Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Zur späten Abendstunde sah man einen alten Mann in Handwerkerkleidung sich durch die Menge drängen, welche den Eingang zu dem White'schen Hause in der Fünften Avenue umlagerte. Ein dort aufgestellter Polizeidiener wollte ihn zwar zurückhalten, doch wenige erklärende Worte genügten zur Verständigung und der Mann stieg ungehindert die Treppenstufen hinauf. Als Felix auf sein Klingeln öffnete, beeilte er sich ihm mitzuteilen, daß er nicht Herrn White zu sprechen wünsche, sondern Fräulein Dalton, die junge Dame, die jetzt hier im Hause wohne. Zugleich übergab er ihm seine Geschäftskarte, auf der in der Ecke einige seltsam verschlungene Buchstaben geschrieben standen.
Mary war gerade im Bibliothekzimmer als Felix ihr die Botschaft brachte; sie erschrak heftig, sobald sie das verabredete Zeichen auf der Karte erblickt hatte. Ihr Vater hier! Das kam ihr völlig unerwartet, obgleich sie eben noch daran gedacht hatte, welche Erleichterung es für ihn sein müsse, daß sein Feind gefangen genommen sei und fürs erste seinen Weg nicht mehr kreuzen könne. Aber was ihren Vater auch herführen mochte, sie war froh, daß er gekommen war, denn sie trug den Verlobungsring am Finger und sehnte sich danach, ihn teilnehmen zu lassen an ihrem beseligenden Glück.
Als sie das kleine Empfangszimmer betrat, in welchem ihr Vater auf sie wartete, strahlte sie in Anmut und jugendlichem Liebreiz wie noch nie zuvor. Aber rasch verschwand das beglückte Lächeln aus ihren Zügen bei seinem düstern, hoffnungslosen Anblick.
»Was ist denn geschehen?« fragte sie, dicht zu ihm hintretend, in vorsichtigem Flüsterton. »Ich glaubte doch, die Verhaftung jenes Bösewichts würde dich von aller Furcht befreien.« –
»Mary,« rief er in flehendem Ton, als erwarte er von ihr Rettung aus drohender Gefahr, »soll ich mein Leben aufs Spiel setzen um eines Mannes willen, der kein Erbarmen kennt? Ich weiß, daß Oberst Deering Samuel White nicht mit eigener Hand erschossen hat. Soll ich es bekannt machen, obgleich seine Befreiung meinen Tod bedeutet?«
Mary zuckte schmerzlich zusammen. Ein kalter Reif legte sich auf die Blüten ihres jungen Glücks.
»O, warum stellst du die Frage an mich?« rief sie. »Ich bin deine Tochter, wie kann ich dich zum Tode verdammen? Und doch, wenn er unschuldig ist –«
»Würdest du mich noch lieben, wenn ich schwiege?«
»Die Wahrheit gilt mehr als das Leben,« versetzte sie tief erschüttert. »Du könntest nie mehr glücklich sein, ließest du deinen Feind unter einer falschen Anklage sterben.«
»Glaubst du das wirklich? Traust du mir zu, daß ich Reue empfinden würde, daß der Trieb zum Guten noch in mir wohnt?«
»O, sprich nicht so! Hast du mich doch von Kindheit auf zu Wahrheit und Tugend angehalten, wie solltest du selbst deine Lehren Lügen strafen? Würde ich dich denn so innig lieben, wärest du nicht die Güte selber?«
»Du weißt nicht, wie böse Gedanken die Furcht vor jenem Manne in meiner Seele geweckt hat. Noch jetzt, nachdem ich dir gestanden habe, daß er unschuldig an dem Verbrechen ist, dessen man ihn zeiht, schaudere ich davor zurück, die Thatsache der Welt zu offenbaren.«
»Und du weißt es ganz gewiß, daß er Herrn Whites Tod nicht verursacht hat?«
»Er ist nicht durch seine Hand gefallen.«
»Doch hat er ihn nicht erschossen.«
»Das weißt du, Vater, und kannst auch andere davon überzeugen?«
»Ja, das kann ich.«
»Dann bleibt dir keine Wahl.«
»Sagt das mein guter Engel?«
»Vater, könnte dir nicht Stanhope die schwere Pflicht erleichtern? Soll ich ihn rufen, damit er dir beisteht?«
»Er darf nicht wissen, daß ich dein Vater bin, hörst du? Ich bin Stefan Huse, der Techniker. Sobald auch nur eine Menschenseele erfährt, daß ich Thomas Dalton war, giebt es keine Rettung mehr für mich.«
»Ich werde mir nichts merken lassen und vielleicht entgehst du der Gefahr. Unmöglich kann doch aber jener Deering so rachsüchtig sein, daß er seinen Lebensretter noch mit tödlichem Haß verfolgt.«
»Von ihm habe ich nichts zu hoffen. Er darf nicht ahnen, wem er seine Befreiung verdankt.«
»Vielleicht vermag Stanhope dies ins Werk zu setzen. Er ist so gut; wenn er wüßte –«
»Wohlan, ich will mit Herrn White sprechen, aber nicht in deinem Beisein. Sage ihm, daß ich das Zimmer bewohne, in dem er dich damals wiederfand. Er hat mich zwar als Thomas Dalton gesehen, aber erkennen wird er mich schwerlich.«
O nein, sogar mir erscheinst du ja völlig fremd.«
»So rufe ihn denn herbei und Gottes Segen geleite dich, mein teures Kind!«
Sie wollte noch zärtlich von ihm Abschied nehmen, aber er trieb sie zur Eile.
