Adolf Glaser
Savonarola
Adolf Glaser

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Vierzehntes Kapitel.
Die Heimkehr in das Ghetto.

Der Zug des Königs von Frankreich durch Italien fand wenig Hindernisse, und die Siege, welche er erfocht, wurden völlig ohne Blutvergießen, durch friedliche Unterhandlungen errungen. Als er in der Nähe von Rom anlangte, sandte er eine vornehme Gesandtschaft zum Papste. Diese Abgesandten verlangten, daß der König ohne Widerstand in Rom aufgenommen werde, sie versprachen dagegen, derselbe werde die päpstliche Autorität respektieren und die Rechte der Kirche achten. Sie sprachen die Überzeugung aus, daß alle Schwierigkeiten bei der ersten Unterredung zwischen dem Könige und dem Papste gehoben sein würden. Alexander Borgia fand es sehr hart, seine Hauptstadt den Händen des Feindes übergeben zu müssen und die Zwischenhändler zurückzusenden, ohne irgend eine bestimmte Zusage von ihnen erreicht zu haben. Aber die französische Armee kam fortwährend näher. Sie blieb höchstens zwei Tage an einem Orte; der Kardinal Julius von Rovere, welcher dem Feinde ergeben war, besaß die stärksten Festungen und hatte eine Armee gesammelt. In gleicher Weise waren die Colonna mit ihren Soldaten zu dem Könige gestoßen. Jeder Widerstand schien unmöglich, und der Papst ging endlich auf die Vorschläge des Königs ein. In demselben Augenblicke, in welchem Prinz Friedrich von Neapel zur Porta San Sebastiano hinauseilte, um eilig nach Neapel zu gelangen, zog der König von Frankreich an der Spitze seiner Armee durch die Porta Maria del Popolo in die ewige Stadt ein.

Die Vorhut war aus Schweizern und Deutschen gebildet, welche unter dem Klange der Trommel mit ihren Fahnen einrückten. Ihre Kleider waren kurz und eng anliegend, im Landsknechtsschnitte, von verschiedenartigen Stoffen. Die Anführer unterschieden sich durch hohe Federn auf ihren Mützen. Die Soldaten waren mit kurzen Degen bewaffnet außer den Lanzen. Der vierte Teil von ihnen führte Hellebarden, die mit zwei Händen im Kampfe regiert wurden. Die erste Reihe jedes Bataillons trug Brustharnische, desgleichen die Anführer.

218 Hinter den Schweizern marschierten fünftausend Gascogner, die ganz einfach gekleidet und mit der Armbrust bewaffnet waren. Obgleich durchgängig kleiner als die Schweizer, sahen sie doch sehr kraftvoll aus. Dann folgte die Kavallerie, welche aus der Blüte des französischen Adels, den Marillacs, Bayard u. a. bestand und durch ihre seidenen Mäntel und vergoldeten Halskragen glänzte. Sie trugen sehr starke Lanzen und tüchtige Schwerter. Dem Gebrauche bei der französischen Armee gemäß, hatte man den Pferden die Schwänze und die Ohren verschnitten. Jeder Kürassier hatte drei Pferde im Gefolge, von denen das erste durch einen gleich ihm bewaffneten Edelknaben, die beiden andern durch Stallknechte geritten wurden. Vierhundert Schützen, unter denen hundert Schotten waren, umgaben den König, den außerdem eine adlige Garde zu Fuß begleitete. Diese letztere war zu andern Zeiten beritten und zeichnete sich durch kostbare Ausstattung aus. Zu beiden Seiten des Königs schritten die Kardinäle Ascanio Sforza und Julius della Rovere, und die Kardinäle Colonna und Savelli folgten dicht hinter ihm. Zwei andre Herren aus dem Hause Colonna und sämtliche italienischen Generale marschierten zwischen den vornehmsten französischen Rittern.

Hinter der Armee wurden sechsunddreißig Kanonen gefahren, deren Länge und Schwere alle Menschen in Erstaunen setzte. Sechs Stunden dauerte der Einzug, und zum Schluß mußten Fackeln dabei leuchten, was der Sache etwas absonderlich Feierliches verlieh.

