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Tief im Gebirge, an den Abhängen der Apenninen, mehrere Meilen von Florenz entfernt, befand sich ein Kastell, welches gleich den meisten befestigten Landsitzen so umfangreich und ausgedehnt war, daß ein kleines Heer darin Platz finden konnte. Diese Besitzungen gehörten durchgängig dem vornehmsten Adel oder den großen Patrizierfamilien des Landes, und wenn sie zu einem zeitweiligen Aufenthalte gewählt wurden, boten sie allerdings auch das Bild eines Heerlagers, weil diese Familien und jeder ihrer Angehörigen sich fortwährend mit bewaffneter Macht umgeben mußten, um den Gefahren zu entgehen, welche bei den ewigen Feindseligkeiten auf Weg und Steg lauerten. Da konnte es geschehen, daß irgend ein Gegner nur auf den Augenblick wartete, wo er die Gemahlin oder eines der Kinder seines Feindes in seine Gewalt bekam, um dann die Gewährung aller Forderungen oder ein hohes Lösegeld zu erpressen, oder vielleicht auch seine persönliche Rache grausam zu kühlen.
Jahrelang war das Kastell Buenfidardo unbewohnt gewesen und nur durch den Kastellan und seine Familie einigermaßen in Ordnung gehalten worden; da endlich ließ der jetzige Besitzer, Wilhelm Pazzi, der es geerbt hatte, dasselbe wohnlich herrichten, um sich mit seiner Familie dahin zurückzuziehen. Ungern und mit schwerem Herzen hatte er den Entschluß gefaßt, die trauliche Villa nahe bei Florenz auf ungewisse Zeit zu verlassen, aber die Umstände ließen es ratsam erscheinen; denn der immer höher steigende Stern Lorenzos von Medici brachte mancherlei Gefahren für die ihm nahestehenden Menschen. Seit der Heirat seiner Tochter Magdalena mit dem Prinzen Cybo war ein tiefes Zerwürfnis zwischen dem Hause Medici und dem letzten der Pazzi entstanden. Magdalena hatte ihre Neigung für Peter Pazzi nicht nur den Eltern gegenüber eingestanden, sondern auch ihrem jungen Gatten offen erklärt, daß sie ihn nur nach dem Willen ihrer Eltern geheiratet habe, während ihr Herz dem Jugendfreunde gehöre. Durch diese Unvorsichtigkeit hatte sie den Bruch zwischen den beiden Familien herbeigeführt, und die besorgte Blanca Pazzi bestand endlich darauf, mit ihrer ganzen Familie Florenz zu verlassen, bis sich die Zukunft ihrer Kinder 104 endgültig gestaltet habe, so daß die Familie Medici nicht mehr befürchten könne, die Anwesenheit Peters werde die junge Ehe Magdalenas stören.
Das friedliche Familienleben wurde auf Buenfidardo ungestört fortgesetzt. Die Einsamkeit des Aufenthaltes brachte einen noch engeren Anschluß hervor. Im Gegensatze zu den meisten andern Grundbesitzern, welche nichts weiter im Auge hatten als ihren augenblicklichen Vorteil und welche ihre Unterthanen daher möglichst drückten und aussaugten, verfolgte Wilhelm Pazzi den Zweck, überall Verbesserungen einzuführen und das Los seiner Untergebenen möglichst zu heben. Sein Beispiel rüttelte die umwohnenden Landleute aus ihrer gewohnten Trägheit auf, und schon nach einigen Jahren konnte man das Besitztum für eine wahre Musterwirtschaft halten, so trefflich gedieh alles durch den Einfluß des Rates und der Fürsorge des wohlwollenden Besitzers. Da wurden Sümpfe ausgetrocknet, Wasserleitungen angelegt, die Felder, die Baumpflanzungen, die Wälder fanden sorgfältige Pflege und brachten weit größeren Ertrag, als dies in früherer Zeit der Fall gewesen war. Der Viehzucht wurde größere Aufmerksamkeit geschenkt, und bald zeigten sich nach allen Seiten hin die lohnenden Folgen dieser ausdauernden Bestrebungen. Aber nicht nur der Herr dieses Besitztums, sondern auch seine Frau erschien als guter Genius für die Bewohner der Umgegend. Sie nahm sich der Frauen und Mädchen an, ordnete den Unterricht für die Kinder und sorgte für Beschäftigung der verwahrlosten älteren Frauen. Sie gab Almosen, wo es durchaus nötig war, aber sie suchte mit Eifer dahin zu wirken, daß sich die Leute aus eigner Kraft empor arbeiteten und selbst Hilfe schafften. Anfangs war dies keine leichte Aufgabe. Das niedere Volk war in schlaffe Gleichgültigkeit und gedankenlose Trägheit versunken, so daß selbst die besten Absichten auf Widersetzlichkeiten stießen. Aber Blanca ließ sich nicht abschrecken und blieb mit unermüdlicher Strenge bei der Durchführung ihrer guten Vorsätze, bis zuletzt die edleren Keime doch Wurzel faßten und das Volk selbst die heilsame Wirkung empfand.
