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Albert Bitzius, der sich als Dichter Jeremias Gotthelf nannte, entstammt einer alten eingesessenen Berner Familie. Großvater und Vater des Dichters waren Pastoren; aus des letzteren dritter Ehe mit Elisabeth geb. Kohler gingen zwei Söhne hervor. Albert als der ältere wurde am 4. Oktober 1797 in Murten geboren. Es war damals auch für die Schweiz eine unruhige Zeit: die Wellen der Französischen Revolution schlugen bis in das Nachbarland hinüber, und neben dem »Bauernspiegel« zeugt noch manche der Erzählungen Gotthelfs davon, daß die Erinnerung an die Soldaten der Revolutions- und der napoleonischen Armeen sich seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatte. Aus jener Zeit hat sich die Anekdote erhalten, daß plündernde Soldaten in das Pfarrhaus eingedrungen seien; da habe sich der kleine Albert, statt mit den Geschwistern zu schreien, in seinem Bettchen aufgerichtet und unter Drohungen die Fäuste gegen die hohnlachenden Plünderer geschüttelt.
1805 wurde der Vater nach Utzenstorf versetzt, einer Siedlung von 1700 Einwohnern, unweit der Emme in fruchtbarster Landwirtschaftsgegend gelegen. Hier eignete sich der Knabe gründliche Kenntnisse in allen bäuerlichen Verrichtungen an, zumal zum Pfarrhofe eine eigene Landwirtschaft gehörte. Daneben durchstreifte er mit gleichaltrigen Kameraden die ganze Gegend.
1812 bezog Albert die sogenannte »grüne« Literarschule zu Bern, um sich auf das Theologie-Studium vorzubereiten; 1814 ging er auf die »Akademie« über, deren Lehrplan etwa dem unserer letzten Gymnasialklassen entsprach, die aber ihren Zöglingen bereits studentische Freiheiten ließ. Wir wissen, daß sich der junge Mensch zu den alten Sprachen weniger als zu den naturwissenschaftlichen Fächern hingezogen fühlte, ein Kennzeichen der überwiegend praktischen Sinnesrichtung, die das ganze Leben Gotthelfs durchzieht. Hier las er auch Schleiermacher und vor allem Herder. 1817 legte er sich nach Abschluß des philosophischen Vorkurses ganz auf die Theologie. Als Student durfte er bereits an seiner eigenen ehemaligen »grünen« Schule Unterricht erteilen, wie ja der Hang zum Schulmeisterberuf ihm schicksalmäßig im Blute zu liegen scheint.
Im Juni 1820 bestand Albert Bitzius sein theologisches Examen und wurde Vikar bei seinem Vater in Utzenstorf. Auch hier widmete er sich mit besonderem Eifer den Schulangelegenheiten und sammelte die Erfahrungen, die ihm später bei der Abfassung der »Leiden und Freuden eines Schulmeisters« zustatten gekommen sind.
Von Utzenstorf aus ging er im Sommersemester 1821 nach Göttingen, einer Universität, die sich damals bei den Schweizern besonderer Beliebtheit erfreute. Hier vertiefte sich der junge Student in die Romane Walter Scotts. Zum Abschluß des Sommersemesters unternahm er eine fünfwöchige Ferienfahrt über Hannover und durch die Lüneburger Heide nach Hamburg und von hier über Lübeck und Rostock auf die Insel Rügen. Über Berlin kehrte er nach Göttingen zurück. Von dieser Reise ist ein Tagebuch erhalten, das durch die Schärfe der Beobachtung und die Reife des Urteils bereits den kommenden großen Schriftsteller ankündigt. Sehr aufschlußreich für die praktisch-nüchterne Denkweise des jungen Menschen sind seine Ausführungen über die deutschen Studenten, die sich am griechischen Freiheitskampfe beteiligten: »Was wollen diese Menschen in Griechenland? Zum Helfen sind sie zu schwach, und nur mit den Griechen im Freiheitskampf unterzugehen, ist doch ein wenig zu heroisch. Das Vaterland hat die näheren Ansprüche an sie.« Auch am Ende des Wintersemesters 1821/22 unternahm Albert Bitzius eine Reise, die ihn über Weimar, Leipzig, Dresden und München an den Bodensee und in die Heimat zurückführte. Es sind dies die beiden einzigen größeren Reisen, die der Dichter je gemacht hat; die engere Heimat bot ihm so viel Stoff für seine Werke, daß er der Anregungen von außen her nicht bedurfte.
Nach des Vaters Tode im Februar 1824 mußte Albert Bitzius Utzenstorf verlassen, da er zu dessen Nachfolge, das heißt zur Übernahme einer Pfarre, erst nach fünfjähriger Vikariatszeit berechtigt gewesen wäre. Herzogenbuchsee hieß die neue Stätte seines Wirkens. Da der alte Pfarrer Hemmann sich fast völlig von seinen Amtsgeschäften zurückgezogen hatte, lagen die seelsorgerischen Pflichten, insbesondere die sonntäglichen Predigten, fast allein auf dem jungen Vikar. Den wesentlichsten Teil seiner Tätigkeit erblickte dieser aber schon damals in den Hausbesuchen, die er zu Hunderten ausführte und die ihm einen tiefen Einblick in die persönlichsten Verhältnisse seiner Gemeindeangehörigen gewährten, zumal er es meisterhaft verstand, sich deren Vertrauen zu erwerben, indem er mit jedem über das sprach, was diesem besonders am Herzen lag. Hier befreundete er sich auch mit Joseph Burkhalter, einem einfachen Bauern, aber selbständigem, klugem Kopf, mit dem er auch nach dem Weggang von Herzogenbuchsee noch jahrelang in Briefwechsel gestanden hat. Der Erholung dienten Ritte in die Umgebung und Jagdgänge, die die Kenntnis der Natur und die Beobachtung der Landschaft in dem jungen Dichter stark gefördert haben.
Durch allzu warmes Eintreten für eine Schulangelegenheit seiner Gemeinde geriet Albert Bitzius 1829 in Streit mit dem Oberamtmann in Wangen, einen Streit, der mit der Abberufung des Vikars aus Herzogenbuchsee und seiner Versetzung an die Heiliggeistkirche in Bern endete. So vorteilhaft dieser Tausch für einen jungen Geistlichen auch schien. Albert Bitzius war alles andere als erfreut darüber. Einmal lag für einen Stadtpfarrer das Schwergewicht der Berufsarbeit in der Predigt, und dies war immer seine schwache Seite gewesen; außerdem aber fühlte er sich in der Stadt überhaupt nicht so wohl wie auf dem Lande.
So ging er nicht ungern, als ihm eine neue Aufgabe winkte: 1831 wurde er Vikar in Lützelflüh im Emmental, dem Orte, dem er bis an sein Lebensende treu bleiben sollte. Die Pfarrei war räumlich ausgedehnt und dicht bevölkert; die Arbeitslast war nicht gering. Trotzdem gewöhnte sich Albert Bitzius rasch ein und wurde, als Pfarrer Fasnacht bereits im nächsten Jahre starb, zu dessen Nachfolger gewählt. Im Januar 1833 vermählte er sich mit der Enkelin seines Vorgängers, Henriette Elisabeth Zeender. Dieser Ehe, die sehr glücklich war, entsprossen zwei Töchter und ein Sohn. Nun begann ein Leben zielbewußter, vorwiegend praktischer Arbeit, wozu bald auch die literarische Tätigkeit zu rechnen ist. Zunächst stand auch hier wieder die Schule im Vordergrund: Bitzius wurde Mitglied der großen Landschulkommission, dann Schulkommissär (Schulinspektor) für den Schulkreis Lützelflüh. Politische Gegensätze zu dem radikalen Chef des Erziehungsdepartements in Bern führten freilich 1845 zur Amtsenthebung des konservativen Schulkommissärs, aber voll Stolz blickte dieser auf das in zehn Jahren Geschaffene zurück, insbesondere auf zehn neuerrichtete Schulhäuser. Entscheidenden Anteil hatte Bitzius auch an der Gründung der Armenerziehungsanstalt Trachselwald, die für ihn ein zweites Familienleben bedeutete und die er oft mehrmals in einer Woche besuchte. Neben das Schulwesen trat damit als zweite praktische Tätigkeit die Armenpflege.