Inzwischen hatte sich der Papst in die Engelsburg zurückgezogen und es befanden sich nur sechs Kardinäle bei ihm, da alle andern sich dem Könige angeschlossen hatten, von dem sie hofften, er werde durch Berufung eines Konzils die Kirche von einem Papste befreien, dessen ganze Lebensweise ein öffentlicher Skandal war. Alexander selbst zitterte vor dem drohenden Konzil, und je mehr er für seine persönliche Sicherheit fürchtete, umsoweniger war er geneigt, dem Könige die Engelsburg zu übergeben, welche dieser als ein Pfand des Vertrauens begehrte, während der Papst sie als sein sicherstes Asyl behaupten wollte. Gern hätte der König seine Kanonen gegen die Engelsburg gerichtet, aber seine Umgebung ermahnte ihn, das gegebene Versprechen zu halten und das Haupt der Kirche zu respektieren.

Engelsburg und Engelsbrücke zu Rom in ihrer gegenwärtigen Gestaltung.

Die Engelsburg bot zwar nur einen beschränkten Aufenthalt für so viele Menschen, die an Luxus und Bequemlichkeit jeder Art gewöhnt waren, aber immerhin befanden sich einige prächtig dekorierte Säle daselbst und Zimmer genug, um den Papst, seine Angehörigen und die Kardinäle zu beherbergen. Die Besatzung befand sich unter dem Oberbefehle des Grafen von Pesaro, der in Kriegsangelegenheiten Erfahrung besaß, und welchem sein Schwager Cäsar Borgia zur Seite stand. Welche Verwirrung der sittlichen Begriffe, wie viel Heuchelei und Selbstsucht befand sich in den beschränkten Räumen der Engelsburg, dem ursprünglichen Grabmale des römischen Kaisers Hadrian! Unter allen Personen 219 aus der nächsten Umgebung des Papstes mochte das junge gräfliche Ehepaar von Pesaro, Giovanni Sforza und Lucrezia Borgia, sich am unbehaglichsten fühlen. Als jüngerer Sprosse seines erlauchten Hauses hatte Giovanni durch die Ehe mit Lucrezia sich eine Stellung gemacht, die seinem kühn aufstrebenden Sinn eine glänzende Zukunft versprach, und Lucrezia war jung und schön genug, um ihm wirklich Neigung einzuflößen. Die Gewaltthätigkeit der Männer und die Sittenlosigkeit der Frauen gingen damals an den meisten italienischen Höfen Hand in Hand, und beide traten oft mit erschreckender Roheit auf; aber es gab doch Menschen genug, welche daran keinen Gefallen fanden und ziemlich unberührt von den Folgen dieser Entartung blieben, ja vielleicht sogar deshalb in ihrem Innern vor Lastern bewahrt wurden, weil sie diese so offen und ohne jede Schminke einherschreiten sahen. Giovanni und Lucrezia waren nicht das, was in damaliger Zeit geistig hervorragend genannt wurde; der junge Graf begnügte sich damit, seine Pflicht als Soldat zu thun und die Vorteile zu genießen, welche ihm mit seiner schönen jungen Frau und durch dieselbe zufielen. Lucrezia hatte ein ganzes Jahr in Pesaro, fern vom Glanze des päpstlichen Hofes an der Seite ihres Gatten glücklich gelebt, Beweis genug, daß sie mit einem verhältnismäßig einfachen Lose zufrieden schien. Gewohnt, den Willen des Papstes als die allein bestimmende Macht in ihrem Schicksal anzuerkennen, da sie ihn unbedingt als den Stellvertreter Gottes betrachtete, erachtete sie alles gerechtfertigt, was Alexander VI. beschloß und that.

Alexander selbst empfand die augenblickliche Notlage zwar sehr bitter, denn die päpstliche Autorität lag darnieder; aber er vertraute seinem Glückssterne, seiner oft bewährten Geschicklichkeit und aalglatten Schlauheit, welche ihm schon aus mancher schwierigen Lage geholfen hatte. Es deuchte ihm ein Trost, daß die beiden Frauen Adriana Orsini und Julia Farnese in seiner Nähe waren, denn er konnte nicht leben ohne weibliche Umgebung. Die Mutter seiner Kinder, Vanozza Catanei, war durch ihre Heirat versorgt und scheinbar von ihm getrennt, obgleich die Stellung ihres Gatten ihr den ungehinderten Zutritt zum Vatikan gewährte; sie war längst ersetzt und er kannte die unbedingte Hingabe derjenigen beiden Damen, die jetzt gleichsam seine Familie bildeten; er wußte, daß sie ihn abgöttisch verehrten und nichts auf der Welt sie verhindert hätte, alles gutzuheißen, was er verordnete oder geschehen ließ.