Im ganzen geschah es selten, daß fremde Wanderer in diese glückliche Abgeschiedenheit gelangten. Zuweilen durchstreifte ein Maler die Gegend, was zu geschehen pflegte, wenn solche Künstler neue Motive aus der Natur oder dem Volksleben schöpfen wollten. Dies war wieder eines Tages der Fall. Ein junger Künstler war mit sehr geringer Barschaft und den notwendigsten Malgerätschaften ausgezogen, um auf gut Glück im Gebirge umher zu streifen und zu erwarten, welche Eindrücke sein günstiges Geschick ihm zuführen werde. Bisher war die Ausbeute gering gewesen, denn sein eigentliches Feld war nicht die Landschaftsmalerei, obgleich er auch diese Richtung seiner Kunst so weit betrieb, als es ihm für seinen eigentlichen Beruf nützlich erschien. Was er suchte, waren Motive aus dem Volksleben, die er teils zu lieblichen Darstellungen, teils auch zu Szenen aus dem Leben einfacher Menschen verwendete. Wohl hatte er hier und da einen charakteristischen Kopf oder eine anmutige Gestalt 105 gezeichnet, aber es fehlte ihm doch noch an einigen recht anziehenden und überraschenden Erscheinungen, die sein künstlerisches Gemüt begeistern konnten.
Da wurde er plötzlich eines Abends durch den Anblick einer lieblichen Gruppe wunderbar ergriffen und sofort in seinen Empfindungen mächtig angeregt. Die Lage des Kastells Buenfidardo hatte ihn angezogen und er war bis in die Nähe desselben vorgedrungen, als er am Eingange des kleinen nahegelegenen Dörfchens ein junges Mädchen sitzen sah, welches ein Kind im Arme hielt, während ein kleiner Knabe sich an ihr Knie lehnte und aufmerksam in ihr Gesicht sah. Die Kleidung des jungen Mädchens ließ schwer auf ihren Stand schließen, obgleich man sofort an den Gewändern, sowie an ihrer Haltung erkennen konnte, daß sie nicht von Dorfbewohnern abstammte. Sie war einfach in ein blaues Gewand gekleidet, aus welchem unten ein hellerer Rock hervorblickte. Am Halse hatte das Kleid einen viereckigen Ausschnitt und war an der schön gewölbten jugendlichen Brust mit zierlichen Stickereien geschmückt. Der schlanke Nacken trug ein reizendes Köpfchen, das durch einen Schleier, der gleichfalls mit einer Randstickerei verziert war, vor den Sonnenstrahlen geschützt wurde. Einfach gescheitelt umrahmte das dunkelbraune Haar ein Gesicht von so unbeschreiblich lieblichem Ausdrucke, daß der bewundernde Maler sich daran gar nicht satt sehen konnte. Sie hatte den Kopf etwas gegen das Kind auf ihrem Arme geneigt, ihre großen braunen Augen blickten mit rührender Teilnahme auf das halbnackte Geschöpfchen, und ihre reizenden Lippen waren etwas geöffnet, da sie offenbar Worte der Beruhigung flüsterte. Der Knabe, der an ihrer Seite stand, mochte vier oder fünf Jahre alt sein und war ebenfalls nur dürftig mit einem Hemdchen bekleidet. Er blickte bald auf das junge Weib, bald auf das Kind, welches gleichfalls in das Gesicht der Frauengestalt sah. Es war eine überaus liebliche Gruppe. Wenngleich zweifelhaft blieb, ob die Kinder in näherer Beziehung zu der jugendlichen weiblichen Erscheinung mit dem kindlichen Gesichtsausdrucke standen, so war doch der liebevolle Ernst in den Zügen dieser letzteren so rührend und teilnahmsvoll, daß der Maler sich gleichsam vor einem anziehenden Rätsel befand.
Längere Zeit hatte der junge Mann unbeweglich gestanden und die Gruppe betrachtet. Man sagt, der menschliche Blick besitze magnetische Kraft, und so mochte es kommen, daß das Mädchen plötzlich unwillkürlich die schönen Augen erhob und sie gerade auf das Gesicht des jungen Mannes richtete, der unfern in sinnender Bewunderung stand. Sie errötete leicht, aber sie verharrte, ohne ihre Stellung zu ändern. Der Ausdruck ihres Gesichtes und ihre ganze Haltung nahmen jedoch etwas so Hoheitsvolles an, daß sie aufs neue dem entzückten Künstler wie eine Erscheinung aus höheren Welten vorkam.
Er war eben im Begriffe, die Verlegenheit der Situation mit einer höflichen Anrede zu beendigen, als er durch das Hinzutreten einer Frau im mittleren Lebensalter daran verhindert wurde. Letztere trat aus einem nahe gelegenen 106 ärmlichen Bauernhäuschen und ging gerade auf das junge Mädchen mit den Kindern zu. Das geübte Auge des Malers erkannte sofort, daß er hier Mutter und Tochter vor sich habe, erstere, das Bild reif entwickelter Frauenschönheit, noch ohne jede Spur des Verblühens, und letztere, die eben aufblühende Knospe, welche mädchenhafte Schüchternheit mit allen Reizen ihrer Jahre verband. Die ältere Dame zeigte eine kummervolle Miene und sagte, indem sie auf die jüngere zutrat.