Erst sehr spät, fast vierzigjährig, wird Bitzius Schriftsteller: 1836 erscheint der »Bauernspiegel« als erstes Werk des »Jeremias Gotthelf« und macht seinen Verfasser mit einem Schlage berühmt. Es ist erstaunlich, in wie kurzer Zeit nun die weiteren großen Schöpfungen Gotthelfs einander gefolgt sind: der »Schulmeister« 1838 bis 1839, die »Wassernot« 1838, eine ganze Reihe Erzählungen und dann – der Höhepunkt – »Uli der Knecht« 1841. Es schließen sich an: »Anne Bäbi« 1843/44, »Geld und Geist« in den gleichen Jahren, »Käthi die Großmutter« 1847, »Uli der Pächter« 1848, »Die Käserei in der Vehfreude« 1850, »Zeitgeist und Berner Geist« 1852, daneben noch die vielen, zum Teil sehr umfangreichen Erzählungen. Nur eine ganz geregelte und eisern eingehaltene Tageseinteilung ließen Albert Bitzius neben seinen Amtsgeschäften dieses gewaltige Werk vollbringen. In Julius Springer in Berlin fand Gotthelf einen vornehmen und verständnisvollen Verleger, der ihm sogar die damals für den deutschen Buchhandel höchsten Honorare zahlte.
Bereits 1851 begann Bitzius zu kränkeln. Wenige Jahre später – am 22. Oktober 1854 – starb er im Alter von nur 57 Jahren an einem Schlagfluß. In Lützelflüh liegt er begraben.
Gotthelf und der Realismus
Die Geburtslage, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation, ist von entscheidender Bedeutung für jeden Menschen, der sich anschickt, an der Kultur seines Volkes durch eigene Werke schöpferischen Anteil zu nehmen. Gewiß prägen sich die persönlichen Wesenszüge des einzelnen, angeborenes Temperament und ererbte Charakteranlage, in jedem Satz und jeder Zeile einer Dichtung unverkennbar aus, aber das, was uns unsere geistige Vergangenheit nicht als bloße Kette von Zufälligkeiten, sondern als sinnvolle Geschichte empfinden läßt, der Gleichklang der vielen nebeneinander wirkenden Einzelwesen, den wir als bedeutsame Einheit empfinden und deshalb als kulturelle Entwicklungsstufe, als geistesgeschichtliche Epoche, als literar- oder kunstgeschichtlichen Stil bezeichnen, dieser Gleichklang, der im Wechsel mit dem Gleichklang der folgenden Altersschicht schaffender Individuen das geheimnisvoll rhythmische Fluten in unserem scheinbar so unberechenbaren Werden hervorbringt, dieser Gleichklang entsteht erst aus dem trotz aller persönlichen Verschiedenheit doch unverkennbar einheitlichen geistig-seelischen Grundakkord der jeweiligen Generationsgenossen.
Jeremias Gotthelf gehört seiner Geburtslage nach zu einer ausgesprochenen »Zwischengeneration«. Mit dem Geburtsjahr 1797 steht er dicht bei Immermann (1796), der Droste (1797) und Alexis (1798); mit diesen gehört er nicht mehr zu den Romantikern, als deren jüngste Vertreter Kerner (1786), Uhland (1787) und Eichendorff (1788) genannt seien, gehört er noch nicht zu den großen Realisten (Hebbel, Otto Ludwig, Büchner 1813, Freytag 1816, Storm 1817, Keller 1819). Aber gerade als Vertreter einer Zwischengeneration nimmt Gotthelf eine höchst bedeutsame und bezeichnende Stellung ein, eine Stellung, die die gesamte deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts in ihrem ganzen Umfang entscheidend beleuchtet.
Der Realismus bedeutet wie jede geistesgeschichtliche Stilwandlung eine neue Art, die Dinge zu sehen. Nicht mehr die abstrakten Visionen, zu denen sich nur allzuoft die irrationale Weltschau der Romantiker übersteigerte, sondern die den menschlichen Sinnen faßbaren Tatsächlichkeiten unserer Umwelt sind in fast nüchtern anmutender Selbstbeschränkung die allein der Dichtkunst würdigen Gegenstände geworden. Der Dichter ringt nicht mehr um die Verkündigung neuer Wahrheiten, sondern um die Darstellung neuer Wirklichkeiten. Man wird zugeben müssen, daß das 19. Jahrhundert mit dieser Art der Welterfassung auf allen Gebieten der exakten Forschung wahrhaft ungeheure Fortschritte aufzuweisen hat: alle naturwissenschaftlich-technischen Wissenschaften sowie das Tatsachenmaterial aller übrigen Forschungsgebiete sind geradezu unwahrscheinlich bereichert worden.
Freilich wurde dieser Fortschritt auf der anderen Seite nur mit dem Verzicht auf neue irrationale Wertsetzungen erreicht, zwar nicht in dem Sinne, daß man auf ethische und ideelle Maximen überhaupt verzichtet hätte, aber doch so, daß man diese, statt sie sich neu zu erwerben, als längst erworben und bekannt voraussetzte. Weltanschaulich übernimmt das Zeitalter des Realismus, das heißt das ganze 19. Jahrhundert bis zu Nietzsche, die teils weltbürgerlich-liberalen und humanistischen, teils nationalen und christlichen Tendenzen der Goethezeit und der Romantik. Man zehrt mehr von dem angehäuften ethischen Vorrat der Gemeinschaft, statt ihre seelische Substanz durch neue Inhalte zu bereichern.
Das einzige, was das 19. Jahrhundert an eigener Wertsetzung leistet, ist die noch nie so unverhüllt dargetane Hochschätzung aller ökonomischen Belange. Geld zu haben wird eine Art ethische Forderung, und der ganze soziale Aufbau des Volkes wird von der Höhe des versteuerbaren Einkommens bestimmt. Aus dieser Überbewertung des Ökonomischen erwuchs der Standesdünkel der »oberen Zehntausend« so gut wie die Lehre vom »Klassenkampf« der »Besitzlosen«, entstand auch die bezeichnende Auffassung, daß alle Kulturschöpfungen der Menschheit nur einen »Überbau« zu der jeweiligen wirtschaftlichen Grundsituation des betreffenden Volkes darstellten, daß jene also von dieser abhängig seien. Die weltanschauliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts führte mit eindeutiger Folgerichtigkeit zum Kapitalismus oder Marxismus, was beides nur eine freilich sehr ungleichartige Ausprägung desselben materialistischen Grundverhältnisses zur Welt bedeutet.
Allerdings blieben die besten Kräfte des Jahrhunderts dadurch, daß sie bei der ihnen überlieferten weltanschaulichen Geisteshaltung ihrer Vorfahren beharrten, vor diesen gefährlichen Folgerungen bewahrt. Wir werden nun im folgenden zu untersuchen haben, wie weit Jeremias Gotthelf im Guten wie im Bösen seiner Zeit verhaftet ist, wie er mannhaft als erster in Angriff nimmt, was seiner Generation als Aufgabe gesetzt ist, wie er anderseits bedächtig und entschieden ablehnt, was seine Altersgenossen oft nur allzusehr verlockte.