Mit lauerndem Scharfblick beobachtete Cäsar Borgia die Personen, welche augenblicklich auf der Bühne der geschichtlichen Ereignisse wirkten. Es entsprach seiner Natur, alles in der Welt nur unter dem Gesichtspunkte des eignen Vorteils zu betrachten, und so überlegte er bereits, auf welche Weise er für sich aus diesem verhängnißvollen Kriege den Weg zu Macht und Reichtum finden könne.

Merkwürdigerweise durchschauten weder der Papst noch die Frauen, die ihm nahe standen, den Charakter Cäsars, der genug bestechende Eigenschaften 220 besaß, um jene zu täuschen. Nur seine Mutter Vanozza hatte von jeher ein Grauen vor diesem Sohne, denn sie hegte die Ahnung, er sei der Dämon, durch den das Schicksal das Haus Borgia für allen Frevel strafen werde. Cäsar überwachte seinen Vater mit Argusaugen. Sobald er bemerkte, daß irgend ein Mann die Gunst des Papstes besaß, suchte er ihn durch jedes Mittel zu beseitigen. Der Papst schien gleichsam das Werkzeug in Cäsars Hand, und der Vater fürchtete den Sohn als seinen Meister.

Cäsar Borgia war schön von Gestalt und riesenmäßig stark. Durch die spanische Herkunft der Familie Borgia waren mancherlei neue Moden in Rom aufgekommen. Auch Stiergefechte hatten diese Spanier dort hingebracht. Auf dem mit Schranken umgebenen Platze vor dem Vatikan tötete Cäsar einmal sechs wilde Stiere, gegen die er zu Pferde kämpfte. Dem ersten schlug er auf einen Hieb den Kopf herunter. Ganz Rom staunte. Nicht geringer als seine Kraft war seine Unbändigkeit. Messer Pierrotto, einen Vertrauten seines Vaters, der ihm unbequem war, erstach er unter des Papstes eignem Mantel, wohin jener sich geflüchtet hatte, so daß dem Papste das Blut ins Gesicht spritzte.

Da er der Liebling des Papstes war, so gab dieser auch jetzt viel auf seinen Rat, und mit der Schlauheit des Fuchses riet Cäsar, für den Augenblick alles zu opfern, um wenigstens vor den Augen der Welt die päpstliche Würde wieder zur Geltung zu bringen. Wirklich nahmen die Verhandlungen einen versöhnlichen Charakter an und die Friedensbedingungen wurden nach kurzer Zeit festgestellt. Der König versprach, den Papst als Freund und Bundesgenossen zu betrachten und seine päpstliche Autorität in jeder Weise anzuerkennen, aber er verlangte die Übergabe der wichtigsten Festungen und daß Cäsar Borgia der französischen Armee vier Monate lang gleichsam als Geisel folgen solle. Der Papst ging auf alle diese Bedingungen ein.

Er verließ in großem Gepränge die Engelsburg und begab sich in den Vatikan, woselbst dann der König Karl III. vor ihm, als dem geheiligten Haupte der Kirche, erschien.

Dieser Empfang wurde mit dem vollen Pomp, dessen der päpstliche Hof fähig war, in Szene gesetzt. Der König versammelte sich mit seinem ganzen Hofe im großen Saale. Dann erschienen sämtliche Kardinäle und der Hofstaat des Papstes, worauf dieser selbst im vollen Ornate mit der schimmernden Tiara, im prachtvoll vergoldeten Sessel sitzend, auf den Schultern seiner Kämmerer, zu beiden Seiten die mächtigen Pfauenwedel, hereingetragen wurde. Als der päpstliche Sessel unter dem Thronhimmel niedergelassen war, näherte sich demselben der König und küßte knieend den Fuß des Papstes, was nach dem Könige das ganze Gefolge der edelsten französischen Ritter gleichfalls that. Zwei geistlichen Würdenträgern, welche sich im Gefolge des Königs befanden, darunter der Bischof d'Amboise, überreichte der Papst alsdann den Kardinalshut und ein anwesender Notar nahm über diese Zeremonie ein umständliches Aktenstück auf.

