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Als Benz hinunterkam, dämmerte es schon stark, sein Kommen wurde nicht bemerkt. In der Küche wurde er in die hintere Stube gewiesen. Es war finster darin, er sah niemanden, bis eine tonlose Stimme ihm guten Abend bot samt der Hand. Benz fand einen gebrochenen Mann, der es aber nicht scheinen wollte.
Hans gab langsam, kurz, tonlos Bescheid auf Benzen Fragen, erzählte einiges ungefragt, seufzte zwischendurch verdrückt, suchte auch abzulenken, frug, sie würden droben auch viel Schnee gehabt haben. Benz merkte den unnatürlichen Zustand wohl, wußte aber nicht recht, wie anfangen mit dem Troste. Als Licht kam, sah er, wie die Tränen dem Amtsrichter über die Backen quollen, sah, wie es von Zeit zu Zeit den ganzen Körper schüttelte als wie im stärksten Fieber. Als er wieder alleine mit Hans war, sagte er: »Höre, Hans, du bist nicht z'weg, dir fehlt auch, es schüttet dich ja, als ob du das Fieber hättest. Kann ich dir helfen irgendwie? Du weißt, wir sind in einem Taufwasser gewaschen, waren viele Jahre durch wie Brüder; was einem weh tat, machte dem andern nicht wohl bis ... Nun, was dahinten ist, ist dahinten, da wollen wir es bleiben lassen, aber wenn du mich zu brauchen weißt oder ich dir helfen kann, so red! Du weißt, wieviel wir zusammen abgeraten und wie manchen Weg wir zusammen gingen, und solange wir es taten, ging's nicht übel, und wenn du noch Vertrauen haben kannst zu mir, der Alte wäre ich noch immer, und mein Wille wär's, wenn es wieder mit uns würde wie ehemals.«
»O Benz«, antwortete Hans, »du bist der Alte, ich weiß es wohl, aber hier ist's anders, hier kannst mir nicht helfen.« »Ja«, sagte Benz, »Tote lebendig machen, das kann ich nicht, das kann eben nur einer. Ich kann es mir denken, wie hart es dich ankömmt, daß Hans gestorben; wenn eins meiner Kinder sterben sollte, es hielte mich auch hart, ich würde es nie vergessen, und im ersten Augenblick wäre es mir wohl, als seien mir alle gestorben. Aber dann würde ich mich doch zu fassen suchen, würde mir vorsagen, bis ich mich drein schicken könnte: ›Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobt!‹« »Du hättest recht«, antwortete Hans, »wenn das Kind dir der Herr genommen, aber mach's, wenn du es getötet, und wer hat meinen Hans getötet als ich selbst? O Hans, mein Hans!«, und damit legte er den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich, daß es ihn schüttete über und über, und wie er sich zwingen wollte, dem Anfall wurde er nicht Meister.
Benz tröstete, er solle sich nicht solche Gedanken machen, es sei nicht recht. Öppe fehle tue man an allen Kindern, aber Hans sei groß gewesen, in dem Alter könne man nicht alles mehr an ihnen zwängen. Ihm unwissend sei er ja fort, und wenn er daheim gewesen, so sei es die Frage, ob er ihn hätte abhalten können, und wenn er daheim geblieben, hätte er die Krankheit ja auch bekommen können. So redete Benz lange fort, um zu trösten, ohne daß er eine Antwort bekam.
Endlich hatte Hans sich gefaßt. »Gib dir nicht Mühe!« sagte Hans, »du redst nicht ganz, wie du denkst, ich höre es deiner Stimme an. Du weißt nicht, was ich die Tage über ausgestanden habe; wohl, da ist es mit mir z'Bode gange, und Gott hat mich behütet, daß ich nicht noch ein größer Unglück angestellt. Es war nicht, daß mir nicht zuweilen die Sonne in die Augen geschienen, aber ich blinzte, drückte sie zu, zwängte mich zum Glauben, wenn auch nicht alles gut sei, so komme doch alles gut. Aber jetzt, wohl, jetzt sprengte es mir die Augen auf, ich konnte sie Tag und Nacht nicht mehr zubringen. Hans war der lüstigst und listigst Bub, den man sehen wollte; man hatte ihn nur zu lieb und ließ ihm zu viel nach. Wenn dann der Verstand komme, sei er listig genug zu sehen, was sein Vorteil sei, war uns beider Meinung. Zu sehr strengte man ihn nie an, er konnte tun, was er gerne wollte, dazu und davon, wie es ihm anständig war. Alle Leute rühmten ihn uns, das gebe einmal einer, wie in mancher Gemeinde keiner sei, sagten sie, und ach, wir glaubten es, so schien es, denn allenthalben ward er vorgezogen, überall war er d'r Däche. Da kam die neue Zeit. O Benz, wenn man immer alles wüßte und immer den Rechten glaubte! Aber was will man, und wer ist nicht schon betrogen worden! Es war gewiß nicht, daß ich es nicht gut meinte, daß ich nicht an das ganze Land dachte und dachte, ich helfe für seinen Nutzen sorgen. Die Männer redeten so gut und bündig, das, was sie sagten, war, wie zweimal zwei macht vier. Sie meinten es so gut mit mir und stellten sich als Freunde, daß ich glauben mußte, sie meinten es gut. Du glaubst auch nicht, wie kurzweilig der erste Regieriger war und wieviel man bei ihm lernen konnte; es