Gotthelfs Stil
Die Dichtung des Realismus beginnt – was oft vergessen wird – mit Goethe, dessen überragende Schaffenskraft auch in diese geistesgeschichtliche Epoche vorahnend hineingreift. »Wilhelm Meisters Wanderjahre« zeigen sowohl in ihrer Gesamthaltung, der Betonung nützlichen, zweckgerichteten menschlichen Handelns statt ruhelosen Schweifens, wie in der Technik eingehendster Beschreibung handwerklich-industrieller Vorgänge aufs deutlichste, daß Goethes »Altersstil« dem Realismus zuwendet. Es beginnt hier die Entwicklungslinie, die ebenso zu dem Kaufmannsroman »Soll und Haben« wie zur »Käserei in der Vehfreude« hinführt und die heute in den modernen Industrieroman (»Anilin«, »Radium«, »Vistra«) ausmündet.
Aber Goethe bedeutet einen Einzelfall vorausahnender Vorwegnahme, der nicht zu verallgemeinern ist. Der eigentliche Realismus als gemeinschaftliche Ausdrucksform einer Generation beginnt wesentlich später und führt erst bei den um Jahrzehnte jüngeren »Naturalisten« zur Anwendung der äußersten realistischen Folgerungen und damit gleichzeitig zu dem Endpunkt dieser Entwicklung. Trotzdem schafft Jeremias Gotthelf, seiner Geburtslage nach der älteste aller Realisten, mit ungeheurer Kühnheit und unbeirrbarer Ausdauer in seinen Werken bereits alle jene stilistischen Grundlagen, aus denen der Realismus und im wesentlichen auch der Naturalismus beruhen. Obgleich es sonst als besonderes Verdienst gilt, auf irgendeinem Gebiete der erste gewesen zu sein, der etwas dachte, aussprach oder schuf, hat doch die auffallende Vereinzelung, in der Gotthelf innerhalb der zeitgenössischen, noch durchaus romantischen Literatur dasteht, ihm weniger Ruhm als den Vorwurf »barbarischer Verachtung aller Kunstregeln« eingebracht, einen Vorwurf, der uns heute, da wir den Realismus bis in seine letzte Entwicklungsmöglichkeit sich haben abrollen sehen, reichlich abgeschmackt erscheint.
Um es nochmals in aller Schärfe zu sagen: Jeremias Gotthelf schafft in seinen Werken durch völlig neue, nur ihm bis dahin eigene Ausdrucksmittel einen Darstellungsstil, der zur Romantik etwa denselben Abstand aufweist wie diese zur Aufklärung, einen Stil, der in den folgenden 70 Jahren sich immer beherrschender durchsetzt (doch freilich ohne daß Gotthelf als sein Schöpfer anerkannt würde!), kurz, Gotthelf steht an der Schwelle einer neuen, großen literargeschichtlichen Epoche.
Die neuen Ausdrucksmittel Gotthelfs und des Realismus überhaupt bestehen in einem veränderten Verhältnis des Dichters zur Wirklichkeit der Welt und des Lebens. Er empfängt nicht mehr den höchsten Wertmaßstab von der Wahrheit und Tiefe der Idee, die er verkündigt, sondern von der Wirklichkeit und Treue, mit der er seinen Stoff darstellt. Der Schwerpunkt des Dichtens verschiebt sich von dem Was auf das Wie; statt der rein geistig faßbaren Wahrheit vorgetragenen Geschehens verlangt man die sinnlich anschaubare Wahrscheinlichkeit. Naturwahr, lebensecht soll die Dichtung sein, auch wenn sie dafür nicht mehr mit allem Überschwang des Gefühls den Himmel stürmt. Man vergegenwärtige sich hierzu, welch gefährlichen Hang gerade die Dichtung der Romantik angenommen hatte, auf eine Überwirklichkeit hinzuleiten, die – nüchtern gesagt – stets eine Unwirklichkeit ist. Aus der abstrakten Verbissenheit der rein weltanschaulichen romantischen Dichtung erlöste die derbe Wirklichkeitsnähe des Realismus.
Jeremias Gotthelf hat hierzu die ersten und entscheidenden Schritte getan. Für ihn war die genaue Wiedergabe der Wirklichkeit die wichtigste und selbstverständlichste Pflicht des Dichters, gleichgültig ob es sich dabei um Naturereignisse, Landschaften, Lebensgewohnheiten, Charaktere oder was auch immer handelte. In der romantischen Dichtung herrscht mit einer jeder naturwissenschaftlichen Erfahrung hohnsprechenden Häufigkeit Mondschein, Frühling und Nachtigallengesang; insbesondere bilden diese Naturzustände den notwendigen Rahmen für alle Liebesszenen. Bei Gotchelf zeigt sich der Wettergott den Liebenden weniger günstig. Da ist z. B. die Begegnung zwischen Anneli und Felix auf dem Wege zum »hohen Roß«. »Der Abend«, sagt Gotthelf, »war eben nicht für Liebesabenteuer eingerichtet, wie man sie sonst zu beschreiben pflegt. Es flöteten keine Nachtigallen im Busche, es murmelten die Bächlein nicht, es zirpten die Grillen nicht, der Mond goß sein silbernes Licht nicht auf die Erde, die himmlische Sichel schiffte nicht im Blau der Lüfte, es säuselten keine lauen Abendwinde. Es ging eine handfeste Bise und trieb das abgefallene Laub herum; grau war der Himmel, die Erde hatte ihr Hochzeitkleid, das Blumengewand, abgelegt und machte ein Gesicht wie ein neunundneunzigjähriges, runzelhaftes Mütterchen. Einzelne melancholische Krähen hüpften bedächtig von Furche zu Furche oder steckten trübselig den Kopf zwischen die Schultern, als ob sie an den kommenden Schnee dächten und eine Predigt darüber studierten. Struppichte Spatzen bewegten sich im Busche, und hungrige Gilbrichte flatterten über den Weg, sahen sich nach etwas Eßbarem um, welches Roß oder Kuh fallen gelassen.« – Noch schärfer lehnt Gotthelf an einer anderen Stelle der »Käserei« das schwärmerische Sterngucken ab: »Wer die Vehfreudiger nicht genau gekannt hätte, wäre in den Wahn gefallen, als seien sie sentimental, zögerten, unter ihr finsteres Strohdach zu kommen, um so lange als möglich an dem Anblick der Sterne sich zu laben und den Gedanken, wie es dort oben sein möchte, wie schön das Wohnen dort und auf welchem wohl am schönsten, oder sie möchten noch niedergehen sehen das herzliebe Möndlein in sein himmelblaues Bettlein, wie ein feuriger Liebhaber auch nicht vom Fenster seiner Liebsten weg kann, bis sie das Licht ausgelöscht und schnarcht, daß die Fenster klirren. Wer die Vehfreudiger besser kannte, wußte, daß sie sich um Mond und Sterne am Himmel durchaus nicht kümmerten, sondern bloß um Mond und Sterne im Kalender. Den Stand der Planeten betrachteten sie im Kalender wegen einer Menge landwirtschaftlicher Geheimnisse und um den Mond kümmerten sie sich wegen Kropf-Salben und Kabis-B'schütten, wegen Laxieren und Purgieren, welches erstere bekanntlich im abnehmenden, das letztere aber im steigenden zweckentsprechender unternommen wird.«
Die romantische Landschaft trifft eine ähnliche Auslese wie die romantische Natur- und Wetterdarstellung; sie hat ihre sehr bestimmte Vorliebe für den deutschen Wald, für einsame Mühlen, rauschende Bäche, hochragende Burgen, ohne sich jedoch im einzelnen örtlich festzulegen. Gewiß kennt die Romantik den Rhein und die Donau, aber diese Rheinlandschaft ist doch immer mehr symbolisch gemeint: sie enthält alles, was der Vorstellung nach zu ihr gehört, aber sie ist doch in keiner Weise geographisch eindeutig bestimmt. So werden auch die Ortschaften selten bei ihren richtigen Namen genannt; fast immer bewegen wir uns in einem mehr oder minder phantastischen Nirgendwo. Ganz anders verhält es sich bei Gotthelf. Alle seine Landschaften, auch wenn sie unter einem erdichteten Namen auftreten, sind ganz einmalig und stimmen in jeder geschilderten Einzelheit mit der Wirklichkeit überein. Trotz des so eng begrenzten Rahmens – Schweizer Bauerndörfer des Emmentales werden mit Vorliebe geschildert –: welche Fülle an unterschiedlichsten Landschaftsbeschreibungen entnehmen wir Gotthelfs Werken! Immer hat man dabei den Eindruck fast photographischer Treue der Wiedergabe. Wer vergißt je die in »Anne Bäbi« geschilderte Fahrt zum »Märit« nach Solothurn, das Gedränge bei den Schweinehändlern, die Enge im Wirtshaus, den Gang über die Brücke, die vergebliche Suche nach dem Vater – alles so lebendig beschrieben, daß man meint. Schritt für Schritt hinter den handelnden Personen einherzuwandeln! Oder wer könnte die in der »Käserei« erzählte Reise der sieben Ausgeschossenen zur Käsbörse in Langnau aus dem Gedächtnis verlieren, die uns ebenfalls durch große Menschenansammlungen von Wirtshaus zu Wirtshaus führt und endlich mit einer großen »Prügelten« endet! Überall finden wir die Wiedergabe der wirklichen Landschaft, in der nichts herausgehoben wird, weil es »schön« oder »bedeutend« ist, sondern in der alles Vorhandene den gleichen Wert hat, weil es zum Bilde gehört, gleichgültig ob freundlich oder häßlich, sauber oder schmutzig, groß oder klein.
