Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In seine Behausung zurückgekehrt fand Stefan Huse reichlich Zeit, die unglücklichen Folgen des Schrittes zu überdenken, den er gethan. Sobald die Polizei anfing, nach seiner Vergangenheit zu forschen, ließ sich seine Identität nicht länger verbergen, darüber gab er sich keiner Täuschung hin, doch wankte er nicht in dem einmal gefaßten Entschluß. Als Stanhope am andern Morgen zur verabredeten Zeit erschien, fand er den alten Mann bereit, mit ihm zu gehen. Daß er ihm unterwegs so bleich und hinfällig vorkam, schrieb er seinen hohen Jahren zu; denn daß sein Gefährte auf diesem Gange alle Qualen eines zum Tode Verurteilten litt, der das Schaffot besteigen soll, war ihm ja völlig verborgen.
Ehe sie das Haus verließen, hatte der Alte Stanhope noch seine Bitte vorgetragen, ihm womöglich eine Begegnung mit Oberst Deering zu ersparen. Dieser habe ihn, sagte er, damals in seiner Werkstatt mit großer Geringschätzung behandelt, und es sei zu einem Wortwechsel zwischen ihnen gekommen. Er hege nun eine große Abneigung gegen den Mann und begehre keinen Dank von ihm, ja es sei ihm am liebsten, wenn jener gar nicht erführe, wem er seine Befreiung zu verdanken habe.
Auf dem Zimmer des Polizeiamts, in das man sie führte, fanden sie nur einen Herrn mit freundlicher Miene und den schweigsamen Schreiber an seinem Pult. Erleichtert atmete Huse auf, der ängstliche Ausdruck schwand aus seinem Antlitz und er stand hoch aufgerichtet da, während er vor dem Polizeiinspektor Zeugnis ablegte. Er erzählte seine Geschichte genau wie tags zuvor und da sie sich wirklich so zugetragen hatte, konnte ihn auch kein Kreuzverhör darin irre machen. Des Obersten Unschuld wurde hierdurch klar erwiesen und der Inspektor gab sofort Befehl, den Gefangenen vorzuführen, um ihm die Freiheit zu verkünden.
Stanhope sah den alten Huse erschreckt zusammenfahren und beeilte sich, dem Inspektor mitzuteilen, daß jener nur um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen sein Zeugnis abgelegt habe, aber auf jeden Dank verzichte. Ja, er bäte ihn zu entlassen, ohne daß er genötigt sei, dem Obersten zu begegnen, der ihn neulich in seiner Werkstatt beleidigt habe. Seitdem verabscheue er den Menschen und wolle ihm nicht als Wohlthäter gegenüberstehen.
Nachdem Huse dies ungewöhnliche Verlangen auf des Inspektors Fragen bestätigt hatte, erklärte ihm dieser, es sei unmöglich zu verhindern, daß sein Name öffentlich bekannt werde, dagegen wolle er ihn nicht zwingen, mit dem Obersten zusammenzutreffen, wenn ihm dies zuwider wäre. Er möge sich inzwischen in dem kleinen Nebenzimmer ausruhen und warten, bis die bevorstehende Unterredung mit dem Obersten vorüber sei. Natürlich zögerte der Alte keinen Augenblick, den ihm gebotenen Zufluchtsort aufzusuchen. Stanhope geleitete den Schwankenden dahin, und ehe sich die Thür schloß, flüsterte er ihm freundlich zu: »Seien Sie ohne Furcht, sobald er fort ist, hole ich Sie. Bis dahin pflegen Sie der Ruhe, niemand wird Sie stören.«
Bei seinem Eintritt erkannte Oberst Deering leicht aus den Mienen der Anwesenden, daß seine Sache eine günstige Wendung genommen habe.
Auf die betreffende Frage des Inspektors erwiderte er, daß er zur Zeit als der Schuß abgefeuert wurde, gerade unten am Haus vorbeigegangen sei; er hätte diesen Umstand schon früher erwähnt, wenn nicht die Wahrscheinlichkeit, daß man seiner Versicherung Glauben beimessen würde, zu gering gewesen sei.