»Die arme Marianna wird sich kaum wieder erholen. Ich habe ihr gegeben, was ich bei mir hatte und ihr Trost zugesprochen, soviel ich vermochte. Bleibe noch eine Weile bei den Kindern; ich werde sofort jemand vom Kastell senden, um die Kranke zu pflegen und die Kinder in Bewachung zu nehmen.«
Nachdem sie dies in bewegtem Eifer gesagt hatte, blickte sie auf und gewahrte den jungen Maler. Sie sah ihn überrascht und fragend an, mit einer Miene, in welcher sich die Würde der vornehmen Dame mit dem Wohlwollen eines edlen Herzens mischte.
Der junge Mann trat einige Schritte näher, zog das Barett, grüßte sehr höflich und redete die ältere Dame mit den Worten an.
»Verzeihet, Madonna, wenn ich so kühn bin, das Wort an Euch zu richten. Ich bedaure, Euer idyllisches Leben hier durch mein plötzliches Erscheinen an dieser Stelle zu stören. Ihr sehet in mir einen Künstler, der die Umgegend durchstreift, um einmal etwas andres von der Natur kennen zu lernen, als was früher der Aufenthalt auf dem kleinen Schlosse meines Vaters und zuletzt die nähere Umgebung von Florenz geboten hat.«
Auf diese Worte blickten die beiden Frauen den Künstler etwas aufmerksamer an, und da seine regelmäßigen Züge und der edle Ausdruck derselben sehr für ihn einnahmen, antwortete die ältere Frau in freundlichem Tone.
»Ihr kommt aus Florenz?« fragte sie, und man konnte ihrer Stimme anmerken, daß auch dieser Umstand bei ihr das Interesse für den jungen Mann rege machte.
»Allerdings«, entgegnete der Künstler, »komme ich aus dem schönen Florenz, wo ich schon seit mehreren Jahren dem Studium der edlen Malerkunst mich gewidmet habe.«
»Mich wundert alsdann«, erwiderte die stattliche Frau, »daß ich niemals Eure Züge gesehen habe. Vielleicht darf ich auch einiges Befremden darüber äußern, daß mein Gesicht und das meiner Tochter Euch ganz unbekannt sind. Zwar ließe sich dies begreiflich finden, denn wir haben etwas zurückgezogen gelebt und sind nun schon längere Zeit ganz von der lieben Vaterstadt entfernt.«
»Nicht doch, Madonna«, erwiderte mit Bescheidenheit der Künstler, »die Ursache liegt ganz einfach in meinem eignen Unwert und in dem Umstande, daß ich mich bis jetzt noch in keiner Weise hervorgethan habe. Zwar darf ich behaupten, daß ich im Atelier meines Lehrers, des großen Meisters Verrocchio, kein 107 Stubenhocker gewesen bin und mich auch sonst mit meinen Freunden tüchtig umhergetummelt habe, aber die Gesellschaft edler Frauen habe ich bisher noch wenig aufgesucht, und wie sollte ein unberühmter Mensch, gleich mir, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Mein Name ist Leonardo da Vinci, ich bin eines kleinen Edelmanns unbemittelter Sohn, dessen Besitztum jenen Namen trägt. Ich habe mich dem Studium aller schönen und nützlichen Künste ergeben. Nebenbei habe ich mich aber auch der Übung in ritterlichen Spielen beflissen und daher noch immer nicht genug Zeit auf meinen eigentlichen Beruf als Maler verwendet.«
»Irre ich nicht«, entgegnete die schöne Frau hierauf, »so hat mein Sohn mir von Euch erzählt. Ihr sehet nämlich die Gemahlin Wilhelm Pazzis, Blanca von Medici, vor Euch, und dies ist meine Tochter Maria; aber ich muß eilen, denn es handelt sich um die Sorge für eine schwer erkrankte Frau, die hier in der ärmlichen Behausung liegt. Wollt Ihr mich nach dem Kastell begleiten und dort unser Gast sein, so wird es mich freuen, denn in unsrer Abgeschiedenheit ist ein junger Künstler wie Ihr eine erwünschte Gesellschaft, und Euer Aussehen empfiehlt Euch. Mein Sohn wird sich gewiß freuen, mit Euch einige Tage die Gegend zu durchstreifen.«
»Wie soll ich für Eure Güte mich dankbar erzeigen, edle Frau«, entgegnete der Maler, »und wie mich der Ehre würdig machen, der Gast eines so hoch angesehenen Hauses zu sein? Aber ich nehme Euer Anerbieten freudig an, nur möchte ich eine herzliche Bitte daran knüpfen. Ich vernahm vorhin, daß Ihr dem Fräulein den Auftrag erteiltet, bei den Kindern hier zu verweilen, bis Ihr jemand vom Kastell gesendet hättet. Nun müßt Ihr wissen, daß wir Künstler mit dem Genius, dem wir dienen, in einem eigentümlichen Verhältnisse stehen. Dieser Genius kommt nämlich oft ganz plötzlich und unerwartet, um uns zu seinem Dienste aufzufordern, und das sind kostbare Augenblicke, die man nicht unbenützt verstreichen lassen darf. Wollt Ihr mir gestatten, hier in der Nähe des Fräuleins zu verweilen, bis sie diesen Ort verläßt, damit ich sie genau so, wie sie zuerst meinen Blicken erschien, zeichnen kann? Mich dünkt, daß ich niemals ein reineres und erhabeneres Bild edler Jungfräulichkeit erblickt habe, und wer weiß, ob ich es jemals wieder in dieser Vollkommenheit sehen werde. Überzeugt Euch selbst, edle Frau, wie Eure Tochter das hübsche Kind im Arme hält und der krausköpfige Knabe an ihrer Seite unsern Worten lauscht, ohne doch wahrscheinlich deren Sinn zu verstehen; ist es nicht eine wunderbare Gruppe, wie sie ein Maler nicht besser zum Vorbild der jungfräulichen Mutter unsres Herrn in Gesellschaft des Knaben Johannes wünschen kann? Ihr dürft mir die Bitte nicht abschlagen, denn ich fühle klar und deutlich, daß eine heilige Begeisterung meine Seele ergriffen hat, wie ich sie nie zuvor empfunden habe.«
