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Gretli vernahm den Befehl, zur Gotte zu gehen, mit Schrecken, aber eine bange Freude kam doch hintendrein. Die Mutter gab den Befehl ungern, aber sie betrachtete Gritli als eine Sterbende, und die letzten Wünsche eines zum Tode verurteilten Mörders befriedigt man ja, warum nicht die letzten Wünsche einer Freundin, wenn sie im Bereich der Möglichkeit liegen? In diesem Befriedigen solcher Wünsche, überhaupt in Heilighaltung des letzten Willens liegt etwas unaussprechlich Schönes, es liegt darin das Trachten, den scheidenden Geist zu befriedigen, zu verhüten, daß er nicht durch ein Ungenügen gleich als wie an einem Haken an der Erde hängenbleibe oder durch eine Verletzung seines Willens gar zurückgezogen und an seiner Ruhe gehindert werde. Diesem frommen Respekt unserer Voreltern verdanken wir das Herrlichste, was wir an Denkmälern und großartigen Stiftungen besitzen. Unsere Enkel werden uns wenig zu verdanken haben als einige hohle Denkmäler gebrechlicher Menschen, welche vielleicht aus Geiz nicht einmal vollendet worden, und die Plünderung der Stiftungen der Väter, denn wer Gottes Willen nicht achtet, wie sollte der den Willen verstorbener Menschen ehren, wie sollte der, welcher ans ewige Leben nicht glaubt, die Seelen frommer Eltern schonen? Der kann nichts als an ihrem Willen klügeln, bis er das Geld hat, der dünkt sich groß, wenn er den eigenen Bauch füllt mit dem, was für eine unabsehbare Reihe von Geschlechtern bestimmt war. Unsere Enkel haben einst das volle Recht, uns unter das Geschlecht der Mäuse zu zählen, die natürliche Feinde aller Vorräte sind, sie verzehren und zum Beweis, daß sie dagewesen, nichts hinterlassen als leere Hülsen und unappetitlichen Unrat.
Der Mutter war es aber noch mehr bange dabei als Gretli, sie fürchtete, die Gotte möchte den Augenblick benutzen, um dem Meitschi Versprechungen abzunehmen, welche nicht heilsam wären. Aber wie es auch den Willen der Sterbenden ehrte, so meinte es doch nicht, daß derselbe die Freiheit der Lebenden binden und über ihre Personen verfügen dürfe, daß zum Beispiel Eltern Kindern das Versprechen abnehmen dürften, die oder jene zu heiraten, oder sterbende Weiber ihren Männern, keine zweite Frau zu nehmen; das sind bedenkliche, sündliche Eingriffe, welche nur Beängstigungen der Gewissen zur Folge haben. Über fremden Willen verfügen ist ganz was anderes als das Verfügen über das eigene Gut. Den Unterschied machte Lisi. Wenn ihn alle zu machen imstande wären, so wären viele Hände sauberer und in manchem Haushalt der Segen größer; es ist halt den größten Weisheiten nicht immer gegeben, die rechten Schranken zu ziehen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, sondern der G'lust und die Gier sind die beiden Augen, durch welche sie die Welt ansehen, und G'lust und Gier sehen keine Schranken. Zwischen diesen Weisheiten und den gemeinen Räubern ist bloß der Unterschied, daß diese ganz einfach und ohne Komplimente zugreifen, jene aber erst ein schönes System ausspinnen, dasselbe auf eine Idee gründen, auf Staatskosten drucken lassen, dann systematisch anpacken; ist's einmal angepackt, dann fällt der Unterschied weg, und bei beiden trittet das gleiche Verfahren ein: jeder frißt, soviel er mag und kriegen kann, ohne alle Komplimente und Affektation, vide Exempel an den Mißhandlungen frommer Stiftungen, die zur Mast von Staatsbeamteten gebraucht und geschändet wurden.
Lisi sagte zu Gretli, als dasselbe gehen wollte: »Bleib nicht zu lange, der Gotte schlägt viel reden übel an. Wenn sie dich heißt, bald wiederkommen, so kannst es verheißen, aber mehr nicht. Mutet sie dir mehr an, so behalte uns vor!« »Was, Mutter, was könnte sie mir anmuten?« frug Gretli neugierig, daß das Näschen wuchs und ganz spitz wurde. »Weiß es nicht«, sagte Lisi, »aber mach's, wie ich es dir sage!« »Was, o Mutter, was? Sag es mir doch recht!« rief Gretli und verspritzte fast vor G'wunder. »Sagte es dir nicht, wenn ich es schon wüßte«, antwortete Lisi. »Jetzt schweig und geh und bleib nicht zu lange!« Gretli schickte noch einen langen Blick auf der Mutter Gesicht, dann machte es, daß es fortkam, von wegen es kannte der Mutter Gesicht und wußte ganz gut, wenn's an der Zeit war, das Maul zu halten und ans Befohlene zu gehen.
