adresse der Firma, bei welcher er gekauft worden war.

So bestand denn jetzt kein Geheimnis mehr darüber, was der Inhalt des braunen Pakets gewesen; unbegreiflich blieb immer noch, wie und durch wen es in Whites Hände hatte gelangen können.

*


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