Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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10

Blake trat fast mit Herzklopfen über die Schwelle und blieb einen Augenblick dort stehen. Es kam ihm zum Bewußtsein, was sein Erscheinen hier bedeutete. Wenn sich alle seine Befürchtungen als wahr herausstellen sollten, so war dies das Zimmer eines Toten, seines Freundes, der vielleicht durch Verrat in einen Hinterhalt gelockt und ermordet worden war. Die unheimliche Ruhe in diesem abgelegenen Teil des Hauses bedrückte ihn. Es war nichts zu hören als das endlose, monotone Rauschen des Meeres, das durch zerbrochene Fensterscheiben zu ihm drang. Blake schauderte nicht so sehr vor der kalten, feuchten Luft im Zimmer als vor den traurigen Ereignissen, die seine Nachforschungen wahrscheinlich enthüllen würden. Aber dann sagte er sich energisch, daß er nicht hergekommen war, um sich sentimentalen Stimmungen hinzugeben, sondern um praktische Arbeit zu leisten. Er schloß die Tür und betrachtete seine Umgebung genauer. Vielfältige Erfahrungen in Kanada hatten ihn gelehrt, eine Lage sofort zu überblicken und schnell das Wichtige von dem Bedeutungslosen zu unterscheiden. Bevor er noch einen Schritt tat, betrachtete er sorgfältig alle Gegenstände und Möbel, die ihn umgaben.

Überall lag Staub. Nicht etwa feiner Staub, wie er sich täglich in den Zimmern ansammelt, sondern eine dicke, flockige Schicht, die sich auf Möbel und Gegenstände legt, wenn sie von keiner Hand mehr berührt werden. Der Raum, in dem Blake stand, sah wirklich so aus, als ob Dick Malvery ihn soeben verlassen hätte, wenn man von dem Staub und der stickigen Luft absah. In einer Ecke standen verlassen Angelruten und ein paar Kricketschläger; ein kleines Bücherbrett und ein Armsessel in der Nähe des Fensters waren wohl seine Leseecke; einige Sportbilder in wurmzerfressenen Rahmen hingen an den Wänden neben den Fotos schöner Schauspielerinnen oder Varitékünstlerinnen, die Dick aus illustrierten Zeitungen ausgeschnitten hatte. Eine Reihe von Pfeifen lag auf dem Kamin; und auf dem unordentlichen Tisch, der als Schreibpult gedient hatte, stand ein offener Tabakskasten aus Metall. Er war zum Teil noch gefüllt, der Deckel lag daneben. In einer Nische lagen Stiefel und Schuhe durcheinander, die dicker Schimmel bedeckte. An einem Kleiderhaken hing noch eine alte Sportjacke, über die sich dichte Spinnweben gezogen hatten. An der Ecke des Tisches lag noch, wie eben aus der Hand gelegt, ein aufgeklappter gelber Romanband umgekehrt auf der Platte.

Blake sah dies alles, ohne sich von der Stelle zu rühren. Schließlich wanderten seine Blicke von den Wänden und Möbeln zu dem Fußboden. Wie in allen anderen Räumen lag auch in diesem Zimmer kein Teppich; nur ein paar alte Vorleger waren vor dem Tisch, vor den Fenstern und vor dem Kamin ausgebreitet. Überall lag diese dicke Staubdecke, aber plötzlich entdeckte Blake, daß während der letzten Jahre die Ruhe dieses Raumes doch einmal gestört worden war. Von einem Vorhang, der eine Nische in der Wand verdeckte, liefen Fußspuren quer über den Boden zu der offenen Tür des Schlafzimmers. Blake bückte sich und prüfte sie. Dann wandte er sich um und verglich sie mit den Schuhabdrücken, die er selbst in dem Staub hinterlassen hatte. Er gab sich Mühe, diese Fußspuren nicht zu zerstören, die quer durch den Raum führten. Er hob den Vorhang und fand, wie er erwartet hatte, eine Tür, die sich öffnete, als er dagegen drückte. Sie führte zu einer Wendeltreppe, die in einen viereckigen Turm eingebaut und wenig beleuchtet war. Die Steinplatten der Stufen waren schon sehr ausgetreten. Aber der Staub, der dort lag, war nicht sehr hoch. Er konnte nicht viel erkennen, denn die Stufen verschwanden in der Dunkelheit unten.