»Gestern war noch kein Zeuge für Ihre Aussage da,« lautete die Antwort; »heute hat sich einer gefunden.«
Ueberrascht sah sich der Oberst im Zimmer um; zuletzt blieb sein fragender Blick auf Stanhope haften.
»Nein, ich bin nur ein Abgesandter,« erklärte dieser, der Zeuge ist ein Mann, der Sie im entscheidenden Augenblick auf der Straße gesehen hat.«
»Ich wußte es doch, daß meine Unschuld an den Tag kommen würde,« rief der Oberst.
»Oberst Deering,« begann jetzt der Inspektor, »unter den obwaltenden Umständen werden Sie wohl keinen Grund mehr haben, uns zu verschweigen, wie es kam, daß Sie Herrn Whites Haus um 10 Uhr betraten und dasselbe erst um halb 3 Uhr verließen. Da Sie zugeben, daß ein alter Groll zwischen Ihnen und dem Verstorbenen bestand, muß es eines ziemlich starken Beweggrundes bedurft haben, daß Sie so lange unter einem Dache verweilen konnten, wo man Sie nicht willkommen hieß. Um Ihrer selbst willen und aus Rücksicht für Herrn White, für den die Sache natürlich von höchster Wichtigkeit ist, bitte ich Sie uns den Umstand zu erklären.«
Der Oberst hatte sein volles Selbstvertrauen wiedergewonnen, sobald die Hoffnung auf Freisprechung in ihm erwacht war. Er nahm seine alte Gönnermiene an und antwortete in herablassendem Ton:
»Gern gebe ich Ihnen die gewünschte Auskunft, nachdem die Verdachtsgründe, die gegen mich vorlagen, sich als nichtig erwiesen haben. Ich hielt es für das Beste, bis jetzt zu verschweigen, wie es zuging, daß ich vier Stunden lang in Herrn Whites Schlafzimmer eingeschlossen war, da meine Angaben Ihnen vielleicht unwahrscheinlich geklungen hätten. Jetzt kann ich aber frei herausreden:
»Das Geschenk, welches ich Ihrem berühmten Mitbürger zur Hochzeit brachte, war keine Liebesgabe, denn ich haßte und verabscheute ihn von Grund meines Herzens. Doch will ich nicht von meinen Gefühlen sprechen, sie sind jetzt mitsamt ihrer Ursache begraben und gegen seinen Sohn hege ich keinen Groll. – Ich war die Vordertreppe hinaufgegangen und sobald ich den Schritt der zurückkehrenden Dienerin auf der Hintertreppe hörte, unangemeldet und unerwartet bei ihm eingetreten. Die Ueberraschung, welche ich ihm bereiten wollte, gelang vollkommen und gewährte mir den größten Genuß. Als er sich umwandte und sein Blick mich traf, sah ich, daß er sich aller Umstände bei unserer letzten Zusammenkunft noch genau erinnerte und die Hochzeitsfreude war ihm gründlich verdorben. Meinen Zweck hatte ich erreicht; ich ließ die Pistole auf dem Tische liegen und zog mich zurück. White war aufgestanden, er sah mich zwar nicht an, doch befand er sich zwischen mir und der Thür, zu der ich eingetreten. Ich verwandte kein Auge von ihm und wollte mich durch die Hinterthür entfernen. Dabei beging ich den Mißgriff, statt in den Vorsaal hinaus in das Schlafzimmer zu treten. Beide Thüren sind, wie der junge Mann hier weiß, dicht neben einander. Sobald ich meinen Irrtum erkannt hatte, wollte ich ihn wieder gut machen, doch da ward der Schlüssel im Schloß hastig umgedreht. Der Ausweg war mir abgeschnitten und ich sah mich gefangen. Ob dies feindliche Absicht oder Zufall war, vermochte ich nicht festzustellen. Lärm zu machen schien mir in meiner Lage nicht geraten und so faßte ich mich denn in Geduld, bis mein Widersacher mich über kurz oder lang freilassen würde. Ich war reichlich mit Zigarren versehen, die ich eine nach der andern rauchte; wenn mir dazwischen die Zeit lang wurde, stand ich auf und schlenderte im Zimmer umher, die kostbare Einrichtung betrachtend. Ich sah den Koffer und die offene Reisetasche – Herr White mußte also noch einmal den Raum betreten, ehe er auf die Hochzeitsreise ging; diesen Augenblick wollte ich ruhig abwarten.