war, als ob er die Leute an sich bannen könnte. Daheim weißt wohl, wie es ging, ich brauche es dir nicht zu sagen, aber der Fehler war nicht alleine auf meiner Seite; das war der größte, daß ich nicht Mann war und hauptsächlich nicht an mir selbst. Da war ich gerne draußen, es gab eine Gewohnheit, es war mir nicht wohl, wenn ich einige Tage nicht bei den Freunden war; da lernte ich, was es heißt, an allen Haaren gezogen werden. Und d'r Hans, d'r Hans ließ ich auch in dieses Leben ziehen, zog selbst, hatte Freude daran. Oh, das ist meine große Sünde, die ich mir nie vergeben kann, wenn sie mir schon Gott vergeben sollte. Es schien mir, es stehe ihm so wohl an, es rühmten mir ihn alle Leute; ich meinte, es gebe eine neue Welt, und wenn er sich früh daran gewöhne, bringe er es desto weiter darin, denn ich fühlte wohl, daß mir allenthalben die Fecken zu kurz waren. Ich meinte in der Tat, es sei aus mit der Religion; man konnte mir das so schön auslegen, daß ich daran glauben mußte. Ans Leben dachte ich nicht, welches das mit sich brachte, ans Geld nicht, welches es kostete, bis ich mittendrin war und Hans tiefer als ich. Da hätte ich darausstellen sollen, als ich es merkte und ihm das Beispiel geben, aber ich meinte, er solle abbrechen, ihm stehe es übel an. Aber das wußtest, alles mit ihm machen konnte ich nicht, denn er konnte mir auf alles antworten, konnte mir sagen: was mir erlaubt sei, werde ihm nicht verboten sein. Und er hat es mir später mehr als einmal gesagt, und was wollte ich machen als schweigen und zusehen, wie er immer mehr brauchte? Ich wußte, daß er Schulden machte, und steckte den Nagel doch nicht, weiß Gott, wie das jetzt herauskömmt; doch das wäre der kleinste Schade, wenn nur er noch lebte, wenn nur seine Seele gerettet wäre! Denn jetzt weiß ich wieder, daß ein Gott ist und was Religion ist. Ja, ausreden kann man sie für eine Zeit, aber da kömmt es wieder über einen, daß man zittert an Leib und Seele, daß man schreien muß: ›Ach Gott, sei mir armem Sünder gnädig!‹ oder daß man in tiefsten Abgrund springen möchte, wenn man dann aller Angst und aller Pein ab wäre. Ja, Freund, so kömmt's, darum ist für mich kein Trost, keine frohe Stunde mehr.«
»Nit, Hans, nit, das öppe, so Gott will, nit«, sagte Benz. »Es war schon mancher Mensch viel weiter unten als du, ward härter geschlagen und b'kymte sich doch wieder mit Gottes Hülfe. Es haben schon viele Eltern ihre Kinder verderbt, und diese verdarben dann, und an denen, welche ihnen am liebsten waren, erlebten sie am meisten Verdruß, von wegen sie hatten sie meisterlos gemacht, und meisterlos blieben sie. Ich vergesse es nie, wie der Pfarrer in der Unterweisung uns das an David und Absalom ausgelegt hat, wie das kommen müsse, und dessen habe ich mich seither geachtet und, ich kann sagen, wohl mehr als hundert Exempel erfahren, wie recht er hatte. Ich kann begreifen, wie man da fehlen kann, geht es mir doch fast selbst so. Aber das konnte ich nie begreifen, wie du so ins neue Wesen geben, dich da so umgarnen lassen konntest; es tat mir in meinem Leben nicht bald etwas mehr weh als das. Du bist sonst so verständig, warst ein guter Bauer jedem z'Trotz, da dünkte es mich, müßtest du es mit Händen greifen, wie bei der neuen Lebtig der Baurenstand in der Wurzel abfaule und wie man ohne Gott nicht bauren könne. Ich hassete dich deswegen nicht, es durete mich deiner und meiner. Von Kindsbeinen in der Freundschaft gelebt und jetzt so weit auseinander, daß jeder erschrickt, wenn er den andern sieht, und ausweicht, wenn möglich! Ich sagte meiner Frau oft: ›Ich kann Hans nicht begreifen, es ist ihm wie angetan; wenn ich an Hexerei glaubte, so glaubte ich, sie hätten es ihm eingegeben. Mehr als der Bauer im Hunghafen kann er ja nicht werden, als solcher war er ja g'ästimiert wie kein anderer weit umher; fährt er so fort, so mindert der Respekt, statt zu mehren.‹ Es war mir manchmal, als müsse ich zu dir kommen und mit dir auskehren und z'Bode stellen, bis du wieder anders werdest. Aber ich ließ es sein, ich kannte uns beide und wußte, daß wir ohne Zorn so nicht miteinander reden könnten, keiner gerne in seine Sache reden und sich befehlen läßt. Um d'Sach nicht noch ärger zu machen, schwieg ich. Jetzt, Hans, wollen wir wieder Brüder sein wie vorher, jetzt, denk ich, dürfen wir wieder miteinander reden in wahren Treuen, so gut wie es jeder versteht in guter Meinung. Darum los, Hans, verlier mir den Mut nicht; daß dir das Herz weh tut, ist recht, daß du erkennst, daß du gesündiget, ist recht, daß du erkennst, wie das neue Wesen eine verderbliche Sache ist, ist mehr als recht, und daß du abstehst von demselben, ist auch recht, aber den Mut sollst nicht verlieren, sollst an Gottes Barmherzigkeit nicht verzweifeln: seine Gnade ist jedem reuigen Sünder verheißen. Gutmachen sollst, was kannst, und du kannst viel, zähl darauf!«