Blake trat ans Fenster, und nur mit großer Mühe gelang es ihm, einen Flügel zu öffnen. Als er hinausschaute, bemerkte er, daß der Treppenturm, den er soeben von innen gesehen hatte, und der von einem Flügel des alten Hauses vorsprang, die Bucht auf der einen Seite und das Meer auf der anderen beherrschte. Unten lag ein schrecklich verwilderter Obstgarten, der sich bis zu den Marschen und dem Ende des Weges durch die Bucht erstreckte. Soweit er von seinem jetzigen Standort aus beobachten konnte, lag dieser Treppenturm am äußersten Ende des Gebäudes, und man konnte das Haus mit Leichtigkeit durch den Treppenturm betreten, ohne von den bewohnten Räumen aus beobachtet zu werden. In Blake regte sich ein Verdacht, der sich noch mehr vertiefte, als er den Fußspuren bis zur Schlafzimmertür folgte. Ohne die Spuren zu berühren, öffnete er die Tür und trat ein. Sie führten zu einem alten Sekretär, der in einer Nische in der Nähe des Bettes stand. Als er das festgestellt hatte, suchte er wieder seinen Weg durch das schweigende Haus und kam nach einigen Schwierigkeiten auch wieder unten in die Halle, wo er wartete, bis er Rachel aus einem Zimmer treten sah.

Rachel erschrak und schaute ihn fragend an.

»Haben Sie etwas gefunden?«

»Wenn es Ihre Zeit erlaubt, möchte ich Sie bitten, mich noch einmal in Richards Zimmer zu begleiten. Ich muß Ihnen etwas zeigen.«

»Ich kann mitkommen, mein Vater schläft gerade. Warten Sie einen Augenblick, ich will nur noch dem Mädchen Bescheid sagen.«

Blake sprach erst wieder, als sie auf der Schwelle zu Richards Zimmer standen.

»Während der letzten Monate muß jemand hier gewesen sein, der die Wendeltreppe in dem viereckigen Turm benutzte. Sie sehen, wie dick der Staub hier auf dem Boden liegt. Nun achten Sie bitte auf die Fußspuren, die von dem Vorhang zum Schlafzimmer führen. Betrachten Sie auch meine Fußspuren, die eben entstanden sind, und vergleichen Sie dann bitte.«

»Die Spuren kann ich sehen, aber was schließen Sie daraus?«

»Bemerken Sie nicht den Unterschied zwischen den beiden Spuren? Ich habe große Erfahrung in solchen Dingen, denn ich habe schon Menschen- und Tierspuren in Sand und Schnee verfolgen müssen. Wenn Sie genau hinsehen, wo ich gegangen bin, so entdecken Sie scharfe, spitze Abdrücke, während die anderen, die in das Schlafzimmer und wieder zurück führen, schon weiche, abgerundete Ränder haben. Diese Tatsache beweist, daß bereits eine dicke Staubschicht auf dem Boden lag, als damals jemand durch das Zimmer ging. Es muß aber seitdem einige Zeit vergangen sein, denn neuer Staub hat die scharfen Konturen verwischt. Diese Spuren sind schon einige Monate alt.«

Rachel, die sich gebückt hatte, richtete sich wieder auf und sah ihn gespannt an.

»Wollen Sie damit sagen, daß Richard in diesem Zimmer war?«

»Ich halte es für sehr wahrscheinlich«, erwiderte Blake ruhig. »Warum sollte er denn nicht hier gewesen sein? Wir wollen die Sache einmal ruhig überdenken. Wir wissen, daß er sich in der Nacht hier irgendwo in der Nähe aufhielt. Nehmen wir einmal an, er wollte jemand sehen – wir wissen im Augenblick noch nicht, wen –, bevor er seine Verwandten aufsuchte. Möglicherweise brauchte er dazu etwas, was er früher in diesen Räumen zurückgelassen hatte. »Was hinderte ihn denn, in der Dunkelheit hierherzukommen und über die alte Treppe in sein Zimmer zu gehen? Ist die Tür unten zur Wendeltreppe für gewöhnlich abgeschlossen?«