Einen besonderen Reiz bedeuten in den Werken Gotthelfs immer wieder die ausführlichen und durchaus zuverlässigen Schilderungen bäuerlicher Sitten und Lebensgewohnheiten. Der Empfang eines überraschenden oder erwarteten Besuches etwa wird uns mit einer Genauigkeit der Beobachtung auch des kleinsten Zeremoniells erzählt, daß man fast meinen könnte, Gotthelf habe ein »Handbuch des guten Tones« für Berner Bauersleute verfassen wollen. (Tatsächlich schwebt ihm dieser Gedanke halb unbewußt wohl ebenso vor wie den mittelalterlichen Dichtern bei ihrer so eingehenden Schilderung des ritterlich-höfischen Komments.) Wir erfahren von Gotthelf genaueste Einzelheiten über den bäuerlichen Tageslauf, vor allem über die Mahlzeiten, über die Gebräuche bei Hochzeit, Taufe und Todesfall, über Volksbelustigungen wie politische Wahlversammlungen, über die Schatzkammer der reichen Bäuerin wie über das Armenwesen, über Schulunterricht und Gottesdienst, kurz eine ganze Kulturgeschichte des Berner Bauern von unübertrefflicher Treue und Anschaulichkeit.
Die größte Eroberung der realistischen Epoche ist aus dem Gebiete der menschlichen Psychologie vollzogen worden. Der Held der Dichtung war bis dahin allzusehr als bloßer Träger überpersönlicher Ideen gewertet worden; erst jetzt wird er gewissermaßen um seiner selbst willen zum Objekt einer exakten Erfahrungswissenschaft gemacht. Man denke an die in ihrer Art so gewaltigen, theatralisch so wirksamen, psychologisch aber so überaus unwahrscheinlichen Gestalten Schillers und halte etwa die Menschen Hebbels oder Otto Ludwigs daneben, man vergleiche Luise Millerin oder Thekla mit Maria Magdalena oder der Heiterethei, und man erkennt den bedeutsamen Unterschied – nicht im Wert, wohl aber im dichterischen Wollen. Der Realismus zeigt uns den Menschen, wie er ist, mit all seinen Eigenheiten und Schwächen, gewiß, dafür aber als einmaliges, aus dem Leben gegriffenes Individuum.
Als einer der größten Meister in der Charakterzeichnung wird für alle Zeiten Jeremias Gotthelf zu gelten haben. Welche Fülle von Gestalten begegnet uns in seinen Werken! Wo ist ein altes engstirniges, herrschsüchtiges und doch in seiner Art gutmeinendes Bauernweib mit der gleichen dämonischen Kraft geschildert wie in »Anne Bäbi«? Aber der Dichter zeigt uns diese Frauengestalt nicht nur auf dem Höhepunkte ihrer Machtansprüche, sondern er schildert uns auch ihr allmähliches Herabsinken von dieser Tyrannei bis zur geistigen Umnachtung in so überzeugender Anschaulichkeit, daß wir die von einem Arzte entworfene Krankheitsgeschichte Anne Bäbis zu lesen meinen. Nicht minder scharf umrissen, ebenso unvergänglich stehen die anderen Gestalten des Romans neben ihr: Hansli, der unterdrückte, arbeitsame Ehemann, Jakobli, der verzärtelte, weichherzige Bub, Sami, der wortkarge, schlaue Knecht, Mädi, die mannstolle Magd. In diese fest geschlossene Hausgemeinschaft tritt als Schwiegertochter das liebliche, zarte, allzu bescheidene Meyeli. Mit welch vollendeter Meisterschaft wird nun gezeigt, wie jeder der genannten Hausgenossen sich zu ihr in ein von seinem Charakter bestimmtes Verhältnis setzt – mit dem Ergebnis, daß Meyeli zugrunde gehen müßte, wenn ihr nicht von außen her, durch den Doktor Rudi, Hilfe zuteil würde. Dieser Mann stellt gleichzeitig die Brücke dar, die von dem Hauswesen Anne Bäbis zu dem so gänzlich anderen Lebenskreise des Pfarrhauses geschlagen wird. Mit dieser Kontrastierung beweist Gotthelf, daß er nicht allein bäuerische Charaktere darzustellen vermochte, sondern auch die weltanschaulichen Gegensätze unter Angehörigen geistiger Berufe zu gestalten wußte. Der Dichter erweist sich hierbei als ein Meister der Dialogführung, insbesondere in den Gesprächen des wahrhaft weisen alten Pfarrers mit seinem beruflich tüchtigen, innerlich aber zerrissenen Neffen, dem Arzte, in der Auseinandersetzung des alten Pfarrmütterchens mit dem streberhaften, anmaßenden Vikar oder in dessen Abfertigung durch die schlagfertige und warmherzige Pfarrerstochter. Niemals bestimmt dabei der abstrakte Gedanke noch ein logisches Schema den Verlauf des Dialoges, sondern stets der Charakter und das Temperament der Gesprächspartner.
Die überragende Menschenkenntnis des Jeremias Gotthelf hat nicht nur die großen tragenden Hauptgestalten seiner Dichtung zu überzeugend lebenswahren Wesen von Fleisch und Blut geschaffen, sondern auch jeder für die Handlung unbedeutenden Nebenperson ihre ganz eigene, einmalige Färbung verliehen. Wie manches alte Schwammfraueli, das die Heiratsvermittlung im Nebenberufe betreibt, wie manchen bäurischen Geizhals, wie manchen hoffnungslosen Trunkenbold, wie manches zanksüchtige Ehepaar, das sich von früh bis abend in den Haaren liegt, hat Gotthelf mit wenigen Strichen unvergeßlich vor uns hingestellt. Es fehlen dabei auch die edlen Charaktere nicht, die bei aller äußeren Schlichtheit und trotz niederster sozialer Stellung durch tiefe Gläubigkeit, unverdrossenen Fleiß und dienstwillige Treue unsere warme Anteilnahme gewinnen.
