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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Ein mitternächtliches Gespräch und dessen Folgen

Nicht ohne Zittern und Zagen hatte Mary die Rückfahrt nach dem Hause angetreten, aus dem sie erst wenige Stunden zuvor, wie sie glaubte, für immer entflohen war. Ihr guter Stern wollte jedoch, daß Flora und Stanhope noch nicht zurückgekehrt waren, als sie daheim anlangte. Nachdem sie rasch die beiden Abschiedsbriefe wieder an sich genommen, welche sie auf Frau Whites Schreibtisch zurückgelassen hatte, zog sie sich in ihr eigenes Zimmer zurück. Der trauliche, stille Raum erschien ihr wie ein ersehnter Hafen der Ruhe und von mannigfaltigen Gefühlen überwältigt, brach sie in einen Strom von Thränen aus, die ihrem stürmisch bewegten Herzen Erleichterung verschafften. War denn wirklich der schwere Kampf vorüber – sollte sie hier eine Heimat finden – durfte sie ihrer Sehnsucht folgen und den Ring des Geliebten tragen?

Aber wo war Stanhope jetzt und was hatte er mit dem unbekannten Verfolger ihres Vaters zu schaffen, in dessen Begleitung sie ihn zuletzt gesehen?

Von einer unbestimmten Angst erfüllt saß sie da und lauschte auf jedes Geräusch, das seine Heimkehr verkünden konnte. Gegen elf Uhr hörte sie Floras Wagen vorfahren, aber Mitternacht war schon vorüber, als sie Stanhopes Schritt auf der Treppe vernahm. Und er kam nicht allein – wer war denn bei ihm? – sollte der Mann mit den Blatternarben es wagen, das Haus zu betreten?

Bei dem Gedanken sprang sie entsetzt auf und eilte nach der Thür; doch mußte sie über ihre eigene Thorheit lächeln, denn der Name ›Jack‹ klang an ihr Ohr. Was auch Herrn Hollister zu so später Stunde noch herführen mochte, jedenfalls wußte sie den Geliebten in Sicherheit. Mit dankerfülltem Herzen suchte sie nun endlich ihr Lager auf. Während Träume von einer glücklichen Zukunft sie umgaukelten, saßen die beiden Freunde oben in Stanhopes Wohnzimmer in ernstem Gespräch beisammen.

Von der ersten Bestürzung über Jacks furchtbare Anklage hatte sich Stanhope erholt, er war nun bereit, die Gründe zu vernehmen und sorgfältig zu prüfen, welche Jack zum Beweis für Deerings Schuld anzuführen hatte. Gleich durch des Freundes erste Mitteilung ward er aufs höchste überrascht. Jack behauptete nämlich, Herr White sei zur Zeit seines Todes nicht allein gewesen, wie man bisher geglaubt, das furchtbare Ereignis habe einen Zeugen gehabt. Der junge Rechtsanwalt hatte dies auf folgende Weise erfahren: Eine ihm befreundete Dame, welche dem White'schen Hause gegenüber wohnte, fragte ihn bei seinem letzten Besuch ganz zufällig, wer wohl der große stattliche Herr gewesen sei, den sie an Samuel Whites Todestage, unmittelbar bevor das Unglück bekannt wurde, die Stufen vor der vordern Hausthür habe herabkommen sehen. Als Jack erwiderte, soviel er wisse, habe die Familie um diese Zeit keinen Besuch empfangen, erzählte sie ausführlich, sie habe an einem Fenster des oberen Stockes gewartet, um die Neuvermählten abfahren zu sehen, da sei ihr jener fremde Herr durch seine ungewöhnliche Größe aufgefallen und wenige Minuten später habe sich die Trauernachricht verbreitet. »Fräulein Morton beschrieb mir den Fremden genau,« fuhr Jack fort, »und als ich Oberst Deering im Klubhaus sah, zweifelte ich keinen Augenblick, daß ich jenen Mann vor mir hatte und zugleich denselben, der die Pistole in das Haus gebracht.«

Stanhope sah den Freund mit ungläubigen Blicken an. »Verstehe ich dich recht?« fragte er verwundert. »Es war halb drei Uhr als wir den Schuß hörten, und Oberst Deering hatte die Waffe gegen Zehn Uhr gebracht. Willst du behaupten, daß er die ganze Reihe von Stunden im Hause war, ohne daß irgend jemand eine Ahnung davon hatte?«

»Unmöglich wäre es nicht; soviel ich weiß, hat ihn niemand das Haus verlassen sehen.«