Es war ein milder, schöner Abend, die Ernte nahte der Reife, die Bäume füllten sich mit Obst, die Pflanzungen aller Art glänzten in üppigem Grün, aus dem die gelben Kornäcker, aristokratisch sich abhoben. Gretli sinnete sich fast sturm, was ihm die Gotte wohl anmuten könnte. Etwa, daß es hinunterkäme, die Haushaltung zu machen? »Nein, nit mit vier Rossen brächte man mich da hinunter«, dachte Gretli, »da braucht die Mutter nicht Kummer zu haben, daß ich was so Dummes verspreche; sie meint doch auch immer noch, wie dumm ich sei!« Es wollte sich das Ding da unten so recht aschgrau denken, so recht grüselig und schauderhaft, daß sich ein Büffel oder ein Tigertier darob erschüttet hätte. Plötzlich stellte Gretli (wen, mag der Leser oder besser die Leserin erraten) mitten ins Gemälde – den Benz, stellte ihn vors Haus und hinters Haus, in den Stall, hinter den Pflug, kurz, allenthalben war Benz. Auf einmal erhielt das Gemälde stufenweise eine veränderte Färbung. Es war anfangs zehnmal höllischer als die ägyptische Finsternis, aber seit Benz mittendarin stund, ward es lichter, heller, ein weicher Duft ergoß sich darüber, reizende Aussichten öffneten sich, und muntere Amseln wiegten sich auf den Sträuchen und schienen zu pfeifen lockend und süß, kurz, es ward ganz anders, ganz das Gegenteil von anfangs.
Als es in die Marchen des Hunghafens kam, sagte es zu sich: »Wenn ich da zu befehlen hätte, so müßt im Winter der Bäumputzer herbei; es hat kei Gattig doch, wie die Bäume aussehen, es ist gerade, als ob niemand da daheim sei. Wie die doch schlechte Erdäpfel haben, grasig, pfytusig! Aber so geht es, wenn man das Land anfangs schlecht arbeitet und es nicht gehörig säubern mag, man muß dann das ganze Jahr daran sein, wenn es nicht aussehen soll wie eine Heide. Du mein Gott, wie sieht der Kabisplätz aus! Der sollte längst abgeblättert sein. Ich glaube nicht, daß der einmal b'schüttet worden ist. Nein aber, kann man doch und schämt sich nicht! Da kann man sehen, wie es kömmt, wenn niemand da ist, der es versteht, dem es was daran gelegen ist. Die Mägde sollten sich schämen, aber was fragen die dem darnach, wenn die nur haben, was sie gelüstet, was fragen sie dem andern nach! Nein, da ist es Zeit, daß jemand dazu sieht; wenn es noch ein Jahr oder zwei so geht, so trägt der ganze Hof in Gottes Namen nichts mehr ab. Gleich morgen müßte es mir an den Kabis hin, wenn ich da was zu befehlen hätte, es wäre dazu noch ein gar gutes Zeichen.« So kalkulierte Gretli und konnte sich kaum enthalten, in den Bohnenplätz zu treten und einige schiefstehende Stecken aufzurichten und festzustecken. Das müßte ihm auch alsbald sein, dachte es. Es stehe einem Hause nichts schlechter an, als wenn krumm sei, was grad sein sollte, die Bohnenstecken nach allen Himmelsgegenden herumgabelten, als wenn sie alle Welt um Hülfe anschreien wollten.
In dieser Gedankenfülle kam es zum Hause, merkte es kaum und erschrak, als es ung'sinnet in der Mitte der Bevölkerung des Hunghafens sich befand. Besonders freundlichen Empfanges konnte Gretli sich nicht rühmen, die Opposition der beiden Häuser ließ man Gretli fühlen und namentlich das Mißtrauen, es werde von da oben her übel auf die Hunghafen Bäurin eingewirkt. Man machte Gretli Gesichter, ungefähr wie man sie in einem radikalen Klub einem Konservativen macht, der unglücklicherweise in denselben gerät. Und wie selbst dessen beste Bekannte sich seiner schämen, die verlegensten Gesichter machen, nicht wissen, sollen sie ihn kennen, endlich zehn Schritte von ihm sich aufstellen und die Hand zu reichen versuchen, dann alsbald in der Menge spurlos verschwinden, doch ohne Gestank, so machte es Benz dem armen Meitschi, während der junge Hans mit allerlei höhnenden, halbverblümten Redensarten, in welchen die Sorte seiner Bildung sichtbar war, das arme Mädchen verhöhnte. Nun, das meinte nicht, daß es dastehen und warten müsse, bis Hans fertig sei; es machte sich dem Stübli zu, wo die Gotte sein sollte.