Überraschenderweise wird man dabei feststellen müssen, daß dem Dichter Frauengestalten fast noch besser liegen als männliche Charaktere, ja daß bei ihm die Frau meist die dem Mann überlegene ist: Anne Bäbi gegenüber Hansli, Meyeli gegenüber Jakobli oder in der »Käserei« die Ammännin gegenüber dem Ammann, Eisi gegenüber Peterli, ja in gewissem Sinne selbst Bethi gegenüber Sepp und Anneli gegenüber Felix, im »Zeitgeist« endlich Lisi gegenüber Benz. Während der Mann bei Gotthelf oft unentschlossen zaudert und alle möglichen Rücksichten nimmt, ist die Frau meist unbedingter in ihrer Gesinnung, rascher im Entschluß, ja furchtloser im Handeln. Trotz seiner oft so derben und ungeschminkten Redeweise ist selten ein Dichter so tief in die weibliche Seele gedrungen wie Jeremias Gotthelf. »Keiner, auch Goethe nicht ausgenommen«, sagt Ricarda Huch, »hat die Frau so hoch über das Irdische erhoben und zugleich mit so festen Füßen auf die Erde gestellt und darum so vollendete Frauengestalten geschaffen wie Gotthelf.«
Die Charakterdarstellung ist im Zeitalter des Realismus der entscheidende Prüfstein für das Können eines Dichters. Erst der späte Naturalismus hat darüberhinaus noch eine weitere Stufe der Entwicklung gebracht: eine Gemeinschaft von Menschen, zusammengehörig durch Blut, Schicksal oder äußere Not, oder auch die Masse, willkürlich vom Zufall zusammengewürfelt, als Helden der Dichtung. Es erfordert vom Künstler eine besondere Geschicklichkeit, ein Werk nicht auf zwei oder drei auffallende, durch besondere Charakteranlagen ausgezeichnete Hauptgestalten hin anzulegen, sondern einer großen Menge von Menschen, von denen jeder dem anderen gleich und doch jeder vom anderen unterschieden sein muß, die dauernde Anteilnahme des Lesers zu erhalten. Gotthelf ist dies geglückt in einem Werke, das man nach verschiedenen Gesichtspunkten hin als sein eigenartigstes, fortgeschrittenstes und technisch reifstes bezeichnen kann, in der »Käserei in der Vehfreude«. So sehr bisweilen die Liebesgeschichte zwischen Anneli und Felix im Vordergrund zu stehen scheint, in Wahrheit ist der »Held« des Romans doch die Dorfgemeinschaft, besser die durch den gemeinsamen Nutzen zusammengehaltene Käsgemeinde, ja fast möchte man sagen: der Käse selber. Das Liebesabenteuer ist für den Tieferdringenden doch nur eine im Grunde entbehrliche Würze. Die große Menschenkenntnis Gotthelfs läßt diesmal nicht einige Einzelpersönlichkeiten in kunstvollster Kleinmalerei vor unserem Auge erscheinen, sondern er stellt eine ganze Stufenleiter teils gegeneinander-, teils gleichgerichteter Herdentriebe und Masseninstinkte vor uns hin: von nacktester Gewinnsucht und äußerlichstem Geltungsbedürfnis über abgeschmacktesten Aberglauben und niedrigste Klatschsucht, über jämmerlichstes Maul- und Pantoffelheldentum bis zum unbedingten Mangel an jeglicher Wahrheitsliebe und Verantwortungsfreudigkeit. Wie man sich anläßlich der Wiederwahl eines Senns in allen nur denkbaren Möglichkeiten unsachlichster Anfeindungen und Intrigen – besonders von seiten der Weiber – erschöpft, das ist ein geradezu klassisches Musterbeispiel für die Auswüchse eines parlamentarischen Verwaltungssystems, darüberhinaus eines der großartigsten Gemälde menschlich allzumenschlicher Uneinigkeit. Daß daneben Züge charakterlicher Geradheit, ja Vornehmheit, Beweise von Selbstzucht und Sparsamkeit nicht fehlen, erhöht nur die Lebenswahrheit der geschilderten Ereignisse. Die Sachlichkeit der Darstellung und die Betonung wirtschaftlicher Belange stellen den »Roman vom Käse« an den Anfang einer Kette von Industrieromanen, die ihren Gegenstand ebenfalls dem Gebiete der Volkswirtschaft entnehmen und sich statt des Käses mit Anilin, Vistra oder Radium beschäftigen. Gotthelf darf somit als Vorläufer dieses modernen Romantyps gelten.
Es gehört zur Eigenart aller realistischen Kunst, daß sie grundsätzlich keinen Unterschied zwischen schön und häßlich, hoch oder niedrig, sauber oder unrein kennt. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt, daß sie das Häßliche dem Schönen, das Niedere dem Hohen, das Schmutzige dem Sauberen vorzieht, nicht aus Lust am Gemeinen, wohl aber zum Beweis ihrer Unbestechlichkeit gegenüber den Tatsächlichkeiten des Lebens. Und wer kann leugnen, daß es in der Welt mehr Schmutziges als Sauberes, mehr Häßliches als Schönes gibt? Aus der grundsätzlichen Abneigung gegen alles Verfälschen und Beschönigen kommt auch Gotthelf zu einer gewissen Vorliebe für drastische, derbe Szenen und Zustände. Zum Bauerntum gehört nun einmal harte Arbeit, und diese Arbeit hat nun einmal mit Schmutz und Dreck zu tun. Ein rechter Bauer ist nicht zimperlich und steigt getrost in den Mist hinein; Gotthelf, der auch nicht zimperlich ist, folgt ihm mitten in diesen Mist und erwartet von seinem Leser, daß auch der nicht zimperlich sei. Auf diese Weise hat unser Dichter gewissermaßen die »Romantik des Misthaufens« entdeckt. Auffallend ist dabei die besondere Freude, mit der Gotthelf das Derbe in Verbindung mit den zarten Angelegenheiten des Herzens bringt. Erinnert sei etwa an die Szene, wie Jakobli bei der Durchfahrt durch das Dorf der Geliebten inmitten sehnsuchtsvollster Träume sein Wägelchen gerade in die Mistgülle hineinsteuert oder wie Anne Bäbi dem auf Brautschau gefahrenen Sohne nach der Ankunft am Ziel zunächst einmal die von Jauche triefenden Hosen auswäscht. Hierin zeigt sich der ausgesprochene Sinn für Kontraste, der überall bei Gotthelf zutage tritt und gleichzeitig die Ursache seines Humors ist. Die Häufung der Kontraste und die entsprechende humoristische Wirkung machen Gotthelf auch auf diesem Gebiete zu einem Meister seines Faches.
