Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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34

Eine Stunde später saß Dick Malvery mit Atherton im Wohnzimmer von Redmans Farm, wo sie bei Tagesanbruch Schutz gefunden hatten.

Die beiden saßen allein an einem hellen Kaminfeuer und stärkten sich mit heißem Kaffee. Atherton hatte Dick Malvery alles erzählt, was während der Nacht in Clents Haus vorgegangen war, aber dieser zeigte wenig Erstaunen darüber und nickte nur hin und wieder.

»Sie werden alles besser verstehen, wenn ich nun von mir berichte«, meinte er. »Ich habe nicht allzuviel zu sagen. Wie Sie wissen, kam ich im Februar nach England zurück und hatte dann eine Besprechung mit Stephen Pyke in London. Er erzählte mir damals von dem Scheck, der die Ursache all dieser Mißverständnisse ist. Ich erhielt ihn seinerzeit von Hanson, dem Kapitän eines kleinen Schiffes, das zwischen den nordfranzösischen Häfen und Shilhampton verkehrt. Ich traf Hanson sowohl in Shilhampton als auch in Clents Haus, wo ich damals viel verkehrte. Abgesehen davon setzte ich für Hanson bei den Rennen, und kurz bevor ich nach Kanada ging, schuldete er mir ungefähr hundert Pfund. Er gab mir den Scheck in Clents Haus in Gillians und ihrer Mutter Gegenwart und sagte mir, daß Boyce ihm den Scheck in Zahlung gegeben hätte. Ich sah die Unterschrift meines Vetters und dachte natürlich, daß alles in Ordnung wäre. Der alte Cuffe war so freundlich, mir darauf Geld zu geben, und noch am selben Abend trat ich meine Reise nach Kanada an, ohne jemand ein Wort davon zu sagen.

Als ich nun im vergangenen Februar zurückkam, hörte ich mit Entsetzen, daß der Scheck gefälscht sein sollte. Ich ahnte sofort, daß es sich um irgendeine Schurkerei von Boyce handelte, der mir schaden wollte. Mit diesem Gedanken kam ich nach Brychester und ging zu Nick Briscoe, um zu sehen, ob man mich erkennen würde. Das war nicht der Fall, und ich überlegte nun, was ich tun sollte. Am besten war es, Kapitän Hanson selbst zu finden. Dessen Zeugnis konnte ja sofort meine Unschuld beweisen. Ich verwahrte meine Brieftasche in Malvery Hold, weil ich Hanson wahrscheinlich in üblen Hafenkneipen suchen mußte. Dann ging ich zu den Pykes, nachdem ich vorher durch einen Matrosen einen Brief an meine Schwester geschickt hatte. Nach meinem Besuch bei Pyke wollte ich nach Shilhampton gehen, aber dann dachte ich plötzlich daran, daß Gillian und Barbara Clent gesehen hatten, wie Hanson mir den Scheck gab. Sie konnten mir gewiß auch sagen, wo der Kapitän sich augenblicklich aufhielt, und sicher würde ich ihnen willkommen sein, wenn ich ihnen erzählte, daß ich jetzt meine Schulden bezahlen könnte. Ich machte mich also auf den Weg zu ihnen, aber bei Black Point Gap begegnete ich Boyce, und es kam natürlich zu einem Zusammenstoß zwischen uns.«

»Wurden Sie handgemein mit ihm?«

»Ich packte ihn am Kragen und wollte ihn zwingen, die Wahrheit zu gestehen. Zuerst mag er wohl nicht gewußt haben, wer ich war, aber nachher gelang es ihm, sich von mir loszumachen. Er zog einen Revolver und feuerte auf mich. Ich sprang beiseite und fiel dabei über den Rand der Klippe, und zwar an derselben Stelle, an der er heute abstürzte. Aber ich fiel in Gesträuch und Gestrüpp und konnte an der Klippe hinunterklettern. Ich war klug genug, mich ruhig zu verhalten, denn ich überlegte, daß er sofort wieder auf mich schießen würde, wenn er mich sähe. Von unten aus konnte ich erkennen, daß er über den Rand der Klippe schaute, und deshalb lag ich lange Zeit vollständig still.«