Die Gotte war unwirschen Gemütes. Der Arzt, dem Lisi hatte Bescheid werden lassen, war dagewesen. Es sei gut, hatte der alte Hans gesagt unwillig, komme der Dolders Waschli, er könne jetzt selbst sehen, wieviel die Badefahrt genützt habe. Er wartete diesmal dem Arzte, und als der ganz höflich sagte: er habe gehört, die Frau Amtsrichterin sei schon heim, da habe er sehen wollen, wie das Bad ihr zugeschlagen, hieß er ihn hereinkommen, er werde dann am besten urteilen können, ob es die Kosten abgetragen. Das kitzelte den Doktor, der in solchen Dingen eben nicht Spaß verstund, während Hans große Freude hatte, ihm was anzuhängen, da derselbe ein Konservativer war. Derselbe sah auch alsbald, daß die Krankheit bedeutende Fortschritte gemacht und kaum irgendeine Hoffnung mehr vorhanden sei. Indessen wollte er doch aus Ärgernis nicht aller Hoffnung entsagen, sondern machte gute Miene zum bösen Spiel, tröstete Gritli mit guten Worten, sprach von neuen Versuchen, welche er anstellen wolle, und wenn das anschlage, so sei die Sache gewonnen. Gritli sog diese neuen Hoffnungsstrahlen begierig ein, frug des näheren nach den neuen Mitteln, während Hans unverhohlen sagte, er hülfe warten mit was Neuem, bis man wisse, was das Bad vielleicht noch mache. Er habe immer gehört, die rechte Wirkung komme erst hintendrein, entweder den Weg oder diesen Weg, entweder komme man z'weg, oder es nehme die Leute wie die Fliegen. Das hülf er abwarten, jetzt könne man ja noch nichts wissen, Kosten könne man machen, aber er habe noch nie gehört, daß man mit den Kosten was zwinge. Das sei auch nicht sein Brauch, sagte der Arzt. Man habe Exempel genug vor Augen, daß dest schlechter einer fuhrwerke, desto mehr es ihn koste. Das wundere ihn nichts, denn zu brauchen und zu sparen, daß es gut komme, mangle es Verstand, und den hätte man nicht an allen Orten. Er sage, was er gut glaube, daneben habe man immer die Wahl, es zu machen oder nicht, er müsse sich das gefallen lassen. Nun, sagte Hans, diesmal hülfe er Verstand brauchen und acht Tage warten und sehen, wie das Bad anschlage; sehe man dann, daß noch etwas nötig sei, so könne man ihm Bescheid machen. Das sei ihm ganz das Rechte, sagte der Doktor und protzte auf, nachdem er noch einmal den Puls gegriffen. Hans wollte ihn noch zu einem Glas Wein nötigen und war sehr höflich, aber umsonst. Der Doktor machte, daß er fortkam, und so weit er ihn sehen konnte, zäpfelte Hans ihm nach. Den habe er doch Dolders schön fortgebräukt, sagte er.
Das alles hatte Gritli mit angehört und war dadurch tief beelendet worden. »Ja, ja«, sagte es, »acht Tage luegen, ob ich nicht sterbe! Ein Kreuzer reute ihn für mich, und z'Kronen versauft er das Geld. Acht Tage dasein und reblen und keinen Zeug haben, wo eim hilft und erleichtert. Ja, acht Tag nichts haben sollen, in der Zeit ist viel möglich. Und gesetzt, es hulf nicht viel, und das ist noch lange nicht gesagt, so könnte man doch Hoffnung haben dabei, und es geht aus meiner Sach so gut als aus seiner. Er fragt auch nicht, wem das Geld sei, wo er versauft. Es ist bei ihm nicht wie bei Kabis Christeli, wo der Frau gesagt hat: ›Frau, schweig und begehr nicht mit mir auf, ich bin ja nicht imstande, meine Sache zu versaufen, geschweige dann deine.‹ Und was er nicht verputzen mag, verputzt der Jung, und keiner sagt von acht Tag warten. Was jeden ankömmt, macht er, und ich allein soll warten und der Sündenbock sein. Da hab ich wieder ein Müsterchen, wie lieb ich bin und wie gerne sie mich aus den Augen hätten. Vergeben werden sie mir nicht vo wegem Henken, obschon es noch die Frage wäre, ob bei dieser Hudelordnung solchen Großgringe etwas geschehen würde. Aber mich verrebeln zu lassen, selb werden sie im Sinne haben.« So fuhr es dem armen Gritli im Kopf herum, als Gretli kam, so klagte und jammerte es, und aus diesem Kreise heraus drangen seine Gedanken nicht. Keinen Zeug haben, acht Tage warten, Verstand brauchen, unnütz Kosten sparen, das waren die Noten, über welche es dachte und sprach und was Gretli der Mutter berichten sollte.