Die beiden Frauen waren überrascht. Maria errötete tief und senkte schamvoll das reizende Gesicht etwas tiefer, aber die Mutter konnte dem jungen Künstler nicht unrecht geben und sie fühlte sich in ihrem Kinde geschmeichelt. 108 Dennoch zögerte sie eine Weile und überlegte, ob es nicht sündhaft sei, des jungen Künstlers Begehren zu erfüllen. Dieser ahnte, was in der Seele der bescheidenen Frau vorging und sagte:
»Ihr stammt aus dem Hause Medici und solltet bezweifeln können, daß die wahre Kunst heilig ist? Muß ich Euch an das liebliche Bild von Alessandro Botticelli erinnern, auf welchem Eure beiden Brüder der heiligen Jungfrau das Buch vorhalten, in welches sie sich einzeichnet? Gilt es nicht seit Jahren in den höheren Kreisen in Florenz als eine Auszeichnung, wenn ein berühmter Maler die Züge einer Dame durch seinen Pinsel der Vergänglichkeit entzieht? Noch bin ich zwar kein berühmter Mann, aber da eine so reine Begeisterung mich entflammt, fühle ich mich zu den höchsten Zielen der Kunst berufen.«
Blanca hatte nicht viel Zeit zur Überlegung. Wer konnte in der Einsamkeit von Kastell Buenfidardo erwarten, daß gefeierte Maler dort eintreffen würden? Immerhin war es eine Huldigung so zartsinniger und frommer Art, daß Frau Blanca keinen Grund finden konnte, sie zurückzuweisen. Zwar versuchte sie noch eine halbgestammelte Einwendung, aber sie fühlte selbst die Haltlosigkeit derselben und endlich nickte sie freundlich Gewährung, während sie sich eilig auf den Weg zum Kastell machte.
Ein beengendes Gefühl erfaßte den sonst so gewandt und sicher auftretenden Maler, als er sich nun mit dem jungen Mädchen allein befand. Die beiden Kinder schmiegten sich recht innig an ihre Beschützerin, von welcher sie schon seit frühester Zeit freundliche Worte und kleine Geschenke zu erhalten gewohnt waren.
Die Leute im Dorfe befanden sich augenblicklich fast sämtlich in den Häusern oder auf dem Felde, wo sie beschäftigt waren, und niemand störte das trauliche Beisammensein. Leonardo hatte sich aus Holzstücken einen Sitz zurecht gemacht, eine Mappe geöffnet und begab sich nun daran, mit Kreide das liebliche Bild vor ihm auf das Papier zu bringen. Die beiden Kinder sahen schweigend und erstaunt nach ihm hin, aber sie hielten in ihrer scheuen Verwunderung ganz still und gaben ihm damit die beste Gelegenheit, die Umrisse der Zeichnung rasch zu entwerfen. Maria saß in stummer Verwirrung und wartete, bis der Maler ein Gespräch beginnen werde. Dieser benutzte die ersten kostbaren Minuten ganz für seine Arbeit, und erst als er die Skizze fertig hatte, fühlte er den Wunsch, sich mit Maria zu unterhalten.
»Welche herrliche Erscheinung ist Eure Mutter«, sagte er, »wie hoheitsvoll die Gestalt, wie rein und sanft die Linien ihrer Züge und wie anmutsvoll jede ihrer Bewegungen! In der That, ich hätte auf den ersten Blick sehen sollen, daß sie eine Florentinerin und zwar aus einem großen Hause sein mußte.«
»Sind denn nur die Florentinerinnen schön?« erwiderte Maria, »und muß man aus einem vornehmen Geschlechte abstammen, um eine dem Auge wohlgefällige Erscheinung zu besitzen?«
109 »Nicht das ist's«, versetzte lächelnd der Maler, »aber es ist doch ein Unterschied, ob der angeborne Vorzug schöner Züge und edler Formen durch geläuterte Bildung erhöht und durchgeistigt wird.«
»Und dennoch«, entgegnete Maria, »waren die höchsten Vorbilder unsrer Religion, die uns an Tugend und frommem Sinn weit voranleuchten, blutarme Menschen. Die heilige Jungfrau selbst war dürftigen Standes, und trotzdem muß ich mich hochgeehrt fühlen, daß Ihr meine unbedeutende Erscheinung mit ihrer Glorie umgeben wollt.«
»Gewiß denken wir uns stets die heiligen und erhabenen Personen auch in der äußeren Erscheinung lieblich und wohlgefällig«, erwiderte Leonardo, »und es kommt auch oft genug vor, daß Menschen niederen Standes eine unvergleichliche natürliche Anmut und Liebenswürdigkeit in ihrem Äußern zur Schau tragen. Meistens gilt uns die körperliche Schönheit als Symbol edler Geistesgaben, und wir Künstler streben danach, in unsern Bildern erhabene und liebliche Eigenschaften des Gemütes durch Mienen, Blick und Haltung auszudrücken. Darum lehrt uns die Kirche auch, daß die heilige Jungfrau zur Königin des Himmels erhoben wurde, denn wohl ist die Schönheit das Kennzeichen innerer Vortrefflichkeit und nicht das ausschließliche Vorrecht von im Range höher stehenden Menschen.«
»Ich glaube doch, Euch so verstanden zu haben«, meinte Maria in lieblicher Verwirrung.