222 Somit hatte der Papst seine volle geistliche Würde wieder erlangt, und Cäsar Borgia, der die Seele dieser Vorgänge war, fand Gelegenheit, die Kriegskunst des französischen Heeres während der Monate, die er als Geisel daselbst verweilte, ganz in der Nähe zu beobachten.

Wie bereits erwähnt, drangen die Franzosen fast ohne Widerstand von Ort zu Ort weiter vor, und Papst Alexander konnte später das spöttische Wort auf sie anwenden, daß sie Italien mit Hilfe der Kreide und der hölzernen Sporen erobert hätten. Wo sie nämlich hinkamen, machten sie an die Häuser und Proviantmagazine, die sie in Beschlag nehmen wollten, mit Kreide ein Zeichen und außerdem trieben die Soldaten überall die Pferde und Maultiere fort, wozu sie sich in Ermangelung wirklicher Sporen Holzstücke an die Fersen befestigten.

Das Einzige, was alle Parteien fortwährend in große Verlegenheit setzte, war der Mangel an barem Gelde, und der Wucher stand allenthalben in seiner schönsten Blüte.

Die vorsichtigen Juden, welche mit dem angebornen Spürsinne ihrer Rasse genau wußten, wie die Verhältnisse lagen, machten überall glänzende Geschäfte, indem sie das Geld zu hohen Zinsen beschafften. War der Krieg vorüber, so durften sie hoffen, daß ihr Reichtum sich verdreifacht hatte, aber sie mußten während der Okkupation eine Zeit fortwährender Todesangst und Besorgnis durchleben, denn es konnte jeden Augenblick einer der Parteien einfallen, sie für vogelfrei zu erklären und ihnen ihre ganze Habe wegzunehmen. Zu ihrer eignen Sicherheit hielten sie sich daher während dieser ganzen Zeit vorsichtig zurück und beobachteten alle Schutzmaßregeln, damit keine Spione und Verräter sich in ihre Wohnungen einschleichen und ihre Schätze auskundschaften konnten.

Da geschah es denn an einem Freitag, des Abends, kurz nach dem Einzug der Franzosen, daß ein Mann am eisernen Gitterthore, welches das Ghetto abschloß, Einlaß begehrte. Sein Wesen war so seltsam erregt und er konnte die Ungeduld, die ihn beherrschte, so wenig bemeistern, daß der jüdische Wächter im Innern ängstlich wurde und nicht öffnen wollte. Zwar kannte der Fremde die jüdischen Gebräuche, und auch seine Züge sprachen für seine Abstammung vom auserwählten Volke, aber alles dies konnte auch ein Spion zur Schau tragen, um den Wächter zu täuschen. Letzterer rief daher einige Vorstände der Gemeinde herbei, denn gerade an jenem Abend, wo der Sabbat begann, war doppelte Vorsicht geboten.

Der Fremde behauptete, er sei im Ghetto heimisch, der heilkundige Arzt Isaak Yem; aber das eben schien dem Wächter unwahrscheinlich und er wollte den Mann nicht einlassen, ohne die Zustimmung der Ältesten.

Diese kamen und waren nicht wenig erstaunt, als sie wirklich in dem Manne draußen den einst so hochgeachteten, verschwundenen Arzt wieder erkannten, dessen trauriges Schicksal unvergessen war. Zwar gealtert und im 223 Aussehen verändert, war er doch kenntlich an den Gesichtszügen und der Stimme, und unzweifelhaft derjenige, für den er sich ausgab. Die Ältesten wollten wissen, woher Yem komme und er erwiderte ihnen, daß er lange Zeit in der Welt umhergeirrt, bis er endlich jetzt mit der französischen Armee und unter dem Schutze des tapfern Herrn von Torcy in Rom angelangt sei.

Die Ältesten der jüdischen Gemeinde ließen den heimgekehrten Arzt einige Zeit warten, während sie sich zurückzogen; aber endlich öffnete sich ihm das Thor, und er durfte in das Ghetto, diese Stätte der Verbannung, an welche sich für ihn die teuersten Erinnerungen knüpften, hereinkommen.