Von Gretli war keine Rede, an seinen frühern Plan dachte Gritli nicht, nicht einmal an die Haushaltung, seine Interessen hatten sich in die Schranken seiner Person zurückgezogen; alles, was es Gretli aufzutragen hatte, war, daß ja doch recht bald seine Mutter hinunterkommen möchte. Sie sei der einzige Mensch, den Hans fürchte und der ihm Verstand machen könne.
Auf dem Heimwege betrachtete Gretli Kabis und Bohnen mit viel geringerem Interesse als auf dem Herwege, und am Gabeln der Bohnenstecken nahm es kein Ärgernis mehr, desto mehr an den Bewohnern, besonders an Benz. Der hätte getan, als verschäme er sich seiner, der könne ihm jetzt lange warten, bis es ihm ein gutes Wort mehr gebe. Jawolle, der hätte nicht Ursache dazu und sollte froh sein, wenn man seiner sich nicht schäme; Leute aus einem Hause, wo es gehe wie im Hunghafen, hätte man nicht besonders Ursache zu ästimieren.
»Aber Mutter, was sollte ich der Gotte nicht versprechen?« war das erste Wort von Gretli, als es heimkam. »Sie hat nichts gesagt, als du sollest hinunterkommen, du allein könnest dem Vetter Verstand machen.« »Das ist mir z'wider«, sagte Lisi, »einstweilen gehe ich nicht, mag doch wirklich nicht den Böllimann machen da unten und d's Ung'hür, so sehr mich das arme Gritli erbarmet. Das macht es jetzt nicht mehr lang, aber es muß doch dann alles zusammenkommen, um es zu quälen und ihm das Leben zu verkürzen. Es wird so sein sollen, aber traurig ist's. D'Ruh ist ihm z'gönne, aber mich hält es hart, ich werde mein Lebtag Längizyti nach meinem Gritli haben.« »Aber Mutter, was sollte ich nicht versprechen?« frug Gretli, durch der Mutter Tränen unbewegt, denn die Neugierde war diesmal zuvorderst und ließ das Mitleiden nicht aufkommen. »Bist das wüstest Meitschi auf dem Erdboden«, fuhr Lisi auf, »wärest was wert, würdest um d'Gotte pläre statt z'g'wundere nach Sachen, welche dich nichts angehen.«
Gretli schwieg, es wußte zu gut, daß in solchen Augenblicken die Mutter das Räsonieren nicht vertrug, aber das Herz hatte es voll, es lief ihm über. So einen bösen Tag, dachte es, habe es doch kaum noch gehabt sein Lebtag. Böse Worte und saure Augen müsse es allerwärts abtun und vermöge sich doch dessen nicht. Keinem Menschen habe es eine Unantwort gegeben, alles ausgerichtet, was man ihns geheißen, und nirgends komme es recht, allenthalben hässele man's an. Nicht einmal fragen dürfe es; sage es ein Wort, süfere die Mutter es ab wie einen Hund, der ob dem Fleisch gewesen. Nein, so wolle es nicht mehr dabeisein, so erleide ihm das Leben; wenn es nur für die Gotte sterben könnte, so wär es beiden geholfen; sie lebe so gerne, und ihm sei's, wenn es nur den Leuten aus den Augen wäre, es haßten ihns ja alle. Das gute Gretli erfuhr es jetzt auch, wie kommod es für den Menschen ist, daß der liebe Gott nicht alle Wünsche und Seufzer erhört, welche empor vor seine Ohren kommen, wenn er mit väterlicher Milde überhört, was aus torrechten Gemütern kömmt, was in gereizten Stimmungen der Mensch hinauf gen Himmel wirft.
Mit dem armen Gritli ging's nun rasch zu Ende; es war ein Licht, das, dem Erlöschen nahe, unstet flackert. Gritlis fixer Gedanke war, es würde leben, wenn ein Arzt käme und hülfe. Das mußte sich Hans auch gefallen lassen, ehe die acht Tage Probezeit zu Ende waren.