»Gerade in dieser Sache möchte ich nicht von Euch mißverstanden werden«, entgegnete Leonardo, »denn die Meinung über Menschenwert scheint mir eine der wichtigsten Fragen zu sein, die es überhaupt gibt. Wohl beschenkt die Natur Menschen jeder Art mit körperlichen und geistigen Gaben, und unser gesegnetes Italien besitzt zahlreiche Beispiele, daß auch im geringen Volke Schönheit und Talent zu finden sind. Aber zu diesen Gaben der Natur muß sich dann die Gelegenheit zur maßvollen und glücklichen Entwickelung derselben gesellen und diese findet sich unstreitig viel häufiger in den höheren Ständen, wo die körperliche Ausbildung von Jugend an mehr gehütet und gepflegt und die geistigen Vorzüge durch Beispiel und Lehre sorgfältiger ausgebildet werden. Darum meinte ich, daß eine so durchaus glücklich entfaltete Schönheit und ein so anmutsvolles Wesen, wie das Eurer edlen Mutter, nicht nur auf reiche natürliche Begabung deute, sondern auch die glücklichsten Umstände zu seiner Entwickelung voraussetzen lasse.«
Maria hatte aufmerksam zugehört. Nun aber wurde das Kind auf ihrem Arme etwas unruhig, und auch der Knabe an der Seite verlor die Geduld. Sie bat daher den Maler, ihr zu erlauben, daß sie die beiden Kinder sich ein wenig selbst überlasse, sie könne dieselben ja später wieder ganz in derselben Weise zu sich nehmen, da sie dann wohl längere Zeit wieder bei ihr aushalten würden, wenn man ihnen jetzt einmal etwas Freiheit lasse.
110 Der Maler willigte ein und sagte scherzend: »Geht es uns großen Kindern nicht im gewissen Sinne ebenso? Wir wollen auch von Zeit zu Zeit einmal den Fesseln entfliehen, welche die Sitte und Wohlanständigkeit so eng gezogen haben. Aber«, unterbrach er sich plötzlich, »verzeiht, edles Fräulein, daß ich solche Worte an Euch richte, an Euch, deren ganzes Wesen gewiß so harmonisch entwickelt ist, daß solche Gelüste Euch gänzlich fremd sind. Bei uns Männern kommt es oft vor, daß wir gern einmal alle Schranken überspringen und unsern tollen Launen folgen, aber das sind nicht die Schlimmsten, die dann wieder das rechte Maß zu finden wissen.«
Während er dies sagte, hatte Maria den beiden Kindern die Freiheit gegeben; sie hatte das kleinste Kind auf den Boden gesetzt, damit der ältere Knabe mit ihm spiele. Maria setzte dann die Unterhaltung fort, indem sie feinsinnig über die letzten Bemerkungen des Künstlers mit Stillschweigen hinwegging und vielmehr an das frühere Gespräch anknüpfte.
»Eure Bemerkung von vorhin«, sagte sie, »hat mir sehr gefallen, aber gerade bei den Künstlern findet man die seltsamsten Ausnahmen von der Regel. Da hilft alle Erziehung, alle Lehre und alle Sorgfalt der Bildung nichts, wenn nicht wirklich der göttliche Funke vorhanden ist.«
Leonardos Auge leuchtete auf, als er diese Worte aus dem schönen Munde vernahm. »Der Künstler«, sagte er darauf, »ist nur das Gefäß, das Werkzeug für das, was Ihr ganz richtig den göttlichen Funken nennt. Aber auch er bedarf der Pflege, bedarf der günstigen Umstände, um seines Berufes würdig zu werden, damit der Funke zur leuchtenden Flamme werde. Allerdings trifft häufig auch das Gegenteil von demjenigen ein, was ich vorhin sagte, denn der Funke des Genius wird gar oft durch Entbehrungen und Leiden höher entfacht, als durch glückliche Lebensumstände. Man sagt sogar, es sei meistens ein recht großes inneres Leid notwendig, um die künstlerische Kraft zur vollen Entfaltung zu bringen.«
»Das wäre hart«, erwiderte Maria, und indem sie den jungen Maler forschend anblickte, setzte sie hinzu: »Dann müßte man sich scheuen, mit Künstlern zu verkehren, denn entweder wäre zu befürchten, sie von der Höhe, für die sie bestimmt sind, zurückzuhalten, indem man sich bemüht, ihr Glück zu befördern, oder man müßte jeden Augenblick darauf gefaßt sein, sie im Interesse der Kunst leiden zu sehen. – Eine schlimme Wahl!« setzte sie mit einem Seufzer hinzu.