Gotthelf kennt aber nicht nur die Vorliebe für den Schmutz, sondern auch für charakterliche Niedrigkeit, die er schonungslos darstellt. Dadurch wird er in den meisten seiner Werke zum erbitterten Ankläger gegen irgendwelche menschliche Herzensträgheit oder Gefühlsroheit; auf diese Weise erhält er den erwünschten Spielraum für seine leidenschaftlichen Kampfreden gegen alle möglichen Laster und Mißstände, die er in seiner Umwelt erblickt. Hierin durchbricht er gänzlich die sonst dem Realismus eigene kühle Unbeteiligtheit; Gotthelf ergreift immer und durchaus Partei, er will wirken, bessern, belehren, nicht anders, als es Schiller – freilich mit ganz anderen Mitteln – vor ihm getan hat, nicht anders, als jede deutsche Dichtung stets ihre erzieherische Nebenabsicht in sich trägt. So gelingt ihm auch auf diesem Gebiete als erstem ein Wurf, der erst Jahrzehnte später wieder dem Naturalismus – genau auf die gleiche Weise übrigens – geglückt ist: auf Grund objektiv erzählter Tatbestände schreibt er einen glühenden Roman der sozialen Anklage, wie er zu jener Zeit unerhört ist, den »Bauernspiegel«. Der Kunstgriff, den Gotthelf dabei meisterhaft anwendet und den er möglicherweise aus der historischen Novelle eines Heinrich von Kleist übernommen haben könnte, ist die nüchterne Sachlichkeit, mit der soziale Mißstände, charakterliche Gemeinheiten, wirtschaftliche Ausbeutungen vor unseren Augen aufgerollt werden. Noch hält sich Gotthelf als sozialer Kritiker mehr im Hintergrunde und läßt die Dinge für sich selber sprechen. Diese Zurückhaltung hat der Dichter freilich bald gänzlich aufgegeben, und wir können uns wegen mangelhafter Aufklärung über des Dichters innerste Ansichten in keiner Weise mehr beklagen. Schon die »Anne Bäbi« schrieb er gewissermaßen »auf Bestellung« als eine Tendenzschrift gegen die im Kanton Bern allzu üppig aufgeblühte Kurpfuscherei in sehr eindringlichem, durchaus unmißverständlichem Tone. Im »Zeitgeist und Berner Geist« endlich erreicht Gotthelf die Stufe der durchaus subjektiven, leidenschaftlichen Kampfschrift. Diese Entwicklung hat ihren Grund darin, daß Gotthelf zwar als Meister der Form, als Stilist durchaus im Banne der realistischen Epoche blieb, daß er aber weltanschaulich auf einem völlig anderen Boden stand.
Gotthelfs Weltanschauung
Das Geburtsjahr des Jeremias Gotthelf stellt ihn mittenhinein zwischen zwei große geistesgeschichtliche Epochen: zwischen Romantik und Realismus. Wir haben gesehen, daß er als Sprachschöpfer und Stilkünstler ein großer Neuerer und Vorläufer ist: allen Zeitgenossen voran, ein ganzes Jahrhundert deutscher Literaturgeschichte anführend, gibt er uns in seinem Werke die Welt, wie sie ist, in ihrer nackten Wirklichkeit, in ihrem Schmutz und ihrer Häßlichkeit, die Menschen, wie sie sind, feige und erbärmlich, beschränkt und ichsüchtig, jeden in seiner ganzen Unvollkommenheit, wie er nun einmal geschaffen ist; die beginnende Stilrichtung wird sofort in ihrer äußersten Folgerichtigkeit zu Ende gedacht.
Was aber wird mit allen diesen neuen Mitteln gewollt und erstrebt, wofür kämpft Gotthelf, wogegen wendet er sich? Ist die Weltanschauung Gotthelfs ebenso revolutionär und in die Zukunft weisend wie seine Stilkunst? Man muß sich dabei vor Augen halten, daß das 19. Jahrhundert, das in der europäischen Geschichte wohl revolutionenreichste Jahrhundert, nach der Romantik überhaupt keine große und einheitliche weltanschauliche Gesinnung mehr hervorzubringen vermocht hat, es sei denn die ökonomische Grundhaltung zu allen Gegebenheiten des Lebens. Das 19. Jahrhundert zehrt vom Erbe der großen Vergangenheit; die gesammelten Geistesschätze der Goethezeit, seien sie weltbürgerlich-liberal oder romantisch-national, humanistisch oder christlich, reichen für jeden Bedarf an Ideologien und wirklich geglaubten Wertmaßstäben aus. Vielleicht erklärt sich aus diesem Mangel aller wirklichen Fragwürdigkeiten auf weltanschaulichem Gebiete auch die solide Tüchtigkeit, die allem anhaftet, was uns aus der Biedermeierzeit und der Zeit unserer Großväter her menschlich berührt.
So ist auch Gotthelf, und zwar bewußter als die allermeisten seiner Zeitgenossen, weltanschaulich durchaus rückwärtsgewandt, in freiwilliger Bindung der Tradition und den Idealen seiner Vorfahren hingegeben. Gotthelf ist in jeder Hinsicht bewußt konservativ und Vertreter einer ausgesprochenen Altersweisheit, auch in seinen besten Mannesjahren schon. Es muß zwar beiläufig gesagt werden – aber das soll in keiner Weise als irgendwie hervorstechender Zug seines Wesens gelten! –, daß Gotthelf doch in einem Punkte Sohn seines Jahrhunderts ist: auch er ist von ökonomischen Wertmaßstäben nicht ganz frei. Unser Dichter ist in seinen Werken ein leidenschaftlicher Ehestifter. Es kommt ihm dabei aber nicht auf die mehr oder minder rührenden Liebesszenen an, im Gegenteil: über die macht er sich oft noch lustig; nein, Gotthelf zeigt uns immer wieder, daß zu einer glücklichen Ehe eine gesunde finanzielle Grundlage gehört. Selbst in der »Anne Bäbi«, wo der Dichter – man muß wohl sagen: ausnahmsweise – einmal auf der Gegenseite steht und die reine Geldheirat als für Jakobli verderblich darstellt, führt doch die abgeschlossene Ehe mit dem bettelarmen Meyeli nicht zum wirklichen Glück, sondern kostet der jungen Frau vielen Kummer, ja beinahe das Leben. Gewiß fordert Gotthelf nirgends eine Geldheirat, aber aus seinem großen Schatze an Lebenserfahrung warnt er doch vor jeder unbesonnenen Eheschließung. In welchem Gegensatz steht er dabei etwa zu Eichendorffs Novelle vom »Taugenichts«, in der jeder Gedanke an die wirtschaftliche Sicherung einer Liebesbeziehung geradezu eine Entheiligung der Poesie bedeuten würde!
Noch an einer anderen Eigenheit erkennen wir, daß Gotthelf unbewußt doch dem ökonomischen Wertmaßstab seines Jahrhunderts verfallen ist, einer Eigenheit übrigens, die ihm einmal von Gottfried Keller schwer angekreidet worden ist. Tatsächlich geht es in seinen Werken – man braucht nur an die »Käserei« oder an den »Zeitgeist« zu denken – den gottgläubigen Konservativen immer gut, entweder sind sie schon reich oder sie werden es doch, während die religionslosen Radikalen entweder von Anfang an Lumpen und Habenichtse sind oder durch Mißwirtschaft auf dem Hofe, Leichtsinn und Schuldenmacherei zu solchen werden. Selbstverständlich ist es eine Art poetisches Recht des Dichters, seine Helden zu belohnen. Bösewichter zu bestrafen, nur erfolgt hier Lohn und Strafe bisweilen in allzu subjektiver Art und Weise.
Abgesehen von dieser einen kleinen Abhängigkeit von der Zeit, steht Gotthelf aber sonst sehr aufrecht, sehr bewußt und sehr vereinzelt auf dem weltanschaulichen Boden einer vergangenen Zeit. Im Grunde verfechten zwar alle schöpferischen Menschen des 19. Jahrhunderts bis zu Nietzsche und – um auf Schweizer Boden zu bleiben – Spitteler ererbte Werte der Vergangenheit, sie alle aber bevorzugen liberalistisches Gedankengut. Diese Welle ergreift alle damaligen deutschen Dichter, soweit sie überhaupt politisch denken, erstreckt sich von Uhland über das Junge Deutschland bis zu Freytag und Spielhagen, ja sie führt schließlich zum Materialismus, Marxismus und Kommunismus; die Naturalisten neigen fast alle zur Sozialdemokratie. Gotthelf hingegen ist durch und durch konservativ. Er haßt den sogenannten »Zeitgeist«, das heißt die Äußerungen liberalistischer und radikaler Gesinnung, die er überall in seiner Umgebung wahrnimmt und die seiner Meinung nach zum Verfall und zur Vernichtung aller überlieferten Kultur und Gesittung, des alten »Berner Geistes«, führen müssen. Er nennt deshalb seine dichterisch-politische Abrechnung mit jenen Mächten »Zeitgeist und Berner Geist«. Dieses Werk ist die erbittertste und umfassendste Absage an allen Radikalismus, Liberalismus und Kommunismus, die wir aus jener Zeit kennen. Gerade dieser Umstand macht das Buch auch heute noch lesenswert.