Welcher Art die Gefühle waren, die ihn beim Anblick dieser wohlbekannten Stätte, wo er gleich seinen Brüdern geächtet, aber doch glücklich und zufrieden seiner Familie und seinem Berufe gelebt hatte, ergriffen, ist nicht in Worten auszudrücken; mit auf die Brust gepreßten Händen ging er vorwärts und seine Lippen murmelten eines jener Gebete, in denen sein Volk den Willen des Herrn preist und sich demselben unbedingt unterwirft.

Wie an jedem Sabbatabend, saßen heute überall die Leute vor den Thüren, die Frauen fast alle in weißen Gewändern und schön geschmückt, in feierlicher Stimmung, aber alle heiter und guten Mutes, denn in diesen festlichen Stunden wurden die täglichen Sorgen verbannt, und man dachte nur an Gott und an die Familie. Yem sah die Männer, Frauen und Kinder beisammen sitzen, und seine Sehnsucht, seine Ungeduld wuchs. Wie mochte er Lea, sein Weib, wiederfinden? War sie überhaupt noch am Leben? Er hatte diese Frage, die ihm auf dem Herzen wie auf den Lippen brannte, noch nicht zu thun gewagt, denn er fürchtete sich vor der Antwort. Aber in seiner Seele regte sich ein leichter Schimmer von Hoffnung, der in den letzten Wochen mit dem neuen Leben in ihm aufgetaucht war.

So kam er bis in die Nähe seines Hauses, und sein Herz klopfte fast hörbar, als er wirklich an der Schwelle desselben eine weibliche Gestalt, gleich den andern im weißen Gewande, die Hände im Schoße gefaltet, sitzen sah, in welcher er mit freudigem Schreck sofort sein Weib erkannte.

Nun drängten sich tausend Fragen bei ihm auf. Wie würde sie ihn begrüßen? Er hatte sie verlassen, nachdem er ihre Kinder getötet hatte. Mußte sie ihn nicht hassen, ihm nicht fluchen, ihn nicht wegstoßen von der Behausung, wo sie einst so glücklich gelebt hatten? Wenn sie ihre Söhne von ihm begehrte, was sollte er sagen? Zitternd kam er näher, und er fühlte wie die Aufregung ihm fast den Atem raubte und seine Stimme beinahe erstickte. Jetzt stand er vor ihr. Sie saß, den Kopf vorgeneigt, so daß er ihr Gesicht nicht deutlich sehen konnte, und ihre Hände lagen noch immer gefaltet, ein Bild stiller Ergebung.

Er wartete eine Weile, aber da sie sich nicht regte, griff er nach ihrer rechten Hand. Nun erhob sie erstaunt das Gesicht zu ihm auf, aber sie schwieg. Da sagte er mit gepreßter und hierdurch unkenntlicher Stimme:

224 »Sei gegrüßt, Lea!«

Nach der Sitte des Volkes standen überall Lichter in den geöffneten Hausthüren, und es fiel auch der Schein einer Lampe aus dem Hause auf Leas gramdurchfurchtes, aber mildes und ergebenes Gesicht.

»Sei auch du gegrüßt«, sagte sie sanft, und setzte nach einer Pause hinzu: »Wer bist du? Ich kenne deine Stimme nicht. Was treibt den Fremdling, daß er die Einsame am heiligen Tage heimsucht?«

Ein heftiger Schreck durchfuhr Yems Glieder beim Anhören dieser Worte. Er warf noch einen Blick auf das lang entbehrte Antlitz seines geliebten Weibes, das sich wieder stumm ihm zukehrte. Heiliger Gott! Das hatte er nicht erwartet! War denn Jehovas Zorn noch nicht erschöpft? Unwillkürlich entfuhr ihm der Jammerruf:

»Lea, mein Weib! kennst du mich denn nicht? Ist dein Auge erblindet, daß du die Züge deines Gatten nicht unterscheiden kannst? O Jammer über allen Jammer, daß ich dich so wiederfinden muß!«

Nun hatte ihn Lea an der Stimme erkannt. Ein Gefühl unaussprechlichen Glückes durchrieselte ihr ganzes Wesen. Sie sprang aus und wollte ihn umfassen, aber mit dem markerschütternden Freudenruf: »Isaak! du bist es! Kommst du endlich wieder?« sank sie ohnmächtig zusammen.