»Wir Menschen müssen uns in allen Lebenslagen bescheiden«, entgegnete der Maler, »denn wir sind mehr oder weniger doch nur die Mittel zu den Zwecken der Vorsehung. Wenn Euer Oheim Lorenzo Bedenken getragen hätte, den künstlerischen Genius zu fördern, wo er ihn fand, wäre manches herrliche Werk in Florenz ungeschaffen geblieben. Aber sein umfassender Geist dient unsrer aufstrebenden Zeit nach allen Richtungen hin, sei es auf dem Gebiete der Politik, oder der Kunst und Wissenschaft, ohne dabei zu fragen, ob auch 111 alle Keime, die er weckt und pflegt, wirklich gedeihliche Entwickelung zeigen. Fragt denn die Natur, ob Tausende von Keimen zu Grunde gehen? In unsrer Brust liegt das Wollen, das Vollbringen liegt in Gottes Hand.«
Maria hatte mit Interesse zugehört und freute sich über die ernsten Worte des jungen Mannes.
Sie wendete darauf den Kopf, denn es ließen sich Schritte von der Seite des Kastells vernehmen, und wirklich erschien eine ältliche Dienerin in einfacher dunkler Tracht, die ein Körbchen am Arme trug und geschäftig sich der Gruppe näherte.
»Bist du da, Nona?« rief Maria ihr zu, indem sie sich erhob und der Alten einige Schritte entgegenging. Diese erwiderte eifrig, daß sie in dem Körbchen allerlei Herzstärkung für die Kranke mitgebracht habe, um diese zu laben und ihr Linderung zu verschaffen. Sie wendete sich dann an Leonardo in der Weise gesprächiger Frauen und sagte zu ihm. »Ja, mein Herr, das ist ein trauriger Fall mit der armen Marianna, die seit vier Wochen ihren Mann verloren hat. Wie es gekommen ist, daß er mit einigen schlimmen Gesellen aus dem jenseitigen Dorfe in Streit geriet, weiß niemand, aber sie fanden ihn mit einem Messerstiche in der Brust wenige Schritte von der Grenze. Das arme Weib wurde schwer krank aus Schrecken und Jammer. Man hat den Beppo begraben, und unser Herr wollte die Sache untersuchen lassen, aber da drüben auf der andern Seite der Grenze gibt es keine Gerechtigkeit, und so wird niemals jemand den Zusammenhang erfahren, und die Mörder werden ungestraft bleiben. Ein Glück noch für das arme Weib, daß unsre Herrschaft sich ihrer annimmt, denn lebte sie nicht hier im Schutze von Kastell Buenfidardo, so könnte sie betteln gehen mit ihren beiden Kindern und im Elend verkommen, wie es anderwärts so häufig geschieht. Ziehen doch genug arme Leute im Lande umher, die nichts weiter haben, als die paar Lumpen, die ihnen mitleidige Menschen schenken, und die geringen Nahrungsmittel, die sie in den Wäldern finden oder in den Dörfern erbetteln. Marianna wäre längst tot und die Kinder gänzlich verlassen, hätte unsre gnädige Herrschaft nicht sich so mitleidig ihrer angenommen.«
»Still, still, Nona«, fiel ihr Maria ins Wort, »wozu die vielen Reden. Laß uns hineingehen und nach der armen Frau sehen, der Herr wartet wohl so lange hier.«
Mit diesen Worten nahm sie das kleine Kind wieder auf den Arm und den Jungen an die Hand, worauf sie in Begleitung der Dienerin in das ärmliche Bauernhaus ging.
Leonardo war es nun mit einemmal, als sei die Sonne aus der Gegend verschwunden, und doch strahlte ihr Licht so hell als vorher. Es beschlich ihn ein ängstliches Gefühl und doch wieder umflutete ihn eine gehobene Stimmung, wie er sie nie vorher gekannt hatte. Es war über ihn gekommen wie eine 112 heilige Erleuchtung, als habe die gnadenreiche Jungfrau, deren Bild er nun erst rein und schön im Herzen trug, zu ihm sich hinabgeneigt und in ihrer ganzen gnadenvollen Milde sich seiner Seele geoffenbart.
Und dies Gefühl kam in seiner Wunderkraft stärker wieder, als sich die niedere Thür der Hütte öffnete, und Marias zarte Gestalt heraustrat. Ihr unschuldsvolles Gesicht zeigte einen ernsten Ausdruck, es lag wie göttliches Mitleid, wie engelgleiches Erbarmen in ihren reizenden Zügen, und obgleich Leonardo viele liebliche, entzückend schöne und gefeierte Frauen gesehen hatte, war ihm doch nie der Begriff des wahren Liebreizes so in der Seele aufgegangen, wie in diesem Augenblicke.
Mit rührender Schüchternheit lud sie den Künstler ein, sie nun auf dem Wege nach Buenfidardo zu begleiten, und er willigte freudig ein. Es war Leonardo, als wandle er im Traume, wie er an ihrer Seite zwischen dichten Hecken und unter sanft grünen Olivenbäumen den Weg zum Kastell hinaufschritt. Anfangs war Maria ernst gestimmt, und das Gespräch drehte sich um das viele Unglück, welches auf Erden die Menschen verfolge. Aber in der Seele des Künstlers war nicht viel Raum für solche trübe Gedanken und sein lebensfroher Sinn gab der Unterhaltung bald eine trostreichere und endlich eine heitere Wendung. Glück wie Unglück, meinte er, seien nur Stufen auf der unendlichen Leiter des Menschenschicksals, und ohne den Blick kalt abzuwenden, dürfe man doch auch nicht allzu weichmütig sein und nicht im fremden Leide das eigne Glück übersehen. Jugend, Gesundheit, frisches Gemüt und froher Sinn seien die höchsten Schätze, die dem Menschen zu teil werden könnten, und solange man diese besitze, dürfe man dankbaren Sinnes sich des Augenblicks freuen und hoffend auf die Zukunft vertrauen.