Wie üblich, wenn jemand krank ist, kam viel Besuch von Bekannten und Verwandten, auch von armen Leuten, welche sagten, wenn sie nur noch einmal zu der Frau könnten, und von denen einige imstande waren, zu weinen und zu schreien ganz schrecklich, wie es ihnen übel gehe, wenn die Frau dahintenbleiben sollte, weit und breit pläre alles. Die guten Leute würden viel zu rar im Lande, es seien bald keine mehr. Es dünke die Leute immer, wenn es dem lieben Gott so recht an den armen Menschen gelegen wäre, wie es eigentlich sein sollte, so würde er die Bösen aus der Welt nehmen und nicht die Guten. Die letzten würden ihm besser gefallen, man habe nichts darwider, aber er sollte an andere Leute auch denken. Schließlich baten dann solche Leute, es solle doch an sie denken, sie würden es auch nicht vergessen, und wenn es müßte gestorben sein, so sollte es doch seinen Leuten befehlen, daß sie ihnen auch von den Kleidern geben sollten, etwas, das man brauchen könne, und nicht so ein G'hudel, wo man nichts damit anzufangen wisse. Es gehe oft bei solchen Gelegenheiten gar grusam ungerecht zu.
Doch nicht bloß solche Leute redeten auf diese Weise, sondern Verwandte, welche mehr Verstand haben sollten, sprachen von grusam schlecht Aussehen, bald Sterben, und wenn Hans dabei war, was aber selten geschah, so sagte er wohl: »Ja, ja, das ist die Besserung von der Badefahrt, das hat sie geholfen. He nun, an der kann man mir doch wenigstens nicht schuld geben; ich hab's gesagt, wie es kömmt.«
Man hätte glauben sollen, das würde eine besonders schlechte Wirkung auf Gritli haben, aber man würde sich geirrt haben. Bei all diesem Gerede blieb Gritli kaltblütig, es glaubte nicht daran, es sagte, es fühle am besten, wie es ihm sei, und man solle sich nicht umsonst freuen. Es sei wohl grusam matt in den Gliedern, aber das sei nur von der Reise, ums Herz sei es noch ganz gesund. Wenn es einmal gehörig ausgeruht und der Doktor mit gutem Zeug nachhelfe, so hoffe es, noch die Schuld an mancher langen Nase zu sein. Im Bade hätten alle b'richtet, wie das Bad angreife, und wer am meisten angegriffen werde, an dem wirke es am besten, und habe man es das erstemal ausgehalten, so sei die Sache gewonnen, und wenn man im nächsten Jahr wiederkomme, so fühle man erst recht, was das Bad könne und wie b'sunderbar gut es sei. Die Hauptsache sei bloß die, daß man es aushalten möge; wer es aushalten möge, werde steinalt, so sprach Gritli in gläubigem Vertrauen. Und wirklich schien sein Glaube sich zu bewähren, der Husten wurde milder, die Nächte ruhiger, Fieber war kaum merklich, und selbst aus dem Geiste schien die Reizbarkeit zu schwinden.
Lisi hatte gezögert zu kommen. Es war ihm sehr peinlich, so gleichsam als eine Exekutionsmacht von Zeit zu Zeit in ein fremd Haus zu fallen, da aufzubegehren und zu regieren. Indessen ward am Ende das Gewissen mächtig. »Ich traue nicht«, sagte Lisi, »gäb wie man sagt, es bessere, und wenn es sterben sollte, ehe ich unten gewesen, ich hätte keine ruhige Stunde mehr, und ich möchte nicht, daß, weil ich sein Verlangen nicht erfüllt, Gritli es büßen und sich mir künden müßte.«