Für uns, die wir alle liberalen und demokratischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts endgültig zu Grabe getragen haben, erscheint prophetisch, wie Gotthelf bereits zu seiner Zeit durchschaut hat, daß die Ideologie des Liberalismus in Wahrheit auf nacktestem Eigennutz aufgebaut, einer Gemeinschaft gegenüber verantwortungslos und in der Wirklichkeit überhaupt nicht durchführbar ist. Wo uns bei Gotthelf parlamentarische Gepflogenheiten entgegentreten, überall da wirken sie sich wider jede höhere Einsicht und zum Schaden der Beteiligten aus; wir brauchen nur an die auf demokratischer Grundlage gebildete Käsgemeinde in der »Vehfreude« oder an die Beamtenwahlen im »Bauernspiegel« zu denken. Es kann freilich nicht geleugnet werten, daß Gotthelfs politische Kampfschriften, so glänzend sie in allem Negativen, das heißt in der Kritik vorhandener Mißstände sein mögen, doch in Wahrheit keine positiven Vorschläge, keine wirklich neuen Ideen zur Beseitigung dieser Mißstände bringen. Bloß mit dem alten Väterglauben und der heiligen Gepflogenheit lassen sich große politische Entwicklungen nicht aufhalten; an selbständigen schöpferischen Gegenkräften gegen die liberalistischen Strömungen fehlte es eben der damaligen Zeit noch völlig. So zieht Gotthelf in seinem Kampf gegen den Radikalismus auch einige Folgerungen, bei denen wir ihm nicht zu folgen vermögen. Hierher gehört seine Einstellung zur Politik und zum Staat.
Wo Gotthelf die Politik ins alltägliche Leben eingreifen sah, trat sie in Form parlamentarischer Gepflogenheiten und demokratischer Zustände auf. So versteht er unter Politik nichts anderes als Parteiengezänk, bei dem nach Herzenslust gefeilscht und geschoben wird. Damit kommt er zu einem Urteil über die Politik schlechtweg, das vernichtend ist. »Ganz gut, meine schönen Herren«, sagt er in ›Zeitgeist und Berner Geist‹, »aber dann zieht die Politik nicht in Haus und Kirche hinein, laßt beide ungeschoren und treibt euere Politik in Rats- und Wirtshäusern! Alles Leben wollt ihr töten bis an das politische Leben, und das ist für sich alleine das ödeste aller Leben, eine Wolke ohne Regen. Es ist an sich nichts, nichts als der Mist, in welchem das Ungeziefer entsteht, Bestien, kleine und große.« Wir, die wir heute unter Politik das selbstverständliche Wissen um staatliche und nationale Notwendigkeiten verstehen, müssen uns dabei vor Augen halten, daß für Gotthelf das Wort Politik gleichbedeutend war mit Parteipolitik und für ihn deshalb mit Recht vom Übel.
Ähnlich verhält es sich mit Gotthelfs Stellung zum Staat. Er erblickt im Staate, den er ja vorwiegend liberal und demokratisch kannte, den Sitz und Ursprung aller Politik und verwirft ihn schon deshalb. Im besten Falle erkennt er in ihm eine äußere Notwendigkeit, keinesfalls etwas sittlich Wertvolles, etwas, für das man sein Leben einsetzen müßte. Dabei hängt aber Gotthelf mit jeder Faser seines Wesens an seinem Heimatlande, an der Schweiz, ja fast noch mehr an seinem Bern. Hierin ist er durchaus Partikularist: er denkt, fühlt und handelt zuerst als Berner Bürger, dann als Schweizer, in letzter Linie erst als Deutscher. Obgleich er so meisterhaft die deutsche Sprache handhabt, obgleich er seiner Wesensart nach durchaus deutsch fühlt, ist ihm Deutschland wegen seiner revolutionären Bestrebungen (1848!) im Innersten verleidet, nach deren Scheitern lächerlich geworden.
Noch ablehnender steht Gotthelf allerdings Frankreich gegenüber. Der »Zeitgeist« ist für ihn zugleich französischer Geist, wie von Frankreich her nach Gotthelfs Meinung immer alles Unheil über sein Heimatland hereingebrochen ist, von den plündernden jakobinischen Horden bis zu Eugen Sues »Geheimnissen von Paris« und dem alles Überlieferte verachtenden Radikalismus. Um so höher steht ihm dafür sein Heimatland.
Als echter Partikularist verfällt Gotthelf bisweilen sogar, wie übrigens auch Gottfried Keller etwa im »Martin Salander«, in einen übersteigerten Kult rein schweizerischer, ja Berner politischer Gepflogenheiten und Zustände, die er dann mit allzu breiter Gründlichkeit ausmalt. Aber auch dieser Durchbruch schweizerischen Nationalgefühls ist bezeichnend für die weltanschauliche Herkunft Gotthelfs aus der Romantik. Auch die Romantik war durchaus antiliberal, soweit sie nicht mit dem Freiherrn vom Stein die geniale Synthese mit dem Liberalismus eingegangen war, die einerseits den Liberalismus entgiftete und andrerseits die Romantik erst zu einer in das wirkliche Leben übertragbaren Weltanschauung machte.
Mit der Romantik teilt Gotthelf noch eine andere wesentliche Grundrichtung seines Wesens: die Religiosität. Dabei fallen für einen Teil der Romantiker wie für Gotthelf die Begriffe »religiös« und »christlich« ohne weiteres zusammen. Schleiermacher begeht in seinen berühmten »Reden über die Religion« diesen logischen Sprung ebenso anstandslos wie Gotthelf, der einmal geradezu sagt: »Wohlverstanden, unter Religion verstehe ich nicht das Gutdünken irgendeines Staatsmanns oder Staatspädagogen, sondern jetzt das Christentum.« Wer nicht Christ ist, ist für Gotthelf Atheist! Dies muß man sich immer vor Augen halten, wenn man den ungeheuchelten Abscheu Lisis und Benzens im »Zeitgeist« gegen alle »Religionsfeinde« oder auch den so unerwartet betrüblichen Lebensausgang des Doktor Rudi in der »Anne Bäbi« verstehen will. An die Möglichkeit einer Gottgläubigkeit außerhalb des christlichen Dogmas hat Gotthelf nicht im entferntesten gedacht.
Und doch ist von einem seiner Kritiker, und zwar von Gottfried Keller, einmal an der orthodoxen Rechtgläubigkeit Gotthelfs gezweifelt worden: »Der Gott, der diese (Gotthelfs) Bauern regiert, ist noch der alte Donnergott und Wettermacher. Sie hangen ab von Regen und Sonnenschein, von Licht und Wärme und fürchten Hagel und Frost. Sie zittern vor dem Blitzstrahl, der in ihre Scheune schlägt, und halten ihn für die unmittelbare Folge einer bösen Tat. Besitz und irdisches Wohlergehen verlangen sie von Gott und sind zufrieden mit ihm in dem Maße, als er dieselben gewährt ... Da ist nie die Rede von der ›schönen symbolischen Bedeutung‹ des Christentums, von seiner ›herrlichen geschichtlichen Aufgabe‹, von der Verschmelzung der Philosophie mit seinen Lehren. Dagegen spielt der Teufel eine gewichtige Rolle ...« Fest verwurzelt im bäuerlichen Heimatboden, ist Gotthelf, obwohl selbst Pfarrer, doch weit entfernt von jedem starren, dogmatischen Buchstaben-Christentum; als echt religiöse Natur lebt er warmen Herzens in seinem ihm überkommenen Väterglauben, nicht als Kirchenbeamter, vielmehr als wahrer Berater und Helfer seiner Gemeinde, aber auch als ihr Erzieher und Vorkämpfer, der sich nicht damit begnügt, seinen Glauben für sich selbst zu haben, sondern der auch anderen diese seine Überzeugung übermitteln will. Daß Gotthelf dabei jeder scheinheiligen Orthodoxie in der Geistlichkeit selbst durchaus ablehnend gegenübersteht, beweist die Schilderung, die er dem Vikar in »Anne Bäbi« angedeihen läßt. Sein Christentum, wie er es im gleichen Werke von den beiden alten Pfarrersleuten vertreten läßt, ist ohne allen Fanatismus ein gemütvolles, selbstbewußtes Gottvertrauen, das alle Kräfte regt, die Gott uns gegeben, und doch weiß, daß ohne ihn alle Anstrengung nutzlos wäre.
