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Was soll denn das bedeuten?« rief Jack, der ohne weiteres bei Stanhope eintrat und ihn über einen offenen Koffer gebückt sah.
»Ich muß fort. Schon morgen früh gedenke ich abzureisen; die Luft hier bedrückt mich, ich bin unfähig zu allem. – Was bringst du mir?«
»Ich war in dem bewußten Laden; der Gehilfe erinnerte sich noch genau, daß er diese Pistole verkauft hat und zwar letzten Dienstag Nachmittag.« – Jack legte ein Päckchen auf den Tisch.
»Am Tage vor meines Vaters Tode? Hat er sie denn selbst gekauft?«
»Nein. Man beschrieb mir den Käufer als einen großen Mann von stattlichem Wuchs mit pockennarbigem Gesicht.«
Josephine wurde gerufen. Sie mußte wissen, ob das Aeußere jenes fremden Mannes zu der Beschreibung paßte.
Ihre Aussagen ließen keinen Zweifel mehr über diese Thatsache aufkommen.
So hatte denn Herr White die Pistole schon tags zuvor durch einen besonderen Boten kaufen lassen. – Aus diesem Umstand konnte man die verschiedensten Schlüsse ziehen, er brachte kein Licht, sondern nur noch mehr Dunkel in das ohnehin schon undurchdringliche Geheimnis.
Wie gering auch Stanhopes Hoffnung war, die Wahrheit je zu ergründen, so beschwor er doch Jack, nichts unversucht zu lassen, um die Spur des pockennarbigen Mannes aufzufinden.
Er geleitete seinen Freund die Treppe hinunter und teilte ihm mit, wohin er zu reisen gedenke. Vor der Thür der jungen Witwe blieb er unwillkürlich stehen.
»Jack,« sagte er mit tiefem Ernst, »sollte es dir in späteren Jahren noch gelingen, jenes stolze Herz zu erobern, so würdest du einen Schatz besitzen, dessen eigentlichen Wert du bis jetzt kaum ahnst.«
Der Freund maß ihn mit ungläubigem Blick.
»Denkst du so über Flora Hastings?« fragte er verwundert.
Ein schwaches Lächeln flog durch Stanhopes Züge. »Nein, über Flora White,« erwiderte er, »der Schmerz hat ihr eine Seele gegeben; möchte es dir beschieden sein, sie einst dein eigen zu nennen.«
Am nächsten Morgen fuhr Stanhope auf dem kürzesten Wege nach Bay Ridge hinüber. Bei Fort Hamilton verließ er die kleine Fähre und ging an dem schönen Herbsttag zu Fuß weiter auf dem schmalen Heckenweg zwischen den grasbedeckten Abhängen, das Herz voll köstlicher Erinnerungen. Bald stand er wieder in dem geräumigen, altmodischen Wohnzimmer, wo er vor einem kurzen Jahre das liebe Gesichtchen seiner Mary so oft gesehen hatte, und ein bitteres Weh preßte ihm die Brust zusammen. Während er noch die Blicke in dem ihm so bekannten, trauten Raume umherschweifen ließ, ging hinter ihm die Thür auf und Fräulein Grazia, die Lehrerin, trat ein. Ihr gutes, freundliches Gesicht mit den vielen Fältchen zeigte bei seinem Anblick einen bekümmerten Ausdruck und nur zögernd erwiderte sie seinen Gruß.
»Sie kommen wohl,« stammelte sie, »mich nach der Adresse zu fragen, welche ich Ihnen vor einem Jahr versprach?«
Er verbeugte sich stumm und war keines Wortes mächtig. »Ich kann sie Ihnen nicht geben,« fuhr sie mit ängstlicher Miene fort, »wir haben Mary ganz aus dem Gesicht verloren; seit drei Monaten sind unsere Briefe unbeantwortet geblieben.«
»O, warum haben Sie mich nicht früher davon unterrichtet,« rief er jetzt ungestüm, »ich hätte sie gefunden und vielleicht gerettet. Wer weiß, ob sie nicht krank ist oder tot.«
»Es war unrecht von mir,« gestand sie, »aber ich hoffte von Tag zu Tag, Nachricht zu erhalten. Sie wollte mir jede Woche schreiben und zuerst kamen die Briefe auch ganz regelmäßig. Allmählich aber blieben sie aus und unsere Briefe erhielten wir meist zurückgeschickt.«
»Von wo aus hat sie zuletzt geschrieben?«
»Aus Philadelphia; hier ist die Adresse, aber in jener Wohnung ist sie nicht mehr aufzufinden. Ich habe mich durch dortige Freunde nach ihr erkundigt und den Bescheid erhalten, daß eine junge Dame des Namens nie in jenem Hause gewohnt hat.«
Er steckte die Karte, auf welcher Straße und Nummer verzeichnet waren, mit zitternder Hand in seine Brusttasche.
»Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank,« sagte er, »für alle Güte und Freundlichkeit, welche Sie dem jungen Mädchen erwiesen haben, auch für Ihren Anteil an meinem Kummer. Mary ist mir das Teuerste auf Erden. Zwar hat sich meine Lage, seit wir uns zuletzt sahen, gänzlich geändert und ich muß die Möglichkeit, daß sie meine Gattin wird, als völlig ausgeschlossen betrachten, aber ihr Wohlergehen liegt mir doch vor allem am Herzen.«
»Der Tod Ihres Vaters –« begann Fräulein Grazia.