»Kommst endlich«, sagte Gritli. »Hast warten und das Kommen auf mein Begräbnis sparen wollen? Aber da hättest du dich verrechnen können, von wegen ich glaube, jetzt sei die Sache gewonnen. Es ist mir b'sunderbar wohl, lang nie so. Der Doktor war da, ich ließ ihm befehlen zu kommen, und er hat es selbst sagen müssen, er glaube, es sei nicht viel mehr nötig, nur so was weniges, um nachzuhelfen.« Lisi bekam Augenwasser, als Gritli ihm so sprach, so blaß dasaß und den Atem zu leisem, mattem Reden nur mühsam herbeibrachte. Die Leute, fuhr Gritli fort, hätten ihm angst machen, ja, einige hätten schon erben wollen bei lebendigem Leibe, aber es habe gedacht: »Redet nur, ich weiß am besten, wie es mir ist.« Nun erzählte es Lisi, wie es ihns freue, noch länger zu leben, es müsse ihm dann anders gehen. Es glaube, es könne vielleicht auch gefehlt und manchmal d'Sach zu schwer oder zu bös aufgenommen haben. Es glaube, wenn es mit Liebe probiert, es hätte viel zwängen können. Aber es hätt's ihm früher nit gegeben, nit daß es nit o dra g'sinnet hätt. Jetzt sei es ihm ganz anders, es sei fry ein anderer Mensch geworden, und es dünke ihns, die andern auch; alle seien so gut gegen ihns, b'sunderbar der Mann. Lisi solle doch denken, der sei heute seinetwegen daheim geblieben, und es sei doch Amtsgericht. Am Morgen früh habe es ihm nur ein Wörtlein gesagt, es freute ihns so, wenn er daheim bliebe, man wisse nie, was es geben könnte, und auf der Stelle hätte er Hans abgeschickt, dem Sublianten zu bieten, daß er gehe, und den ganzen Tag sei er daheim und habe ihm keine saure Miene gemacht und kein bös Wörtli gegeben. Hans sei aber noch nicht heim, es dünke ihns, wenn nur der auch da wäre, es möchte so gerne mit ihm reden und ihm sagen, wie es fürohin gehen müsse. Er tue manchmal wohl wüst, und das Herz sei ihm manchmal fast darob gebrochen, aber ein gut Herz habe er doch, und wenn es ihn mit Liebe nehme, so werde das auch gehen, b'sunderbar wenn der Vater auch helfe und ihm das Beispiel gebe. Er sei ein Bubi gewesen, ein schöneres und besseres sei noch nicht auf die Welt gekommen, akkurat wie ein Engeli sei er gewesen. Es zweifle nicht daran, der werde auch anders, man habe ja viele Beispiele, daß gerade solche, wenn ihre Zeit zum Wüsttun um sei, die berühmtesten und besten Männer gegeben.
Es war eine Milde, wir wollen nicht sagen Verklärung in Gritlis Wesen, daß Lisis Augen beständig naß waren, so sehr es auch dagegen sich sträubte und es zu verbergen suchte.
Als Hans kam, leuchtete das blasse Gritli vor Freude und war so freundlich und glücklich, daß es fast war, als sei es Braut, jung und glühe in der ersten Liebe. Hans fühlte dies auch augenscheinlich, so sehr er es zu verbergen strebte, denn er schämte sich der bessern Gefühle; wenn der Regieriger sie gesehen, hätte derselbe ihn famos ausgelacht. Lisi sah es, aber es hütete sich wohl, etwas merken zu lassen oder auf irgendeine Weise die wunderbare Stimmung zu stören, gab sich derselben selbst hin. Es wußte wohl, es sah Gritli zum letztenmal lebendig auf Erden; es fürchtete, man merke dies ihm an, fürchtete, durch seine Wehmut zu stören oder das eigene Herz zu versprengen durch Unterdrückung derselben, sehnte sich nach einem einsamen Plätzchen in einem Wäldchen oder einem Zaun, um sich so recht von Herzen auszuweinen. Dagegen aber tat ihm dieses Wesen von Gritli so wohl, dieses Auftauchen vergangener Herrlichkeit, der jugendlichen Liebenswürdigkeit, wo Gritli an Hanse Liebe so wohl lebte und allenthalben eine holde Erscheinung war. Wie man von einem reinen, wolkenlosen Untergang der Sonne sich nicht trennen kann, bis der letzte Schimmer verglommen ist und die Berge blaß geworden und über die Täler schauen wie ungeheuere Riesenleichen und das Herz so voll ist von Wonne über die Herrlichkeit der Erde und so voll ist von Wehmut über die Vergänglichkeit dessen, was so schön und lieblich ist auf Erden, so war es Lisi.