»Aber wo sollte er sich verborgen haben? – die Studierstube stand wett offen und –«

»Vielleicht in deines Vaters Schlafzimmer. Wer Rache an einem Feinde nehmen will, wartet geduldig wohl länger als ein paar Stunden.«

»Hast du Beweise von seiner Anwesenheit dort? Auf bloße Vermutungen hin würdest du nicht zu solchen Schlüssen gelangen!«

»Du weißt, Stanhope, daß ich auf deine Veranlassung, sobald die Totenschau vorüber war, eine genaue Besichtigung der Zimmer deines Vaters vorgenommen habe. Zweierlei fiel mir damals auf. Ein Tabaksgeruch in dem Schlafzimmer und auf einem Fenstersimse daselbst eine Anzahl von Zigarrenstumpfen und verstreute Asche.«

»Sonderbar. Mein Vater rauchte nie mehr als eine Zigarre täglich, gewöhnlich des Morgens, während er die Zeitung las. Auch sind unsere Hausmädchen zu sehr an Ordnung gewöhnt, um dergleichen Abfall tagelang herumliegen zu lassen.«

»So höre weiter. Daß der Oberst deinen Vater haßte, steht für mich unerschütterlich fest. Er ist eine von jenen hartnäckigen Naturen, die den einmal gefaßten Vorsatz nun und nimmermehr aufgeben. Die Ursache seiner Feindschaft stammt wahrscheinlich aus jener längst vergangenen Zeit vor deiner Geburt her, als dein Vater im fernen Westen unter den Goldgräbern war. Langsam und sicher hat Deering sein Ziel verfolgt. Daß dein Vater gerade an seinem Hochzeitstag, auf dem Gipfel seines Glücks, das Opfer seiner Rachsucht werden sollte, lag vielleicht mit in seinem längst gehegten Plan. Durch ihn gelangte die Pistole am Morgen in deines Vaters Hände; warum der tödliche Schuß nicht damals schon abgefeuert ward, vermag ich nicht zu sagen. Nach der Begegnung mit seinem Feinde ist dein Vater wie umgewandelt; trotzdem wird die Trauung vollzogen. Dein Vater mag wohl gewußt haben, daß sein Leben bedroht war, doch glaubte er sicherlich nicht, daß er in so großer Gefahr schwebte, sonst hätte er wohl Maßregeln getroffen, sich vor den ferneren Nachstellungen seines Widersachers zu schützen.«

»Und dieser Widersacher, glaubst du, war die ganze Zeit über in meines Vaters Schlafzimmer verborgen?«

»Ja, doch ohne sein Wissen. Er muß beim Fortgehen die Schlafstubenthür, statt der Thür zum Vorsaal daneben, geöffnet haben. Dein Vater war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um dies zu bemerken. So fand er denn bei der Rückkehr von der Trauung den auf ihn lauernden Feind und ging in sein Verderben.«

»Wenn dies richtig ist, müßte mein Vater das Schlafzimmer in der ganzen Zwischenzeit nicht mehr betreten haben. Das ist nicht unmöglich; zur Trauung wollte er sich gleich nach dem Frühstück ankleiden – er verschob nie etwas auf den letzten Augenblick. Nach jener unheilvollen Unterredung hat er noch die bewußten Briefe geschrieben, und als ich kam, ihn zur Kirchenfahrt abzuholen, stand er von seinem Schreibtisch auf, griff nach Hut und Handschuhen, die bereit lagen, und folgte mir, ohne ein Wort zu sagen.«

»Er glaubte, sein Todfeind habe längst das Haus verlassen.«

»Aber wie konnte der Oberst die Pistole abfeuern, wenn er sie vier Stunden vorher meinem Vater übergeben hatte?«

»Vielleicht hat dein Vater die Gabe zurückgewiesen und der Oberst die Pistole nur aus dem Kasten genommen und sie dann in seine Tasche gleiten lassen; das scheint mir höchst wahrscheinlich.«

»Und während wir alle nach dem Studierzimmer stürzten, als der Schuß erdröhnte, hat er sich unbehelligt durch die hintere Halle entfernt und ist zur Vorderthür hinaus gegangen. Das war leicht zu bewerkstelligen.«

»O Jack, Jack, wenn es wahr ist – und Oberst Deerings ganzes Benehmen, seine offenbare Aufregung während meines Kreuzverhörs scheinen es zu bestätigen – warum hast du mich zurückgehalten – es wäre mir eine Genugthuung gewesen, ihm die Anklage ins Gesicht zu schleudern.«