»Endlich, um halb drei Uhr, näherte sich ein rascher Schritt der Thür, eine Hand drückte auf die Klinke und schloß dann auf. Der überraschte Ausdruck in der Miene des Eintretenden bewies mir zur Genüge, daß meine Einsperrung nur ein Versehen gewesen war. So verlor ich denn auch weiter kein Wort, sondern entfernte mich durch das Studierzimmer. Als ich die Thür nach dem Vorsaal öffnete, fiel mein letzter Blick auf ihn. Er stand noch an derselben Stelle, in der Hand die Pistole, welche ich ihm am Morgen gebracht hatte. Ich kam unbemerkt die Treppe hinunter und aus dem Hause. Gerade als ich unter den Fenstern vorbeiging, hörte ich den Schuß, aber ich kehrte nicht noch einmal um – Sie werden mir das kaum verdenken.«
Stanhope war abseits getreten. Er glaubte, daß Deering die Wahrheit sprach und mußte an sich halten, um nur dem Abscheu, den er vor dem Mann empfand, nicht Ausdruck zu geben.
Der Inspektor hatte den langen Bericht mit Interesse angehört.
»Die Verwechslung der Thüren kommt mir doch sehr seltsam vor,« sagte er, »Sie mußten ja im ersten Augenblick bemerken, daß Sie nicht auf dem Vorsaal waren.«
»Vergessen Sie nicht, daß ich rückwärts hinausging,« erwiderte der Oberst mit ruhiger Ueberlegenheit. »Hier sehe ich zwei Thüren, die ganz ähnlich zu einander gelegen sind, wie die dortigen. Wenn ich nun, die Augen auf Sie gerichtet, dies Zimmer verlassen wollte, so könnte es leicht geschehen, daß ich die falsche Thüre wähle.«
Um seine Behauptung anschaulich zu machen, hatte Deering, während er sprach, wirklich die Thür geöffnet, und ehe der Inspektor es hindern konnte, war er rückwärts in das kleine Zimmer getreten, welches Stefan Huse zur Zuflucht diente.
Ein unwillkürlicher Aufschrei ertönte hinter dem Obersten, der sich voll Ueberraschung umwandte.
»Ah,« rief er, »wen finde ich denn hier?« Er trat dicht an den alten Mann heran, der vor Angst zu vergehen schien, und blickte ihm forschend ins Gesicht. »Die Züge sind mir bekannt,« fuhr er fort, »halt, jetzt weiß ich, wo ich Ihnen begegnet bin – in Thomas Daltons früherer Wohnung, dort haben Sie Ihre Werkstatt.«
Stanhope war besorgt herzugetreten und mit ihm der Inspektor.
»Dies ist der Zeuge,« sagte letzterer, »der Sie auf der Straße gesehen hat, als der Schuß fiel.«
»Wirklich?« versetzte der Oberst und faßte den Alten näher und näher ins Auge, bis ihm zuletzt ein leiser Ausruf der Befriedigung entschlüpfte und er mit spöttischen! Ton bemerkte: »Ja freilich kenne ich den Mann.«
Als sie bald darauf das Polizeigebäude verließen, beugte sich Oberst Deering mit ruhiger Gelassenheit zu dem alten Galvanoplastiker nieder. Die wenigen Worte, die er ihm zuflüsterte und deren Bedeutung Huse vollkommen verstand, lauteten:
»Bestimmen Sie, wann und wo unsere Unterredung stattfinden soll!«
Die Antwort auf diese Frage war ebenso kurz und bündig:
»Heute Nachmittag um drei Uhr, in meiner Werkstatt.«
*