»Hat meine Verhältnisse plötzlich umgestaltet,« fiel ihr Stanhope ins Wort. »Ich teile Ihnen dies mit, weil ich früher gegen Sie andere Absichten geäußert habe. Mary ist für uns verloren, wir sehen sie vielleicht niemals wieder, doch möchte ich von Ihnen nicht mißverstanden werden. Ich liebe und ehre sie wie nur je ein Mann die Gattin seiner Wahl geliebt und geehrt hat; aber heiraten darf ich sie nicht. Gewichtige Gründe verbieten es mir.«
Er sah ihr die Enttäuschung am Gesicht an und seufzte. Wie sehr sie sich auch mühte, freundlich und teilnehmend zu erscheinen, innerlich war sie gewiß entrüstet. Der Gedanke lag nur zu nahe, daß, nun er das väterliche Vermögen geerbt hatte, das junge Mädchen von dunkler Herkunft seinen Ansprüchen nicht mehr genügte.
Alles was er hätte sagen können, um seinen veränderten Entschluß zu erklären, würde sie nicht überzeugt haben, wie sehr sie ihm unrecht that. So stellte er denn nur noch die Frage, ob sie auch, ihrem Versprechen gemäß, gegen Fräulein Evans geschwiegen und ihr nichts von seinen Gefühlen für sie mitgetheilt habe.
Ihre Versicherung, daß das junge Mädchen durch sie kein Wort davon wisse, beruhigte ihn sichtlich. Im Begriff, von der gutherzigen Lehrerin Abschied zu nehmen, fragte er, schon auf der Thürschwelle stehend, wo Sofie jetzt sei und ob sie nicht Auskunft über ihre Freundin geben könne.
»Sie ist noch bei mir, Herr White, aber viel kränker, als da Sie sie zuletzt sahen. Es hat ihr fast das Herz gebrochen, als Marys Briefe ausblieben. Soll ich Sie vielleicht zu ihr führen?«
Stanhope zögerte einen Augenblick, aber das Wiedersehen wäre zu schmerzlich gewesen.
»Ich werde ihr einen Korb mit schönen Blumen schicken. Sagen Sie, daß sie von einem Freunde kommen, der um Marys Verlust ebenso tief trauert, wie sie selbst.«
Auf dem Heimweg überlegte Stanhope, was er nun thun solle. Er hatte beschlossen, seine Wohnung im Klub zu nehmen, vorher aber noch eine kleine Erholungsreise ins Gebirge zu machen. Jetzt fühlte er aber ein unwiderstehliches Verlangen, sich nach Philadelphia zu begeben, und beschloß, schon in den nächsten Tagen die Reise anzutreten. Während der Ueberfahrt auf der Fähre dachte er darüber nach und überflog dabei mechanisch die Abendzeitung, die er sich unterwegs gekauft hatte. Der Name seines Vaters ward häufig darin erwähnt; man gedachte rühmend seiner Verdienste und beklagte sein jähes Ende. Die Zeitungen brachten damals viele solche Artikel, aber Stanhope war außer stande, sie zu lesen. Die Zweifel an der Gesinnung seines Vaters gegen ihn in der Todesstunde verdüsterten sein Gemüt und machten ihm jede Erwähnung seines Namens zur Qual. Er wandte das Zeitungsblatt um und stutzte betroffen, als sein Auge auf die folgenden Zeilen fiel:
Geheimnisvolles Verschwinden des Mannes mit der Narbe.
»Thomas Dalton ist seit dem 20. des Monats nicht in seine Wohnung auf dem Markham-Platz Nr. 6 zurückgekehrt. Er ist ein Mann von zweiundfünfzig Jahren und hat ein seltsames Erkennungszeichen auf der linken Handfläche, nämlich zwei Narben, die sich in schräger Linie kreuzen. Es wird dringend gebeten, Nachricht über den Aufenthaltsort dieses Mannes unter obiger Adresse an seine Tochter gelangen zu lassen.«
Eine solche Narbe, wie die hier beschriebene, hatte Stanhopes Vater auf der linken Handfläche getragen. Ein merkwürdiges Zusammentreffen! Und jener Dalton war obendrein an Herrn Whites Todestag verschwunden. Wenn es auch Thorheit war zu glauben, daß dies nicht auf bloßem Zufall beruhe, so vermochte Stanhope doch den Gedanken nicht los zu werden, daß zwischen den beiden so seltsam gezeichneten Männern irgend eine Verbindung bestehen müsse. Wie sein Vater zu der Narbe gekommen war, hatte er nie erfahren. Er erinnerte sich, daß er als kleiner Knabe einmal danach gefragt hatte, und dachte noch mit Schrecken daran, wie düster sich des Vaters sonst so heitere Stirn umwölkte. Auch die Mutter wußte es nicht, bei welcher Gelegenheit der Vater seine Hand so schrecklich verletzt hatte. Sie bedeutete ihm nur, daß er nie wieder davon sprechen sollte, weder mit ihr, noch sonst jemand auf der Welt.
Stanhope erwähnte denn auch die Narbe nie wieder, aber in Gedanken beschäftigte er sich oft damit und jetzt, da seine Neugier auf so seltsame Weise erregt worden war, ließ sie sich nicht wieder beschwichtigen.
Als er aus der Fähre ans Ufer stieg, stand sein Entschluß fest. Er wollte sich unverzüglich nach dem Markham-Platz begeben und Näheres über den Mann zu erfahren suchen, der an der linken Hand genau dieselbe Narbe trug wie sein Vater.
*