Endlich sah man den jungen Hans in der Ferne. Lisi meinte, trotz der Ferne, ihn angetrunken, aber Gritli freute sich, daß er so früh schon komme, noch tags, und war er am Morgen früh fortgegangen und hätte leicht in zwei Stunden heim sein können! Da duldete es ihns nicht mehr, es wollte nicht Ärger fassen, nicht den Abend und das Scheiden sich vergiften lassen. »So leb wohl!« sagte Gritli, »ich will dich nicht pressieren, dazubleiben. Ich weiß, du bist immer ein Ängstliches, meinst, es gehe nicht, wenn du nicht dabeiseiest. Aber warte nur, es wird dir auch noch die Zeit kommen, wo du es gelassener nimmst und andern auch was vertrauen kannst. Wart nicht so lang, komm bald wieder! Sobald ich wieder z'weg bin, komme ich zu euch, es blanget mich recht sehr, einmal einen halben Tag bei dir zu sitzen und dich zu versäumen. Grüß mir sie alle, und Gretli soll mir nicht zürnen; als es da war, war ich bös z'weg und nicht freundlich, es soll bald wiederkommen, da will ich gutmachen.«
Es wollte Lisi fast versprengen, es brauchte alle Gewalt, welche es über sich hatte, um lautes Weinen zu unterdrücken. Glücklicherweise war die Aufmerksamkeit von Gritli bei dem nahenden Hans, es merkte daher Lisis Bewegung nicht. Lisi mied das Begegnen des jungen Hans, ging zur hintern Türe aus, ums Haus herum, setzte sich hinterm Ofenhaus, weiter brachte es es nicht, und weinte bitterlich. Es weinte über Gritlis Tod, denn ihm war es jetzt bereits gestorben; es weinte im ersten Schmerz über das Schreckliche von Gritlis Täuschung, wie ihm da in der Mitte von blühenden Hoffnungen der blasse Tod sitze und unerwartet es überfallen werde gleich einer Schlange, auf die ein arglos Wandernder getreten. Doch allgemach verschwand Lisi der anfangs so grauenvolle Schein, und es sah den seltsamen Zustand wohl mit tiefer Wehmut an, doch in anderm Lichte. »Oh«, dachte es erst, »warum jetzt noch am letzten Tage diese Veränderung der Stimmung, dieses friedliche, versöhnliche Wesen? Oh, wenn Gritli so gewesen in der letzten Zeit, wieviel wäre anders, und wie manche Qual und wie manche Versündigung wäre nicht zwischen ihnen! Und jetzt am letzten Tage zeigt ihnen Gott zur Strafe: ›Seht, wäret ihr so gewesen, so wäre es anders; hättet ihr einander getragen in Liebe und eins dem andern zu Gefallen gelebt, so wären die tausend und abermal tausend verlebten bittern Tage nicht, wäre der zerrüttete Wohlstand nicht, am Rande des Abgrundes schwebten die Kinder nicht. Jetzt, wenn es so bliebe, könnte es gut kommen, aber wolltet ihr nicht, als ich wollte, so soll es jetzt auch nicht sein – vorbei ist die gelegene Zeit! Der Tag ward euch gegeben als eine Strafe, damit ihr wisset, wie ich es gewollt, wie ihr es aber anders gewollt, und wenn der Tag vorbei ist, wenn ihr gekostet habt, was ihr so mutwillig verscherzt habt, so müßt ihr auseinander, müßt als Pein den Geschmack dieses Tages hinübernehmen in die Ewigkeit; es ist der Wurm, der da lebendig wird und nicht stirbt und euch predigt Tag und Nacht, wie ihr es hättet haben können und wie ihr es nicht hattet haben wollen.‹«
Das machte Lisi unendlich traurig im Gemüte, und durch Leute, welche ums Ofenhaus herumstrichen, verstört, ging es schwer und langsam heimwärts. Der Berg schien ihm noch einmal so steil; kaum war es zur Hälfte oben, mußte es absitzen auf einen Stock, den Überrest einer alten Buche an eines kleinen Wäldchens Rande. Zu seinen Füßen hin lief der Graben oder das kleine Tal, in welchem der Hunghafen war, es mündete vor seinen Augen ins breite Haupttal, und drüberweg sah man in weiter Ferne die lange blaue Wiege, in welche des Abends die Sonne zu Bette geht, den Jura. Es war ein düsterer Tag gewesen, dem die Sonne gefehlt, Wolken den Himmel verhüllt hatten. Nun zog sich weithin über den blauen Berg ein heller Streif wolkenfrei. Unbemerkt nahte sich die Sonne der wolkenlosen Bahn, und diese erglänzte in lichter Freude, ehe noch die Sonne sichtbar war. Als diese nun selbst kam in ihrer stillen Majestät, ergoß sie ihr rosig Licht in reicher Fülle über die Erde, und diese erglühte wie eine Braut, wenn des Bräutigams in Liebe getauchtes Auge in ihr Auge strahlt. In stummer Freude glänzten Berge und Täler, funkelte das Wasser auf den Wiesen, die Fenster in den Häusern; doch nur eine kleine Weile, denn weiter ging die Sonne, stieg nieder hinter die blaue Wand, noch eine Weile Strahlen spendend, Berge rötend. Und als die Strahlen verglüht waren auf Erden, lichtete sich nach und nach die Wolkendecke, die Dünste schwanden, der Himmel tat sich auf, ein Stern nach dem andern trat aus seiner Kammer; bald strahlte der offene Himmel in voller Sternenpracht.