»Geh,« drängte er, »damit mein Entschluß nicht wieder wankend wird.«
Als Stanhope in das Zimmer trat, erhob sich eine greise Gestalt und kam ihm würdevoll entgegen.
»Entschuldigen Sie, Herr White,« sagte der Alte mit Festigkeit, »ich ließ Sie um eine Unterredung bitten, weil ich Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen habe. Die heutige Zeitung berichtet, daß ein Mann als Mörder Ihres Vaters verhaftet worden ist.«
»Ganz recht. Wissen Sie etwas Näheres darüber? Kommen Sie wegen einer Zeugenaussage? Sie wohnen auf dem Markham-Platz – hat der Oberst Deering Sie dort etwa ausgesucht?«
»Ja, vor kurzem. Aber darum handelt es sich nicht.« Er hielt inne, dann raffte er sich zusammen. »Oberst Deering hat Ihren Vater nicht erschossen!« rief er mit raschem Entschluß.
»Wie? was sagen Sie? Können Sie das mit Gewißheit behaupten?«
»Ich sah ihn an jenem Unglückstage aus dem Hause kommen und gerade als er um die Ecke bog, tönte der Schuß aus Ihres Vaters Zimmer.«
Stanhope bebte vor heftiger Erregung. »Ist es möglich – Sie sahen den Mann – hörten den Schuß? Und wo waren Sie selbst?«
»Im Erdgeschoß des Eckhauses gegenüber. Die hohe Gestalt des Mannes erregte meine Aufmerksamkeit. Als der Schuß fiel, stand er einen Augenblick still und sah empor, und da erkannte ich, daß es derselbe Herr war, der vor einigen Tagen in meine Werkstatt kam, um nach Thomas Dalton zu fragen.«
»Dann kann über seine Identität kein Zweifel bestehen. Ihre Aussage, Herr Huse, ist für mich von höchster Wichtigkeit; sie verschafft mir eine wahre Herzenserleichterung. Gewiß werden Sie dieselbe bereitwillig auf der Polizei wiederholen!«
»Wenn es sein muß, ja. Halten Sie es für notwendig?« Die Stimme des Alten zitterte merklich, seine Füße wankten. Stanhope betrachtete ihn mit teilnehmendem Blick.
»Sie fühlen sich angegriffen. Ich werde Ihnen ein Glas Wein bringen lassen.«
»Nein, nein, es ist nichts. Sagen Sie nur, wann ich mit Ihnen auf die Polizei gehen soll. Ich wünsche nur meine Pflicht zu thun. Für jenen Mann habe ich kein besonderes Interesse.«
»Heute scheinen Sie mir nicht kräftig genug; ich werde eine vorläufige Anzeige bei der Polizei machen und Sie morgen in Ihrer Wohnung abholen und mit Ihnen zu dem Inspektor gehen. Oberst Deering soll nicht unschuldig leiden.«
»Ich stehe Ihnen ganz zu Diensten; also morgen erwarte ich Sie, Herr White!«
Stefan Huse schritt langsam der Thüre zu. Auf der Schwelle sah er sich noch einmal mit forschenden Blicken um, als wolle er seinem Gedächtnis die ganze Einrichtung des Raumes bis aufs kleinste einprägen Wenn Stanhope dies seltsam erschien, so konnte er ja nicht ahnen, welche schmerzliche Freude es für den Vater war, der sich für immer von der geliebten Tochter trennen sollte, wenigstens einmal die Umgebung zu sehen, in der sie leben und glücklich sein würde.
*