Darin stimmte ihm Maria bei, und sie schritten wohlgemut dem Ziele ihrer Wanderung entgegen.
Aber noch bevor sie dieses erreichten, kam ihnen aus dem Thore des Kastells Peter, Marias Bruder, entgegen, der von der Mutter vernommen hatte, welcher Gast mit der Schwester eintreffen werde.
Peter war mit dem Vater auf der Falkenbeize gewesen und erst vor wenigen Augenblicken zurückgekehrt. Er hatte das Pferd dem Knechte überlassen, die Armbrust beiseite gelegt und war dann sofort dem Paare entgegengegangen. Mit herzlichem Händedrucke empfing er den jungen Maler, und die früher kaum flüchtig angeknüpfte Bekanntschaft wurde nun durch die eigentümlichen Umstände des Wiedersehens rasch viel inniger und wärmer, als es sonst der Fall gewesen wäre.
In der untern Halle begrüßte auch der Herr des Hauses den willkommenen Gast mit großer Freundlichkeit. War doch der Beruf des Künstlers überall eine wirksame Empfehlung, und da Peter den Namen des Leonardo bereits kannte und dieser sich durch seine ungewöhnlich stattliche Gestalt und 113 geistvollen Züge vorteilhaft auszeichnete, konnte es nicht fehlen, daß er der Familie Pazzi rasch wie ein nahestehender Freund erschien.
Wie Blanca von Medici im Verlaufe der Jahre zu einer stattlichen, wahrhaft imponierenden und dabei doch anmutigen Frau geworden war, so hatte auch ihr Gemahl ein würdevolles und dabei freundliches Aussehen gewonnen. Peter glich dem Vater, wie Maria der Mutter ähnlich sah, und es war natürlich, daß der junge Künstler sich in diesem Familienkreise wohl fühlte, denn die Schönheit der ihn umgebenden Menschen vereinte sich mit deren herzlichem Wohlwollen und den Reizen der Natur.
Schon am ersten Abend mußte er erzählen, was er von Florenz wußte. Es gab mancherlei zu berichten, namentlich von dem Fortgange der Unternehmungen, die Blancas Bruder in das Leben gerufen hatte. Der Garten der Villa Careggi war der Naturwissenschaft, das kleine Häuschen bei San Marco künstlerischen Zwecken gewidmet. Dort wurden botanische Versuche gemacht, und der gelehrte Geistliche und Naturforscher Enea Sylvio Piccolomini leitete dieselben; hier hatte Lorenzo ein Kunstmuseum gestiftet, und antike Skulpturwerke dienten jungen Künstlern zur Belehrung.
Wilhelm Pazzi verlangte zu wissen, wie Leonardo über die neuen Bewegungen auf geistigen und künstlerischen Gebieten urteile, und dieser sagte.
»Bei uns in Italien geht die Wissenschaft meist der bildenden Kunst voran. Letztere besinnt und rüstet sich lange, ehe sie dasjenige zum Ausdruck bringt, was Bildung und Poesie schon vorher auf ihre Weise ans Licht getragen. 114 So ist das Altertum längst zum Ideal der Gelehrten geworden, während man es nun erst in der bildenden Kunst ernstlich ergründet und seine Werke nachbildet. Vor einer bloßen Bewunderung der antiken Bauten, woran es nie gefehlt hat, wäre der frühere Stil nicht gewichen; es bedurfte dazu einer außerordentlichen Stadt und eines gewaltigen Menschen, welche das Neue thatsächlich einführten. Diese Stadt war unser Florenz, dieser Mensch Euer Großvater, Cosmus von Medici. Zu Florenz, in einer Zeit hoher Entwicklung, ist zuerst das Gefühl lebendig geworden, daß die seitherige Kunst ihre Lebenskräfte aufgebraucht habe, und daß etwas Neues kommen müsse. Es kam den Künstlern vor, als sei die Natur alt und müde geworden und könne keine großen Geister, wie keine Riesen mehr hervorbringen; jetzt aber sind wir froh erstaunt, in Brunelleschi, in Donatello, Ghiberti, Luca della Robbia, Masaccio neue Kräfte zu finden, die den erleuchtetsten alten Meistern nichts nachgeben. Schon jetzt hat der neue Stil in der Baukunst das Gotische aus seinen letzten Zufluchtsorten vertrieben, und wenn unser neuer Stil nicht schöner und zweckmäßiger wäre, würde man ihn in Florenz nicht anwenden. Die neue Kunst tritt gleich auf mit dem Bewußtsein, daß außer der Freiheit die höchste Anspannung aller Kräfte, aber auch der höchste Ruhm ihre Bestimmung sei.