Wunderbar, unmittelbar, ohne daß Lisi sich dessen bewußt war, strahlte, was draußen vorging, ihm in seiner Seele wider. Es war ihm still geworden im Gemüte, die Tränen hatten aufgehört, die Traurigkeit war milder geworden, klarere Gedanken traten vor seine Seele aus dem geheimnisvollen Schoße, wo der Geist Gedanken zeuget und sie emporsendet ins Bewußtsein des Menschen. »Nein«, dachte es, »so wird es Gott doch wohl nicht geordnet haben, nein, glauben will ich das nicht, Gott ist ja barmherzig, will ja nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre; noch am Kreuze verhieß der Heiland das Paradies dem armen Schächer, und nach der Sündflut richtete er den Regenbogen auf, und war dieser Tag vielleicht nicht Gritlis Regenbogen, das Zeichen der Gnade, dieweil es schwer gebüßt, was es verfehlt und nicht alles durch eigene Schuld, sein Leiden jetzt zu Ende und sein Gott mit ihm zufrieden sei? Sandte eben nicht deswegen Gott seinen Frieden über ihns, und weil es für diesen Frieden empfänglich war und weil es in diesem Frieden so glücklich war, war ihm das nicht eben auch das Zeichen, daß Gritlis Seele geläutert sei im Leiden und bereit für des Himmels Frieden, so wie die Seele des Schächers z'weg sich zeigte durch den Glauben an den Heiland, den der Schächer am Kreuz bekannte, während alle seiner spotteten? Wie glücklich war Gritli in diesem Frieden und sein Gemüt ganz aufgeheitert, daß es ein rechtes Gnadenwunder scheint! Unser Herrgott hat ihm diesen Frieden nicht aufgehen lassen so gleichsam aus Bosheit, um ihm zu zeigen, wie süß der Frieden wäre, und ihns dann um so besser peinigen zu können mit höllischer Qual; das tut Gott an einem armen Fraueli, das es eigentlich gut gemeint, aber d'Sach übel verstanden, nicht, das war gut für e Tüfel, aber nit für ihn. Nein, Gott hat ihm zeigen wollen, daß die Zeit vom Leiden vorbei sei und jetzt ein ander Leben anfange. Nit umsonst hat Gritli so gläubige Hoffnung zum Leben. Unser Pfarrer, wo mich unterwiesen hat, sagte immer, das ewige Leben müsse hier schon anfangen, nicht erst jenseits. Nun fühlte es Gritli, daß es es ergriffen, daß es das rechte Leben hätte, und freute sich so darob; nur verstund es es nicht recht, und wenn es ihms jemand recht ausdeutschen gewollt, es wäre imstande gewesen, darüber zu weinen in seiner Einfalt. Gott wird es ihm aufheitern wollen nach und nach, bis der Himmel ganz offen ist, alle Sterne scheinen und die rechte Sonne kömmt. Und wer weiß, was das für Hans für eine Bedeutung hat? Allweg vergißt er das nicht; wer weiß, ob der letzte Tag ihn nicht vorume wehrt!«
In diesen Gedanken kam es ung'sinnet vor das Haus, wo man seiner mit Bangen wartete und eben die Laterne rüstete, um ihm entgegenzugehen, jetzt alles mit offenem Munde seines Berichtes harrte, Gretli der Mutter Essen und Trinken auf den Tisch schaffte mit flüchtigen Beinen, um ja fertig zu sein, wenn die Mutter verschnauft, damit es vom Bericht kein Wort verliere. Lisi wehrte zwar und sagte, es möge keinen Bissen, aber das half nichts, hier mußte es gehorchen; es war Hausregel, daß in gesunden Tagen nichts so ungesund sei, als nüchtern zu Bette zu gehen – begreiflich vom Essen verstanden, nicht vom Trinken. Lisi nahm sich Zeit zum Bericht, erzählte, wie es es unten angetroffen, wie es ihm geworden und was es gedacht. Sie horchten da auf wie selten in einer Predigt, und was sie hörten, machte auf alle einen tiefen Eindruck, und da war niemand, weder Knecht noch Magd, denn Lisi hatte alle bleiben heißen, welcher nicht sehr andächtig zu Bette ging und daran dachte, er wollte, er bekäme so den Anfang des ewigen Lebens wie Gritli, damit er der Gnade gewiß sei. Länger b'richteten Benz und Lisi zusammen, durchgingen ihren Lebenslauf und dankten Gott, daß ihnen nicht erst der letzte irdische Tag als Zeugnis gegeben worden, daß sie des ewigen Lebens gewiß seien.