»Wie gutmachen?« antwortete der Gebeugte, »Hans ist tot, Hans bleibt tot.« »Ja«, sagte Benz, »und ihm ist es wohl gegangen, und Gott hat es gut gemeint, daß er ihn jetzt und so genommen hat. Denk, was hätte er anfangen sollen, wenn seine Sache ausgebrochen? Dann erst werden die meisten recht schlecht, fechten mit Meineid und Handgelübden, um sich zu fristen; und daß er nichts um sich gewußt, war auch gut, denn Gott hat es getan. Wer weiß, wie er sich gebärdet hätte, dich auf immer betrübet und vielleicht um alle Hoffnung gebracht. Gott schlug ihn bewußtlos, Gott nahm ihn, und bei Gott ist Gnade, Hans, das glaube ich. Aber ich bin eigentlich nicht da, für dir z'kapitle, Hans, das ist des Pfarrers Sache.«
»O Benz, kapitle nur, du glaubst nicht, wie wohl es mir tut. Wollte Gott, du hättest es schon früher probiert. Wer weiß, ob du nicht den Nebel mir vertrieben hättest, denn, wie gesagt, es ist denn doch nicht, daß ich so verhärtet war, daß es sich nicht rührte in mir und daß mir nicht zuweilen Licht in die Augen schien, und wenn du einmal recht aus dem Grunde mit mir gekanzelt, wer weiß, ob ich nicht früher, vielleicht zu rechter Zeit noch, erwacht und d'Sach anders in die Hände genommen hätte!«
»Will gerne im Fehler sein«, sagte Benz, »und wahr ist, eines Freundes wegen sollte man nichts scheuen. Aber es war mir der Mund wie verbunden gegen dich. Du weißt, wir häggelten einige Male miteinander. Da lächeltest du in den Maulecken und spötteltest, als ob du sagen wolltest: ›Red du nur, du dummer Benz, du Baurenlümmel, was wolltest du wissen in deiner Hütte auf dem Berge; ich, der ich Blätter lese, alle Tage mit den Herren zusammenkomme, ich weiß, was die Glocke geschlagen und woher der Wind kömmt und wohin er bläst; ein so dummer Bauer wie du soll nicht an mich kommen.‹ Das Lächeln, Hans, mochte ich nicht ertragen, das heizte ein in meinen Adern, und dieses dünkelvolle Lächeln haben fast alle Radikalen, b'sunderbar die Schulmeister. ›Red du nur, du Lümmel!‹ wollen sie damit sagen, und wo ich dieses Lächeln sehe, da bin ich fertig, da ist mir das Maul verbunden, da kann ich höchstens nur mit den Händen reden. Dann ist noch das, daß, wenn man auch einmal mit einem von euch in einer guten Stunde ruhig reden konnte und ihm d'Sach so klarmachen, daß er sagen mußte: ›Ja, du hast recht, so ist's, kann nicht begreifen, daß ich das nicht eingesehen‹, und man geht mit Freuden heim und sagt: ›Sie sind doch nicht alle gleich, es gibt auch noch unter ihnen, die nicht verbissen sind; es wären sicher noch viele, wenn man vernünftig mit ihnen reden würde, sie täten ihre Verblendung einsehen; es ist ein großer Fehler, daß man dies nicht genug tut. Heute habe ich mit dem und dem gesprochen, er war von den Wüstesten einen, aber ich denke, den habe ich gründlich bekehrt, er sagte mir, jetzt sehe er alles ein, wenn ihm jemand die Sache so ausgelegt, er hätte sich längst bekehrt.‹ Nun, begegnet man diesem Bekehrten nach einigen Tagen wieder, so macht er Augen wie eine taube Katze, will man mit ihm reden, zähnet er einen an wie ein Bleichehund, und bringt man ihn zum Reden, so schlägt er mit Schelmen und Spitzbuben, Aristokraten und Jesuiten um sich, daß man seines Lebens nicht mehr sicher ist. Der ist wieder anders b'richtet worden, man hat ihm den Teufel im Gütterli gezeigt, hat ihm zugerufen, ›Ruhig im Glied!‹, hat ihn dressiert, daß er weiß, was er tun soll. Nun, ich hätte es doch tun sollen, 's ist wahr, aber das war mir im Weg. Aber wie gesagt, ich kam auch diesmal nicht ums Kapitlen, wie es mancher hat, der erst recht aufbegehrt, wenn er die Leute lind findet; ich kam, um bei dir zu sein und dir zu sagen, daß ich z'weg bin zu helfen, wie ich kann und mag, du brauchst nur zu befehlen.«
»Ich darf nicht dran denken«, antwortete Hans, »bin dir ohnehin noch schuldig, und, ach Gott, wie wird alles aussehen!« »Sei das jetzt, wie es wolle«, sagte Benz, »so bin ich jetzt da als e Freund, für helfe gutz'mache, und es ist meine größte Freude, wenn es wieder sein soll wie ehedem, wo, wenn der eine hatte, dem andern auch nichts fehlte. Wenn wir zwei einander helfen, wird die Sache vorübergehen ohne großen Lärm und ohne viel G'red, und so, denke ich, sorgen wir am besten für den armen Toten, wie man auf der Welt noch für einen Toten sorgen kann. Was die Gemeinde angeht, da will ich die Sache in aller Stille in Ordnung bringen. Du bist ihnen allen lieb, es wäre jedem z'wider, wenn es Lärm geben würde, mit Geld ist da alles gutzumachen. Was dann andere Schulden sind, muß man auch fertigmachen so geschwind als möglich. Ich habe in diesem Augenblick viel Geld im Hause, mehr als mir lieb ist, und habe ich nicht genug, so weiß ich noch bei andern. Daneben ist es nicht meine Meinung, daß man sich beschummeln lasse. Es sind da Bursche, sie haben den Armen genug gerupft, die werden meinen, jetzt könnten sie erst recht anfangen und alles auf den Toten hinausreiben; mit denen muß man ein verständlich Wort reden, daß sie wissen, es ist Matthys am letzten für sie.«