Bei diesen Lauten stritten in des Mannes Seele Jammer und Jubel mächtig miteinander. Blind fand er sein Weib wieder, aber sie fluchte ihm nicht und wendete sich nicht von ihm ab. Was hatte die Ärmste alles erlitten und geduldet, und doch war die Liebe in ihrem Herzen nicht erloschen, das hatte er deutlich gefühlt bei dem Klange, mit welchem sie seinen Namen gerufen.

Er ergriff die hingesunkene Gestalt und trug sie auf seinen Armen in das Haus, preßte sie an sein Herz und küßte ihre erblindeten Augen.

Alles im Hause war noch wie sonst, jedes Stück stand an dem frühern Platze und war unversehrt. So fand er denn auch das wohlbekannte Schlafzimmer. Dort legte er die teure Last auf das Lager und kniete neben ihr auf den Boden nieder. In liebevollem Tone flüsterte er ihren Namen, sobald ihm ihre Züge verrieten, daß ihr Bewußtsein wiederkehrte.

Ein tiefer Seufzer und die Frage. »Ist es denn wahr?« verrieten die Rückkehr der Besinnung.

Einstweilen bedurfte es nur weniger Worte von seiner Seite, denn die Vergangenheit versank vor dem Eindrucke der Gegenwart. Sie hatten sich wieder; wie und nach welchen Erlebnissen, kam vorläufig nicht in Betracht. Aber nachdem sie lange genug dieses beseligende Gefühl genossen hatten, fiel es Lea ein, daß auch andre Menschen ein Recht hatten, an ihrer Freude teil zu nehmen.

»Habe Geduld«, sagte sie freudigen Mutes zu ihrem Gatten, »ich muß gehen und unsern Freunden mitteilen, was der Herr an mir gethan hat. Sein Name sei gelobt, denn seine Hand hat mich errettet aus Not und Trübsal.«

225 Ihr war jeder Tritt und jeder Winkel im Hause so bekannt, daß sie sich darin wie mit sehenden Augen bewegte. Somit eilte sie denn die Treppe hinab und zu ihrer Nachbarin, die ihr stets hilfreiche Hand geleistet und in allen Lebenslagen zur Seite gestanden hatte.

»Er ist wieder gekommen«, rief sie aus, »meine Hoffnung hat sich erfüllt. Der Herr hat mir meinen Gatten zurückgesendet, sein Name sei gelobt.«

Dann kam sie wieder in das Haus und eilte zu ihrem Manne, den sie aufforderte, zum ersten Male wieder mit ihr das Mahl einzunehmen, das schon bereit stand, weil am Sabbat keine Arbeit verrichtet und keine Speise bereitet werden durfte.

Aber kaum saßen sie vereint, so kamen auch schon die Nachbarn mit ihren Frauen, alle in ihren Festtagsgewändern, um den wiedergekehrten Freund zu begrüßen, denn im ganzen Ghetto war es bereits bekannt geworden, daß Isaak Yem zurückgekommen sei. Und so teilten sie alle die Freude der blinden Frau und sprachen herzliche Worte mit Yem, und niemand hegte Groll gegen ihn wegen der Vergangenheit. Die Nachbarn gingen dann wieder fort, um es den beiden Gatten zu überlassen, sich ihre Schicksale gegenseitig mitzuteilen und unter einander einig zu werden über das Leben, das die Zukunft ihnen bieten konnte.

Yem konnte nicht Worte genug finden, um das Unglück seines Weibes zu beklagen, aber sie selbst sprach gar nicht von sich, sondern bedauerte nur die schreckliche Zeit, welche ihr Mann verlassen in weiter Ferne verlebt hatte.

Als man ihr damals die beiden blühenden Söhne als Leichen in das Haus brachte, war sie gleichfalls der Verzweiflung nahe; aber die Nachbarn und Freunde standen ihr bei, und ihr Jammer machte sich Luft durch unaufhörlich fließende Thränen. Sie erwartete ihren Mann Tag für Tag, um den unersetzlichen Verlust, für den ihr Herz ihn nicht verantwortlich machte, gemeinsam zu betrauern. Und als er nicht kam, da wußte sie, daß er in Wahn und Verzweiflung in die weite Welt gegangen war, weil er geglaubt hatte, ihren Jammer nicht ertragen zu können.