»Ich weiß nicht, ob sie verschlossen war«, entgegnete Rachel und sah nach dem Vorhang. »Jakob Elphick hat sich immer um diese Dinge gekümmert. Ich bin seit Jahren nicht mehr in diesem Teil des Hauses gewesen.«

»Nun, das können wir ja feststellen.« Blake zog den Vorhang beiseite und tastete sich vorsichtig die Treppe hinunter. »Die Tür unten ist offen«, rief er dann hinauf und kam wieder nach oben. »Ich glaube, sie ist immer auf gewesen. Also konnte Richard doch leicht und unbeobachtet ins Haus kommen und ebenso unbemerkt wieder verschwinden.«

»Aber warum sollte er überhaupt hergekommen sein, wenn er gleich wieder ging?«

Blake zeigte auf die Fußspuren.

»Folgen Sie den Spuren bis ins andere Zimmer. Sie führen direkt zu dem alten Sekretär. Dort wollte er sicher etwas holen. Hier liegen abgebrannte Streichhölzer, die er auf den Boden geworfen hat. Ich möchte Sie bitten, den alten Sekretär einmal sorgfältig zu untersuchen.Vielleicht gibt er uns einen Anhaltspunkt.«

Rachels Hand zitterte, als sie die oberste Schublade öffnete, und ängstlich sah sie sich nach Blake um.

»Der Gedanke ist mir schrecklich, daß er hier gewesen ist, ohne daß ich es wußte, daß er nach all dieser langen Wartezeit, nach all der Angst, die wir um ihn ausgestanden haben, nur hierherkam, um wieder fortzugehen –«

»Ich glaube, Sie dürfen überzeugt sein, daß er die feste Absicht hatte, bald wieder zurückzukommen, und zwar dann durch das Haupttor. Ich stelle mir die Sache etwa folgendermaßen vor: Dick saß im Gasthaus zum ›Gelichteten Anker‹, und hatte damals ein bestimmtes Ziel; jedenfalls aber wollte er nicht nach Malvery Hold gehen. Wahrscheinlich hat er den Entschluß gefaßt, jemand aufzusuchen, als er auf den Wagen des Fuhrmanns stieg. Nun gut, als er den Gasthof verlassen hatte, ging er zu der Stelle oder suchte die betreffende Person auf. Unterwegs fiel ihm dann wohl ein, daß er noch etwas hier aus dem Haus brauchte. Er wußte sehr gut, daß in Malvery Hold die Jahre fast unbemerkt vorübergehen. Also ging er quer über die Bucht an den Pfählen entlang, kam durch den Treppenturm ins Haus, holte sich, was er brauchte, und ging dann in der Absicht weg, bald wieder zurückzukommen.«

»Aber er kam niemals zurück!« rief Rachel.

»Nun wollen wir einmal die Schubladen herausziehen und sehen, ob wir nicht etwas entdecken.«

In einer Schublade lagen alte Krawatten, alte Handschuhe und allerlei andere nutzlose Dinge. Der Staub war auch hier eingedrungen, aber Blakes scharfem Blick entging es nicht, daß das Fach geöffnet worden war.

»Diese Sachen sind eilig durchsucht worden«, sagte er. »Sehen Sie alles sorgfältig nach.«

»Aber wonach soll ich denn suchen?« fragte sie. »Sie sehen ja selbst, welche Unordnung hier herrscht. Meinen Sie, daß es sich um Schriftstücke handelt?«

»Vielleicht, irgend etwas, einen Anhaltspunkt, einen Fingerzeig. Was es sein wird, weiß ich selbst kaum.«

Rachel, die aufs Geratewohl suchte, zog plötzlich aus der äußersten Ecke der Schublade einen Gegenstand hervor und hielt ihn in die Höhe.

»Das ist ja großartig!« rief Blake. »Dicks Brieftasche! Ich habe sie ihm selbst geschenkt.«

 


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