»O Benz, du bist mehr als Bruder an mir. Ich habe so genug mit mir selbst zu tun, so viel Herzenleid, daß ich am liebsten unten im Keller, wo keine Sonne und kein Mensch hinkömmt, leben möchte, daß ich mit Grausen daran dachte, was jetzt alles auf mich kommen und was für Menschen mir alltäglich vor den Füßen sein würden und ihr Gerede mir in den Ohren und dazu kein Geld, sie zu befriedigen, um ihnen loszukommen und frei zu werden von ihnen, und Geld so schwer zu bekommen, weil kein Mensch dem andern trauet. O Benz, ich darf gar nicht daran denken, mich den Leuten zu zeigen! Wenn ich an die Begräbnis denke, so geht es mit mir ringsum. Da wird mir sein, wie wenn ich als Mörder ausgeführt würde, da wird alles mit Fingern auf mich zeigen, die Schulkinder werden untereinander sagen: ›Der dort, der ist schuld, daß er gestorben. Vater und Mutter haben es gesagt.‹ Und sie haben recht, mehr als recht; aber ich weiß nicht, ob ich das überstehen mag.«
»Nit, nit, Hans, du bist nicht bei dir selbst, du bist auch im Fieber, du hast manche Nacht in den Kleidern zugebracht und kamest in kein Bett. Geh schlafen, ich bleibe diese Nacht hier, will dir alles besorgen und mit deinem Jungen abreden, was allfällig noch vorzukehren ist. Bekümmere dich um nichts, schlaf, und hoffentlich am Morgen, wenn die Sonne kömmt, ist's dir nicht mehr so schwarz vor den Augen.« »Schlafen, was denkst, schlafen ist vorbei für mich. Will ich auch die Augen zutun, stehen hundert Sachen mir davor, und hoch aufsprengt es mich.«
Benz ließ ihm den Willen; er wußte wohl, daß man den Schlaf nicht erzwingen kann, er blieb bei ihm. Wir können nicht aufschreiben, was die beiden Männer verhandelten; aber wer die beiden hohen mächtigen Gestalten gesehen hätte, den einen ruhig, den andern so bewegt, wer ihre Gespräche gehört hätte, wie der eine sie bewegt, von einem zum andern sie springen ließ, der andere so besonnen sie begleichet und freundlich sie leitete, wie das Höchste mit dem Alltäglichsten sich mischte, aber alles verständig zerlegt und an seinen Ort gestellt wurde, der hätte viel gelernt, hätte große Erbauung gehabt, hätte begriffen, was wahre Bildung ist und woher sie kömmt.
Gegen Morgen fielen doch zuweilen Hans die Augen zu, seine Reden wurden verwirrt, träumerisch. Da gelang es Benz, ihn zu bewegen, zu Bette zu gehen, wo er alsbald in tiefen Schlaf verfiel. Darauf suchte er den jungen Benz, beredete mit ihm das Nötige, gebot ihm, wenn möglich, niemanden von Hanse Kameraden oder solchen, von denen er glaube, sie wollten Widerwärtiges mit ihm verhandeln, Schulden vorbringen usw., zum Vater zu lassen. Nachmittags komme er wieder, den Vater aber solle er schlafen lassen, und wär's den ganzen Tag, er hätte es nötig.
Als Ankenbenz nachmittags wiederkam, war Hans noch nicht vor langem erwacht, gestärkt und ruhiger. Benz der Junge berichtete, wie er Mühe gehabt, Leute vom Vater abzuhalten. Sie seien gewohnt gewesen, hier aus- und einzugehen, zu schalten und zu walten nach Belieben; so hätten sie fortfahren wollen. Als er gewehrt und gesagt, er lasse niemanden zum Vater, habe er sehr böse Worte hören müssen, so daß es ihn Mühe gekostet, sie hinzunehmen. Man hätte ihn behandelt nicht bloß wie einen, der hier nichts zu sagen habe, sondern wie einen, der sich hiehergestohlen und unrechtmäßigerweise da sei, und wenn man zum Bruder gehörig gesehen, so käme es ihm nicht dazu, hier den Meister zu machen. »Wenn diesen Nachmittag jemand kömmt und zum Vater will, so rufe mir, ich will das Bündeg'schüch vorstellen«, sagte Ankenbenz.
Hans dankte herzlich für die Ruhe, welche Benz ihm verschafft. Die vergangene Nacht werde er nie vergessen, da habe er wieder Weg unter die Füße bekommen. Weil die Seele beruhigt geworden, habe auch der Leib ruhen können. Jetzt sei er fest und gefaßt, aber zwanzig Jahre älter komme er sich vor und, was hinter ihm liege, wie ein Rätsel. Es sei ihm, als sei er aus einem Traum erwacht, denn wie das Vergangene möglich geworden und daß alles wirklich erlebt sein sollte, sei ihm unbegreiflich. Aber noch schwindle es ihm, schwimme ihm vor den Augen, noch müsse er sein selbst sein können soviel möglich und nur um sich haben, wer wisse, wie es ihm sei, und zu dem er reden könne, was er wolle.