»Alles Große ist nicht bloß Gabe der Natur und der Zeiten, sondern es hängt von unserm Streben, unsrer Unermüdlichkeit ab. Die Alten hatten es leichter, groß zu werden, da eine lebendige Tradition sie erzog zu jenen höchsten Leistungen der Kunst, die uns jetzt so viel Mühe kosten, aber um so viel größer soll auch der Ruhm einer Wiedergeburt der Kunst werden. Die Entscheidung zu gunsten des Neuen konnte nur kommen durch eine ruhmreiche That eines außerordentlichen Mannes, welcher mit dieser That auch für sein und seiner Genossen sonstiges Streben die Bahn öffnete. Und diese That hat unser berühmter Filippo Brunelleschi von Florenz gethan, und die Kuppel der Kirche Santa Maria de' Fiori, unseres Domes, war seine schöne Erfüllung einer großen Aufgabe. Mit dieser höchsten Leistung siegt die große Neuerung, zu welcher ihn die in Rom begonnenen Studien befähigten. Dazu kommt noch sein Ruhm als Bildhauer und Dekorateur. Aber schon vor ihm wurde unser Baptisterium von Ghiberti mit Erzthüren versehen, die es beweisen, daß in unsrer Zeit die bildenden Künste im innigsten Zusammenhange stehen, denn die Kompositionen der einzelnen Felder sind in Relief übertragene Gemälde, wie sie nur der geschickteste Maler zu erfinden fähig ist. Was Ghiberti zu der Höhe seines Kunstschaffens geleitet hat, war gleichfalls das Studium der Antike, deren Wert nie ganz ohne Einfluß geblieben ist. Aber erst zu Ghibertis Zeit fing man an, Statuen auszugraben und deren Kunstwert gegen den Fanatismus zu verteidigen, der diese Überreste aus einer heidnischen Welt in keiner Weise wollte zur Geltung kommen lassen. Daß Ghiberti die Vorzüge antiker Kunstwerke zu schätzen wußte, beweist der Ausspruch, den er in bezug auf den in Florenz gefundenen, Euch 115 ohne Zweifel genau bekannten antiken Torso that. Er sagte, dieser sei mit so großer Zartheit ausgeführt, daß man die Feinheiten weder bei vollem noch bei gedämpftem Lichte mit dem Auge allein zu erkennen vermöge, man müsse sie mit den Fingerspitzen heraustasten, wenn man sie ganz und gar entdecken und würdigen wolle. Mit gleich glücklichem Erfolge bestrebte sich Brunelleschi, die Schönheit der antiken Baukunst zu Ehren zu bringen. Er ging später mit Donatello, seinem jüngern Freunde, nach Rom. So gut wie Ghiberti auch Baukünstler war, war Brunelleschi Maler, Bildhauer und zugleich Erzarbeiter.
»In Rom begannen die beiden Freunde die Überreste antiker Bauwerke auszumessen, und man glaubte dort, die jungen Florentiner suchten nach Gold und Silber in den Ruinen der Tempel und Kaiserpaläste. Auch Donatello hatte von den Künstlern der antiken Welt viel gelernt. Er brachte Euern Großvater Cosmus von Medici zuerst auf den Gedanken, antike Statuen zu sammeln und öffentlich aufzustellen. Zerbrochene oder verstümmelte Werke ergänzte er. Dies waren, wie ihr wißt, die Anfänge des Museums im Garten von San Marco, das durch Euern Bruder, edle Frau, neuerdings so sehr gefördert wurde.« –
Trotz aller früheren Vorfälle hörten die Verwandten Lorenzos gern das Lob, welches der junge Künstler ihm spendete. Dieser berichtete noch, daß 116 auch die philosophische und poetische Akademie, welche Lorenzo gestiftet hatte, deren Vorsitz er führte und die in seinem Palaste ihre Sitzungen hielt, großen Aufschwung nehme. Der gefeierte Dichter Luigi Pucci und der gelehrte Naturforscher Pico von Mirandola, sowie Angelo Poliziano waren die vertrautesten Genossen Lorenzos in diesem Kreise, welchem zuweilen auch fremde Gelehrte und Kunstforscher nahe traten. So war kürzlich erst ein Deutscher in Florenz gewesen, der einer Sitzung beigewohnt hatte. Leonardo nannte seinen Namen, und seine Zuhörer bemühten sich, denselben nachzusprechen, aber es war nicht möglich und sie scherzten über die seltsame Sprache. Johann Reuchlin hieß jener Gelehrte, welcher als Begleiter und Sekretär eines deutschen Fürsten auf der Reise nach Rom durch Florenz gekommen war. –
Bis spät in die Nacht dauerten die daran geknüpften Gespräche, welche schon durch ihren Gegenstand, noch mehr jedoch durch die kenntnisreiche Behandlung desselben von seiten der Sprechenden und die von Begeisterung für die Kunstblüte des Vaterlandes gehobene Stimmung alle Beteiligten fesselten und anregten; aber endlich mahnte die Hausfrau zum Aufbruch.
Peter wies dem Gaste ein Gemach an, welches dicht an sein eignes Schlafzimmer stieß. Von hier aus hatte der Maler eine herrliche Aussicht und prächtiges Licht, wenn er arbeiten wollte. Schon der erste Abend im Kreise der Familie wirkte so gemütvoll auf ihn ein, daß er bei sich beschloß, die Gastfreundschaft dieser liebenswerten Menschen so lange zu genießen, als es die gute Sitte irgend zuließ. 117