Und sie bat und flehte zu Gott, er möge ihn bewahren und ihm den Frieden wiederschenken, damit er getröstet zu ihr zurückkehrte. Die Glaubensgenossen boten ihr Zuspruch und blieben ihr in schweren Stunden nahe. Tage, Wochen, Monate und Jahre harrte sie in gottergebener Fassung auf den geliebten Mann und wenn sie einmal daran dachte, er könne vielleicht den Tod gefunden haben, blieb sie doch ihrem Vorsatze getreu und wartete, ob gewisse Nachricht zu ihr käme, denn sie hielt fest an der Hoffnung. Daß ihr Isaak selbst seinem Leben ein Ende gemacht habe, wie man von verschiedenen Seiten als wahrscheinlich annahm, glaubte sie selbst nicht.

Da die arme Verlassene aber unaufhörlich weinte und ihrem Gram kein Ziel setzen konnte, erblindete sie endlich, oder vielmehr, das Licht ihrer Augen trübte sich nach und nach, bis zuletzt völlige Finsternis über sie hereinbrach.

226 Alles dies erzählte Lea nun ihrem wiedergekehrten Gatten. Er konnte kaum Worte finden, ihr Leid zu beklagen und ihre Treue zu rühmen. Sie aber sagte ihm, sie habe geahnt, wie die Macht der Verzweiflung seinen Geist umdüstert habe. So sprachen sie sich aus, und nach der furchtbaren Zeit waren diese ersten Stunden des Beisammenseins eine neue Zeit des Friedens und Glückes.

Aber schon bei dieser ersten Unterredung regte sich in Yem der Beruf, der selbst in der dunkelsten Zeit seines Verhängnisses in seinem Geiste nicht untergegangen war. Er untersuchte Leas Augen und kam sofort zu der Überzeugung, daß hier die Sehkraft nur verdunkelt, aber nicht erloschen, folglich noch Hilfe möglich sei. Kein andrer Arzt wäre im stande gewesen, die Heilung zu unternehmen, denn gerade in bezug auf die Krankheiten des Auges herrschten damals die irrigsten Ansichten, so daß Yem schon früher oft auf Widerstand gestoßen war, wenn er nach seiner eignen Überzeugung durch eine kühne Operation kranken Augen die verhüllte Sehkraft wiedergeben wollte.

Sein Weib vertraute ihm unbedingt und würde seiner heilkundigen Hand jeden Augenblick ihr Leben anvertraut haben; sie war ohne Widerrede bereit, sich allen seinen Anordnungen geduldig zu unterwerfen.

Yem kehrte noch einmal zu dem Chevalier von Torcy, seinem Beschützer, zurück und teilte diesem die ganze Sachlage mit, worauf der edle Herr ihn sofort jeder Verpflichtung entband und ihm das beste Glück wünschte.

Der Durst nach Rache hatte den unglücklichen Yem nach Rom zurückgeführt, aber als er sein Weib wiederfand und die unerschöpfliche Gottergebenheit ihres Gemüths erkannte, opferte er seinen Haß auf dem Altare des Herrn, der sein auserwähltes Volk seit Jahrtausenden durch die schwersten Prüfungen zur Erkenntnis leitete. In Jehovas Hand lag Strafe und Belohnung, denn er allein trifft die Herzen und durchschaut die Gedanken der Menschen.

Nichts andres hatte Yem nun im Sinne als die Heilung der Blindheit seines treuen Weibes. Schwere Stunden mußten sie beide noch durchleben, denn es galt auch hier wieder einen Kampf gegen das Vorurteil. Selbst von seinen treuesten Freunden mußte Yem manches zweifelnde und mißbilligende Wort vernehmen. Aber Lea vertraute auf ihn, und nach Wochen der vorsichtigsten Behandlung genossen beide das unaussprechliche Glück, daß Leas Augen sich wirklich dem Lichte wieder erschlossen.

Diese glückliche Heilung erhöhte den Ruf des gelehrten Arztes und bald stand seine Geltung wieder so hoch wie früher. Selbst Pico de Mirandola, der kurz darauf an den päpstlichen Hof kam, suchte seine Bekanntschaft und ließ sich von ihm in einzelnen Zweigen der medizinischen Wissenschaften unterrichten.

Geehrt von seinen Stammesgenossen, verlebte Yem mit seinem Weibe noch manches Jahr stillen häuslichen Glückes, dessen Strahlen weit hinaus auf die leidende Menschheit fielen. 227

 


 


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