Benz brauchte nicht lange zu warten, um sein Anerbieten, das Bündeg'schüch zu machen, zu erfüllen. Es kamen abermal zwei daher von der Sorte, aus der in den letzten Zeiten Hans seine Freunde nahm. Man ließ sie doppeln am Hause, und als sich die Türe öffnete, stand Ankenbenz darunter. Sie machten beide ein ganz kurios Gesicht; ob sie sich kreuzten, ist ungewiß, aber zwei, drei Schritte trat jeder zurück, und nachdem sie Benz eine Weile angesehen, ob er nicht weiterwolle und jemand anders ihm nachkomme, sagte endlich einer, sie hätten zum Herrn Amtsrichter wollen. Benz, breitbeinig in der Türe stehend, sagte, es sei ihm leid, aber der Amtsrichter sei nicht ganz wohl, es sei ihm streng Ruhe befohlen. Aber wenn sie was mit ihm hätten, so könne er es vielleicht ausrichten. Sie hätten ihren Freund noch einmal sehen mögen, sagten sie. Den wolle er ihnen zeigen, sagte Benz. Es sei ein traurig Luegen, und wenn schon viele ein Exempel an ihm nehmen würden, so schadete es nichts. »Was für ein Exempel?« frug einer mit einem aufbegehrischen Gesichte. »He«, sagte Benz, »wie einer wohl weiß, wie er zu einer Türe ausgeht, aber nicht, wie er wieder hineinkömmt, daß man ung'sinnet sterben kann, jung und alt.« »Wege solche Exemple möchte ich den Fuß nicht versetzen; das weiß jedes Kind, daß, wenn man gestorben ist, so ist man tot«, antwortete einer.
So viel Gefühl hatten sie doch, daß sie in der Totenstube wenig sprachen. Hans war nicht schön anzusehen, auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck unaussprechlichen Wehs, tiefe Furchen schienen in dasselbe gerissen zu sein.
Stillschweigend kehrten sie bald um. Draußen erst sagte einer: Er möchte doch wissen, ob man nicht mit dem Amtsrichter reden könne, es sei was Pressants, sie müßten mit ihm reden. Es sei ihm leid, sagte Benz, es gebe es nicht, sie hätten es schon gehört. Es werde heute nicht der letzte Tag sein, wo man mit dem Amtsrichter reden könne. Es sei aber der Tag, wo sie mit dem Amtsrichter reden wollten, sagte einer; wenn sie heute nicht mit ihm reden könnten, so kämen dann wohl andere, mit denen man reden müsse.« »Schickt, wen ihr wollt, es soll ihnen Bescheid gegeben werden, und zwar je nachdem!« Die beiden sahen Benz an, der ganz ruhig, aber breitbeinig dastand, und gingen weiter.
Ankenbenz war körperlich und dem Namen nach eine Persönlichkeit, die unwillkürlich Respekt einflößte, mit welcher man nicht gerne feindselig zusammenwuchs. Übrigens wollen wir annehmen, die beiden hätten auch noch die Achtung vor einem Hause gehabt, in welchem ein Toter lag, welche ehemals landesbräuchlich war, und auch derethalb nicht weiter spektakelt, sondern es bei einer kleinen Demonstration bewenden lassen. Wir haben absichtlich gesagt »ehemals«, denn wir haben Beispiele, wie Radikale mit Toten spektakeln, aus neuster Zeit, und eben bei solchen Anlässen die triftigsten Zeugnisse ablegen, wes Geistes Kind sie sind, wie jeder Anlaß ihnen willkommen ist zu Randal und Skandal, während der rohste Wilde keine Totenfeier stören wird, wie sie üblich ist und zu der Väter Zeiten war und, ehe die Bildung aus den Sekundarschulen kam, man bei einer Beerdigung doch Frieden und Anstand bewahrte bis ins Wirtshaus und nicht schon Stunden vorher auf dem Totenacker, ja in der Kirche selbst die Sau ausließ.
Dieses Erscheinen von Benz und seine Haltung wirkten in der Tat wie ein Bündeg'schüch: im Hunghafen blieb man ruhig. Viel gab es zu reden, und viel grimmige Leute gab es. Man solle doch denken, sagten sie, jetzt befehl Ankenbenz im Hunghafen, er habe die Hand darüber geschlagen, da gehe ein Rad ab, und so könne man dies doch nicht gehen lassen. Den Amtsrichter könne man nicht sehen; ob er eingeschlossen sei oder was man mit ihm gemacht, das wisse man nicht. Das sollte doch untersucht sein, das könne man nicht so annehmen. Gewiß geschehe da etwas Verfluchtes, und eine Schlappe werde man kriegen sollen. Vielleicht mache der Alte gar Güterabtretung, mach sih blutt, das wär vom Tüfel, aber z'gut wären sie nicht, sellig Konservativ seien ärger als d'Hölltüfle usw.