»Es hätte dir nur Spott und Hohn eingetragen. Nein, Stanhope, wenn wir ihn eines Verbrechens beschuldigen, müssen wir uns auf die Hülfe des Gerichts verlassen können.«

»Aber werden wir ihn auch finden? Wird er nicht die Flucht ergreifen, nun er weiß, daß wir Verdacht gegen ihn hegen?«

»Ich glaube kaum. Sein Aeußeres ist zu auffallend, als daß er hoffen dürfte, der Polizei zu entgehen. Uebrigens habe ich bereits an den Inspektor telegraphiert und Deering unter polizeiliche Aufsicht stellen lassen. Heute Morgen wollen wir auf das Polizeiamt gehen und dem Inspektor die Sache vortragen. Stellt er uns dann einen Haftbefehl aus, so wird der gefährliche Mensch bald in Sicherheit sein.«

 

Als sich am Morgen nach dieser ereignisreichen Nacht die Hausgenossen beim Frühstück versammelten, war auch Jack Hollister zugegen. Noch ganz erfüllt von der wichtigen Angelegenheit, die der Entscheidung harrte, hatte er es über sich gewonnen, Flora zum erstenmal als Herrin des Hauses zu begrüßen und ihr Gast zu sein. Stanhope hatte Mary seit ihrer Krankheit noch nicht wiedergesehen, aber sein Fürchten und Bangen verwandelte sich bald in die seligste Hoffnung, als er sah, welche Liebe ihm aus ihren Augen entgegenstrahlte. Trug sie auch seinen Verlobungsring noch nicht am Finger, so wußte er doch, daß sein heißer Herzenswunsch von ihrer Seite nicht länger auf Widerstand stoßen werde. Allein dies frohe Beisammensein war nicht von langer Dauer. Mary mußte sich mit dem flüchtigen Wiedersehen begnügen, und auch Flora, die vor Begierde brannte, das Ergebnis von Stanhopes gestrigen Nachforschungen zu erfahren, sah sich genötigt, ihre Ungeduld zu zügeln. Die beiden Herren empfahlen sich sehr bald, um sich dem ernsten Geschäft zu widmen, das ihrer harrte.

 

Am nämlichen Tage um die Mittagsstunde trug der Diener im Brevoort-Haus Stanhope Whites Karte zu Oberst Deering hinauf. Als letzterer das Gastzimmer betrat, in welchem auf Stanhopes Wunsch die Begegnung stattfinden sollte, fand er außer den beiden Freunden noch einen dritten, ihm unbekannten Herrn vor, dessen Anwesenheit ihn überraschte.

»Darf ich fragen,« sagte Deering mit gerunzelter Stirn, »wen sie hier mitgebracht haben? Ich habe wohl versprochen, Herrn White zu empfangen, aber nicht seine sämtlichen Freunde.«

»Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle,« sagte der Fremde mit ruhiger Festigkeit: »Ich bin ein Polizeibeamter, Oberst Deering, und habe Ihnen diesen Haftbefehl vorzuzeigen, der auf Ihre Person lautet. Sie sind beschuldigt, Samuel White ermordet zu haben. Während man bisher allgemein glaubte, der große Staatsmann habe sich aus Zufall durch einen unglücklichen Pistolenschuß selbst entleibt, sind neuerdings Umstände ans Tageslicht gekommen, welche jene Annahme als irrtümlich erscheinen lassen. Ich muß Sie daher bitten, mir nach dem Polizeiamt zu folgen.«

Die Anklage traf Deering völlig unvorbereitet und er bedurfte seiner ganzen Willenskraft, um die notwendige Fassung zu bewahren. Einige Minuten stand er da, ohne den Blick vom Boden zu erheben, ohne eine Erwiderung zu finden. Als er endlich sprach, merkte man ihm jedoch keinerlei Erregung mehr an, seine Stimme hatte ihren gewöhnlichen Klang.

»Daß man mich eines Verbrechens beschuldigt,« sagte er, »ist mir so überraschend, daß ich erst einiger Zeit bedurfte, um mir den Gedanken klar zu machen. Es müssen wohl triftige Verdachtsgründe gegen mich vorliegen, sonst würde ein Mann, wie Stanhope White, sich nicht dazu hergeben, mir solchen Schimpf anzuthun. Ich will Ihnen daher auch keine weiteren Unbequemlichkeiten machen, sondern ohne Zögern und ohne Widerrede mitgehen. Schon beim ersten Verhör, das weiß ich, wird sich meine Unschuld sonnenklar herausstellen.«

»Es ist das Klügste, was Sie thun können,« versetzte der Beamte.

*


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