Jeremias Gotthelf bleibt trotz seiner realistischen Stilmittel weltanschaulich ein Vertreter der Romantik in ihren antiliberalen, nationalen und christlichen Tendenzen. Er ist damit mitten im 19. Jahrhundert, unabhängig von aller oberflächlichen Modeschriftstellerei und scheinbar fortschrittlichen Effekthascherei, Vertreter einer durchaus irrationalen edelsten deutschen Weltanschauung. Jeremias Gotthelf ist dabei nie davor zurückgeschreckt, den Standpunkt des reifen und erfahrenen Alters gegenüber der vorlauten Jugend zu vertreten, und wie sich die Jugend nie das Recht nehmen lassen wird, zu fordern, zu handeln und – zu irren, so darf sich das Alter nie davon abhalten lassen, zu mahnen, zu warnen und verspottet zu werden. Bei Gotthelf finden wir diese wahre Altersweisheit, die trotz aller Anfeindungen, trotz aller Nichtachtung unbeirrt ihrer Aufgabe getreu bleibt, in der schönsten Weise vollendet. Erst daraus geht die umfassende, in sich geschlossene Weltschau hervor, die den einheitlichen Hintergrund für all die kleinen menschlichen Begebenheiten seiner zahlreichen Werke bildet und die ihn erst zum wirklich großen Dichter macht. Hieran denkt Gottfried Keller, wenn er die »tiefe und großartige Einfachheit« rühmt, die »wahr und zugleich so ursprünglich sei, daß sie an das gebärende und maßgebende Altertum der Poesie, an die Dichter anderer Jahrtausende erinnere«. Tatsächlich liegt der Vergleich mit Shakespeare nahe: Wie bei dem großen Briten ist auch bei dem Schweizer ein ganzer Lebens- und Gesellschaftskreis – wenn auch ein beschränkterer – mit allen seinen Wesenheiten, mit Sprache, Sitte, Gesinnung, Streben, ja mit der Luft, die er atmet, in kunstvolle Begebenheiten eingesponnen und, vor den weiten Hintergrund eines einheitlichen Weltbildes gestellt, zu wahrer Dichtung erhoben worden.
Die Herstellung eines einwandfreien Textes ist die Hauptaufgabe für den Herausgeber von Werken eines verstorbenen Dichters. Unter »einwandfrei« versteht man dabei die möglichst vollständige Übereinstimmung des gedruckten Textes mit dem einst vom Dichter selbst gewollten Wortlaut. Im Falle Jeremias Gotthelf stößt dieser Versuch auf besondere Schwierigkeiten. Einmal erschwert die häufige Anwendung von Dialektausdrücken, ja ganzen in Mundart geführten Gesprächen die Aufgabe, zumal die Setzer zu Lebzeiten des Dichters recht willkürlich ihres Amtes gewaltet haben, als Mitteldeutsche wohl auch den schweizerischen Ausdrücken vielfach ganz hilflos gegenüberstanden. Der Dichter selbst war gegen die Fehler, die sich auf diese Weise bereits in die Erstdrucke eingeschlichen haben, meist zu gleichgültig; innerlich schon mit seinem nächsten Werke beschäftigt, behandelte er die Korrekturen mit allzu vornehmer Nachlässigkeit. Nun haben sich zwar in neuerer Zeit einige Schweizer Gelehrte mit großer philologischer Gewissenhaftigkeit bemüht, eine in dieser Hinsicht tadellose Gotthelf-Ausgabe zu schaffen, aber auch ihre Aufgabe war von vornherein nicht restlos zu lösen, da zu vielen Werken Gotthelfs die Handschrift verloren ist.
Der Text der vorliegenden Ausgabe beruht auf dem der »Gesammelten Schriften« (Springer, Berlin 1856/57), mit dem die Erstdrucke und die Lesarten der von R. Hunziker und Hans Blösch betreuten Schweizer Nationalausgabe sorgfältig verglichen wurden. Am gesichertsten ist die Überlieferung des Wortlauts der »Käserei in der Vehfreude«, bei der Handschrift und Erstdruck in bemerkenswerter Weise miteinander übereinstimmen. Dagegen fehlen zur »Anne Bäbi« wie zum »Bauernspiegel« alle eigenhändigen Unterlagen Gotthelfs, so daß man bei diesen Werken nur allzuoft auf rein gefühlsmäßige Vermutungen angewiesen ist. Ich habe hier den Lesarten der erwähnten Schweizer Ausgabe nicht immer zu folgen vermocht, insbesondere habe ich für den Bauernspiegel den Text der von Gotthelf selbst umgearbeiteten, erweiterten und sogar mit einem eigenen Vorwort ausgestatteten zweiten Ausgabe (Burgdorf 1839) statt dessen der ersten (daselbst 1837) zugrunde gelegt. Dagegen hat mich die philologisch glänzende Ausgabe des »Zeitgeistes und Berner Geistes« von Hans Blösch in den meisten Fällen überzeugt, so daß ich ihm, der auf Grund eingehender Vergleichung mit der Handschrift 2420 (!) Korrekturen am Springerschen Erstdruck vornimmt, fast immer bedenkenlos folgen konnte.
Nur in einem Punkte bin ich grundsätzlich von dem oben angegebenen Ziele der größtmöglichen Worttreue abgewichen: bei allen Dialektstellen stand mir noch höher als das vom Dichter nun einmal so gewollte und so geschriebene Wort die leichte Verständlichkeit besonders auch für den norddeutschen Leser. Es handelt sich dabei freilich allein um die rechtschreibliche Vereinheitlichung bestimmter Dialektwörter, nicht etwa um ihren Austausch gegen andere »hochdeutschere« Wörter, soweit nicht Gotthelf selbst dies getan hat. So wurde im Gegensatz zu der Schweizer Ausgabe grundsätzlich für ausgelassene Buchstaben ein Apostroph gesetzt, weil ein Wort wie »gno« mir schwerer deutbar scheint als »g'no« (genommen). Aus gleichem Grunde wurden durch die Schreibweise unterschieden die gleichklingenden, von Gotthelf ganz willkürlich geschriebenen »si« (= sie), »sih« (= sich), »sy« (= sein, sind) und »bi« (= bin), »by« (= bei). Oder es wurde für das Wort »blinzlige« (blindlings) die Form »blindslige« eingeführt.
Zum Schlusse sei dem Leser, der des Dialektes wegen Schwierigkeiten bei der Lektüre des Werkes empfindet, noch die alte Regel ins Gedächtnis zurückgerufen: Man lese die unverständliche Stelle einmal laut vor sich hin; meist wird dann dem Ohre klar, was das Auge nicht zu entziffern vermochte.
Für die Bearbeitung des Wörterverzeichnisses, die der Herausgeber wegen einer Einberufung zum Wehrdienst nicht selbst übernehmen konnte, ist er Herrn Dr. Franz Niederer zu aufrichtigem Danke verpflichtet.
H. L.