Man wurde rätig, zum Regieriger zu laufen und den aufzustiefeln, daß er hingehe, angeblich um den Waffengefährten noch einmal zu sehen und sich sonst noch wichtig zu machen. Der tat drei Dinge gerne: erstlich dreifache Quartalzäpfen ziehen, Berichte machen über Gefahr des Vaterlandes und Spione, welche seine Hütte abzeichnen täten, und drittens seine Nase dahin stecken, wo sie nicht hingehörte, daneben nicht tun, was seines Amtes war. Er pfloderte hin, doch reute ihn, ein frisch Hemd anzuziehen, und eben appetitlich war das nicht, welches er anhatte. Daneben suchte er sich mit Majestät und Leutseligkeit zu umgeben bestmöglichst. Als er daherkam am Nachmittag vor der Beerdigung, war glücklicherweise Ankenbenz wieder da, hielt mit Hans Rat über allerlei Dinge. Da kam der junge Benz dahergelaufen mit der Nachricht, der Regieriger komme daher, was machen? Der Amtsrichter war verlegen. Benz sagte: »Den kann man nicht abweisen, den muß man sehen lassen, was er sehen will, sonst stellt er, der Gugger weiß, was an; aber wenn du willst, so bleibe ich da, sonst ging ich lieber dem Geflügel aus dem Wege, nicht daß ich es fürchtete, aber ich liebe es nicht.« »Du tätest mir ein großes Gefallen«, sagte Hans, »ich hoffe dann, er wird es beim Besuch bewenden lassen und nichts Weiteres anfangen.«
Ganz anständig kam er herein, machte zwar quasi Glotzaugen und kniff die Lippen zusammen, als er Benz sah, doch faßte er sich bald, grüßte ihn, frug nach seinem Namen, als ob er ihn nicht kenne. Er stellte seine Worte recht schön, daß sie Hans ganz glatt ins Herz gingen, und als er beim Anblick seines Waffengefährten sogar die Augen rieb oder auswischte, da dachte der Vater, sagen möge man nun, was man wolle, ein gut Herz habe der doch gewiß. Darauf entschuldigte er sehr den Gerichtspräsidenten, daß der nicht gekommen; er habe ihm aber aufgetragen, sein Beileid zu bezeugen. Er habe Leute bestellt auf diesen Nachmittag, denen könne er nicht absagen lassen. Er hatte nämlich selben Morgen einen Gefangenen gefunden, den er vergessen hatte seit vielen Wochen, den mußte er doch wieder mal vornehmen, wenn er nicht vielleicht einen kleinen Rüffel im stillen erhalten wollte, der dann aber durch die verfluchten Zeitungen groß gemacht werden konnte. Er redete über allerlei recht verständig, daß Benz dachte, dumm sei der allweg nicht, es sei nur schade, daß er seine Gaben nicht besser anwende, und Hans sah Benz öfter an, als ob er fragen wollte: »Was sagst zu dem und jetzt zu diesem, ist der doch nicht besser, als du meinst, und meint er's nicht gut?« Benz sah, wie die Spinne die Netze wob.
Da, bei einer kleinen Pause, sagte der Regieriger zu Hans: »Ich möchte Euch ein paar Worte unter vier Augen sagen, wenn Ihr wollt so gut sein, mit mir hinaus oder in eine andere Stube zu kommen.« Hans ward verlegen, Benz warf ihm einen Blick zu und sah die Verlegenheit; darauf stund er auf und sagte, er wolle den Herren nicht Mühe machen, sie seien ihrer zwei, die hinausmüßten, er nur einer, daneben habe er draußen zu tun. Da sprach Hans, und zwar mit fester Stimme: »Bleib, Benz bleib! Herr Regieriger, das ist mein Bruder, im gleichen Wasser sind wir getauft worden, und ein Bruder ist er an mir gewesen; wenn ich Hülfe nötig hatte, fand ich sie bei ihm, vor ihm habe ich nichts Geheimes, und ich möchte ersuchen, nur alles vor ihm zu sagen, ich sagte ihm doch nachher alles wieder, denn vor ihm habe ich wirklich nichts Geheimes. Sitz, Benz, sitz!«
Da machte der Regieriger denn doch ein verlegen Gesicht, redete nun allerlei, das er auf jedem Markte hätte sagen können, etwas weniges von des Gestorbenen Schulden und wie es bedauerlich wäre, wenn arme Leute zu Schaden kämen, lenkte aber bald ab, als Hans sagte, das werde nicht geschehen, was Hans rechtmäßig schuldig sei, solle alsbald bar bei Heller und Pfennig berichtigt werden, und ging dann seiner Wege.
»Hast jetzt gesehen«, frug Hans, »wie es die können? Die haben einen gepäckelt viel leichter als Spinnen die Fliegen. Wärest du nicht dagewesen, ich hätte ihm müssen glauben. Noch jetzt glaube ich, er meine es eigentlich nicht so bös, sondern habe ein gutes Herz, denke aufrichtig.« »O Hans, Hans«, sagte Benz, »vergiß nicht, wie es die Buben mit den Meitschene meine, bis es gefehlt hat! Sieh dann, wie sie es mit dir meinen, wenn du den Zwang abschüttelst und eigener Meinung sein willst.«
»Oh, meinetwegen werden sie wohl nicht viel Mühe haben«, sagte Hans. »Wär g'späßig; wer weder christlich noch häuslich, nur politisch lebt, dem ist's nicht gleichgültig, wenn ihm eine Stütze seines Lebens bricht, besonders wenn er noch den Lohn apart dafür hat, zu sorgen, daß diese Stützen wohl im Stand bleiben«, antwortete Benz.
Der Begräbnistag war ein schwerer Tag für unsern Amtsrichter, ein Tag, an welchem er manche Jahreslast tragen mußte. Sein Schmerz wallte neu ihm auf, und er konnte ihn nicht verwinden in sich selbst oder verwerchen mit einem Freunde, der ihn verstund, er mußte mit ihm unter allerlei Leute, unter denen viele mit roher Neugierde darin herumwühlten als wie mit einem Garbenknebel in einer Wunde. Das Leichenbegleit war bei weitem nicht so groß als bei Gritli. Man hatte viele nicht eingeladen, und andere blieben sonst aus, politische Honorationen waren keine da, doch war es immer noch ansehnlich und jedenfalls sehr anständig. Wie auch bei Gritli war der Pfarrer für ein Wort zum Leichengebet ersucht worden. Diesmal wollen wir hersetzen, was uns noch im Gedächtnis geblieben.