»Eine Frage«, unterbrach ihn Atherton. »War zu der Zeit Flut?«

»Ja, das Wasser kam ganz in meine Nähe. Boyce mußte zu dem Schluß kommen, daß mich die Flut weggespült hatte und daß ich wahrscheinlich in den Strudel geraten war. In Wirklichkeit hatte ich aber nur ein paar Kratzer und Schrammen davongetragen. Nach einiger Zeit konnte ich wieder aufstehen und ging die Klippen entlang nach Shilhampton. Am nächsten Morgen fragte ich nach Hanson, und noch vor dem Frühstück war ich an Bord eines Schiffes, das nach Le Havre fuhr, wo ich ihn zu finden hoffte. Ich traf ihn auch nach drei Tagen und erklärte ihm alles. Aber das war ein großer Fehler von mir, denn Hanson steckte mit Boyce unter einer Decke. Als ich ihm von dem Scheck erzählte, sagte er, er wüßte überhaupt nichts davon, und er hätte mir vor fünf Jahren niemals einen Scheck über hundert Pfund gegeben. Nun war ich natürlich in großer Verlegenheit. Aber ich wußte, daß Boyce und Hanson immer geheime Geschäfte miteinander machten und daß sie sich in Clents Haus trafen. Ich war fest entschlossen, die Wahrheit an den Tag zu bringen, bevor ich nach England zurückkehrte. Da ich fünfhundert Pfund bei mir hatte, konnte ich ja lange Zeit davon leben, und so entschied ich mich dafür, Hanson zu beobachten. Vor allem wollte ich noch einen Franzosen ausfindig machen, einen gewissen Lavelle, der früher Steward bei Hanson gewesen war und meiner Meinung nach manches von ihm wissen mußte. Ich entdeckte diesen Mann vor zwei Wochen, und es gelang mir, ihn auf meine Seite zu bringen. Durch ihn erfuhr ich, daß Hanson und Boyce mit Hilfe der Clents schon seit vielen Jahren einen lebhaften Schmuggelhandel an der Küste betrieben.«

»Das haben wir auch herausbekommen, und wie Sie wissen, haben wir in der vergangenen Nacht eine Razzia in Clents Haus abgehalten.«

»Die Sache wurde sehr geschickt gehandhabt. Ich wollte nicht eher offiziell zurückkommen, als bis alles aufgeklärt war. Aber heimlich und in aller Stille kam ich trotzdem zweimal nach Brychester zurück. Es gelang mir auch, in Verbindung mit Hester Prynne zu kommen. Sie verließ das Haus von Boyce Malvery und kam zu mir nach Rouen, wo wir uns wenige Tage später heirateten. Gestern kamen wir nun mit dem Dampfer nach Shilhampton. Meine Frau ist noch dort. Lavelle hat in Scotland Yard seine Aussagen gemacht, und auf mein Ersuchen wurde sofort ein Beamter nach Shilhampton geschickt. Vor ein paar Stunden ist Hanson verhaftet worden, und morgen in aller Frühe sollte Boyce in Brychester festgenommen werden.«

»Und wie kamen Sie zu dieser Stunde nach Black Point Gap?«

»Ich hörte gestern abend, daß mein Vater sehr krank sein soll. Sobald sich der Sturm ein wenig legte, machte ich mich deshalb auf den Weg nach Malvery Hold. Um schneller ans Ziel zu kommen, nahm ich den Richtweg die Klippen entlang, weil ich sonst einen zu großen Umweg hätte machen müssen. Aber der Morgen dämmert jetzt, und ich will aufbrechen!«

*

In der kühlen Morgenfrühe verließen Blake und Rachel das Sterbezimmer des alten Sir Brian, traten schweigend an ein Fenster und schauten auf die Bucht hinaus. Der Sturm hatte sich jetzt vollständig gelegt, aber die schrecklichen Spuren des Unwetters waren überall zu sehen. Die Sonne war noch nicht über den Horizont emporgestiegen, aber die ersten Anzeichen der Morgenröte ließen einen schönen Tag erhoffen. Da legte Blake plötzlich zart seine Hand auf die Schulter des jungen Mädchens.

»Denk nicht mehr an die Vergangenheit«, setzte er das Gespräch fort, das sie im Sterbezimmer begonnen hatten. »Wir wollen tapfer in die Zukunft sehen. Du kommst mit mir nach Kanada, Rachel. Dort draußen wollen wir ein neues Leben beginnen. In diesem Land kann ich nicht bleiben, es ist mir zu eng. Ich brauche größeren Spielraum und ein weiteres Betätigungsfeld.« Sie ließ es zu, daß er ihre Hände nahm, sie an sich zog und sie küßte.

Aber plötzlich schrak sie zusammen und zeigte in höchster Erregung auf den Fahrweg hinaus.

»Sieh doch – wer ist das? – dort kommt ja Richard!« rief sie in freudiger Erregung.

Rasch zog sie ihn mit sich fort, aber der junge Erbe von Malvery Hold klopfte schon laut an das Tor, und ein unheimliches Echo schallte durch die einsame Halle.

 

Ende

 


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