Der Pfarrer begann mit den Worten: »Als nun Maria kam an den Ort, da Jesus war, und sahe ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: ›Herr, wärest du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben!‹ So sprachen die Schwestern des Lazarus zu Jesus, als derselbe erst nach ihres Bruders Tod aus der Wüste, wo er sich, um den Verfolgungen zu entgehen, aufgehalten hatte, nach Bethanien kam. Liebe Anwesende, fallen euch diese Worte nicht eigens auf, ist's den meisten nicht, sie wüßten bereits alles, was ich zu sagen gedenke? Wie vielen kam es nicht bereits dazu, auszurufen: ›Ach Herr, wärest du bei uns gewesen, unser Bruder lebte noch!‹ Und wer, wenn er unsere Zustände und Verhältnisse überhaupt betrachtet, findet sich nicht gedrungen zu der Wehklage: ›Ach Herr, wärest du bei uns gewesen, so wäre ein ander Leben, so wäre nicht so viel Not, nicht so großes Elend unter uns!‹ Ihr kennet ihn, unsern Heiland Jesus Christus, ihr wißt, daß er kam, die Verlornen zu suchen und selig zu machen, zu heilen die gebrochenen Herzen, den Armen das Evangelium zu predigen, zu verkünden das angenehme Jahr des Herrn. Ihr habt gehört, wie er den Seinigen den Frieden gibt, sie versöhnt mit Gott, mit den Menschen und dem eigenen Herzen, das ewige Leben gibt allen, die an ihn glauben, mitten unter uns sein will bis ans Ende der Welt und allenthalben da, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Drängt sich nicht unwillkürlich jedem, der ihn kannte als den, als der er uns gegeben ist, der Ausruf auf die Lippen: ›O Herr, wärest du bei uns gewesen, so wäre ein ander Leben und Wesen unter uns!‹ Wenn wir den großen Abfall betrachten und dessen Folgen: unter denen, die Brüder sein sollten, großen Streit und Zwietracht, der Zerfall so vieler Verhältnisse, das Einbrechen des Tiertums, der uralten Macht, die man auf ewig gebunden glaubte, müssen wir nicht in der Angst des Herzens rufen: ›Ach Herr, wärest du bei uns gewesen!‹ Wieviel tausend Eheleuten wurden die Herzen getrennt, verbittert; aus der innern Verbitterung erwuchs ein bitteres Leben, ein Weh ohne Boden, wie viele unter ihnen seufzen nicht schwer und rufen: ›Ach Herr, wärest du bei uns gewesen, die alte Liebe lebte noch!‹ Die Selbstsucht hätte sie nicht verzehrt; aus deinem Frieden, der da vergibt und nicht richtet, wäre uns ein freundlich Leben erblüht, geziert mit guten Früchten. Oh, wie mancher Hausvater, dessen Hauswesen zerfallen darniederliegt, der in tiefem Gram zwischen den Trümmern desselben herumirrt, mit Jammer sein graues Haupt zur Grube trägt, seufzt aus tiefer Brust: ›O Herr, wärest du bei uns gewesen, so stünde mein Haus auf sicherem Felsen, die Fluten der Welt hätten es nicht zertrümmert, die Familie auseinandergerissen, die Glieder nicht vertragen hiehin, dorthin, allenthalben, wo Elend ist!‹ Ja, aufrichtig und mit tiefem Leid frage ich: Drängt nicht der Tod, der uns hier zusammengerufen, unwillkürlich die Klage auf die Lippen: ›Ach Herr, wärest du bei uns gewesen, unser Bruder lebte noch!‹ Und in wie mancher Seele hier und in weiter Runde wird die Klage widerhallen: ›Ach Herr, wärest du bei uns gewesen, unser Vater, unsere Mutter, unser Bruder, unsere Schwester, unser Freund lebte noch, es wäre die Ursache fernegeblieben, welche ihn dem Tod zum Raube gebracht!‹ So seufzten die zwei Schwestern Maria und Martha vor dem Herren, und der Herr hörte diese Seufzer und antwortete und sprach zu Martha: ›Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben wirst, so werdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?‹ Wie des Herren Wort ein ewiges Wort ist und allen giltet, so ist diese Antwort eine Antwort für alle, welche seufzen, wie die Schwestern seufzten. Die Schwestern glaubten, daß er sei Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen sollte; sie sandten zu dem in die Wüste Vertriebenen, bis er kam, sie wußten, daß in ihm allein das Heil war, sie glaubten, er sei die Auferstehung und das Leben und wer an ihn glaube, werde leben, ob er gleich stürbe, und weil sie glaubten, sahen sie die Herrlichkeit Gottes und seine Macht über Leben und Tod, ihr Bruder Lazarus erhielt sein Leben wieder.
Liebe Trauernde! Wer wie die Schwestern glaubt, seufzt und bittet, erhält die nämliche Verheißung, daß er die Herrlichkeit Gottes sehen würde. Wir dürfen wohl sagen, der Herr weilte wohl hier und dort, wo einige in seinem Namen versammelt waren, wohnte hie und da in Häusern, wo der Glaube der Väter noch galt, wohnte in den Kirchen, wo lauter und einfältiglich das Wort des Herrn verkündigt wurde; aber er wohnte nicht da, wo man sich nicht bloß sein und seiner Worte schämte, sondern auch des Wortes ›christlich‹ und ›Christentum‹, man nicht mehr sagen durfte, daß man Kinder christlich erziehen wolle, wo die blinde Menge aufgehetzt ward, Steine zu ergreifen und ihn zu steinigen. Da ward es eben trübe unter uns und finster, und das Unglück kam und das Elend und verzehrte so viele unter uns. Darum aber auch wird es vielen so bange, und ihre Augen suchen wieder das Heil, das von oben kömmt, sie rufen nach ihm, sie suchen ihn, sie senden Boten aus, daß er wiederkomme. Wer aufrichtig, mit rechter Heilsbegierde ihn suchet, wird ihn finden, und er wird wiederkommen zu denen, die nach ihm verlangen, und wird sie schauen und schmecken lassen die Herrlichkeit Gottes. Die, die da leiblich gestorben sind, wird er nicht zurückrufen ins leibliche Leben, aber Leben wird er bringen denen, die da geistig tot waren, und zwar das Leben, das schaut die Herrlichkeit Gottes, das Leben, welches sein Leben ist, das Leben in Gott, das Leben der Kraft, die streitet gegen die innere und äußere Sünde, und in welchem die Früchte des Geistes lieblich duften: Liebe, Friede, Langmütigkeit, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit, der Friede Gottes, der über allen Verstand geht, in den Herzen wohnet und den Sinn des Friedens strömen läßt über die Völker, das Paradies auf Erden wiederbringt, zu einer Familie die Menschen macht und zu Kindern Gottes jedes Glied der Familie. Das ist die Herrlichkeit Gottes, welche allen erscheinen soll, die seine Erscheinung liebhaben, welche in den Herzen und Häusern wohnen soll, daß jeder dem Herren lebt, dem Herren stirbt, keiner mehr, von der Sünde ergriffen, als ein Opfer der Sünde stirbt. Dieses Leben ist auch uns verheißen, und unser Jammer soll verwandelt werden in Lobgesang, wenn wir Christus wieder aus der Wüste rufen, ihn bitten, daß er bei uns weile, um ihn uns sammeln und bekennen vor aller Welt, daß in ihm das ewige Leben, daß er der einige Name ist, in dem die Menschen können selig werden.
Flehen inbrünstig wollen wir auch, daß er auch das Leben derer werde, daß auch sie die Herrlichkeit Gottes schauen möchten, welche starben, weil der Herr nicht bei uns war, welche ein Opfer des Geistes wurden, der da mächtig war, bei deren Tod wir so schmerzlich seufzen: ›Ach Herr, wärest du bei uns gewesen, sie lebten noch!‹ Sie starben ja wohl auch, wie jener Blinde blind geboren wurde, nicht um ihrer Sünden willen, sondern damit die Herrlichkeit Gottes offenbar werde. Sie sündigten ja nicht alleine; wie sie sündigten Tausende, und sie leben noch. Der Herr wählte sie wohl aus zur gelegenen Zeit und aus Gnade, als Sühnopfer für die Tausende, die noch leben, diese zum Glauben zu erwecken, indem ihnen vor die Augen gestellt ward die Not und der Jammer, die da einbrachen, wo Christus vertrieben, ferne in der Wüste weilen muß. Sie starben ja auch um unserer Sünden willen. War ein solches Sterben nicht manchem der Blitz, der den rasenden Saulus zum Paulus machte, sehen ließ das eine, das not tut, Christus, Christus, der zur Rechten Gottes sitzet? Kehren wir zum Glauben zurück, kehrt Christus wieder bei uns ein und bleibet bei uns, so hat ja der Herr sie gebraucht zu Rüstzeugen, zu wirken den Glauben in uns. Diesen Glauben wird er ihnen auch zurechnen um seines Sohnes willen. Festigen wir uns in diesem Glauben, beten wir recht inbrünstig um diese Gnade, denn das Gebet des Gerechten vermag viel, wenn es inbrünstig ist, und bei Gott sind alle Dinge möglich. Wenn wieder ein Gott, ein Herr, ein Geist über unserm Leben walten, wenn die Schwarmgeister geflohen sind, wenn wir wieder unseres Glaubens froh werden, so sei dieses ein Liebespfand des Herren, daß er die, welche er als Sühnopfer aus unserer Mitte erwählt und zu Rüstzeugen unseres Glaubens gemacht, zu Gnaden angenommen, daß wir mit ihnen einst Gott loben und preisen werden in alle Ewigkeit. Amen!«
Die Wahrheit war so klar, die Beziehungen so mannigfaltig und tief, daß diese Rede wie ein zweischneidig Schwert durch die Seelen fuhr. Viele gingen an die Arbeit, die Götzen des Tages aus den Tempeln zu schaffen, die Gott allein geweiht sein sollen, den Geist auszutreiben aus denselben, von dem sie besessen waren, den Geist der Welt oder den Geist der Zeit, der wandelbar und veränderlich ist wie die Welt; und wo dieser Zeitgeist ausgetrieben ist, da zieht der Geist des Herren ein, es ordnen sich die Kräfte, ein neues Leben entsteht, es wird Friede, die Liebe blüht, die Früchte werden nicht ausbleiben. Der würdigen Väter Söhne sind wir wieder, und den Segen der frommen Väter wird Gott strömen lassen in Fülle über die würdigen Söhne und als seine lieben Kinder sie erfüllen mit seinem ewigen Geiste.