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David Blake las gerade in dem Adreßbuch der Stadt, als die beiden in sein Wohnzimmer geführt wurden. Er sah Boyce Malvery prüfend an, während Atherton ihn vorstellte, und er faßte sofort eine instinktive Abneigung gegen diesen Mann, so daß er die Hand wieder zurückzog, die er ihm hatte reichen wollen. Sein Widerwille wuchs noch, als der Rechtsanwalt zu sprechen begann.
»Captain Atherton hat mir das Wichtigste über das Verschwinden meines Vetters erzählt«, begann Boyce. »Und ich möchte Sie nun um Auskunft darüber bitten, ob Richard verheiratet war.«
Blake gab zunächst keine Antwort, sondern bot seinen beiden Gästen Platz an, klingelte dann dem Oberkellner und ließ Zigarren und Getränke bringen. Erst nachdem er sich selbst gesetzt hatte, wandte er sich an Boyce und sah ihm voll ins Gesicht.
»Richard Malvery hat mir niemals etwas davon gesagt, daß er verheiratet war.«
Boyce erwiderte seinen Blick.
»Wissen Sie, ob er verheiratet war?«
»Ich habe Ihnen doch eben meine Antwort gegeben, Mr. Malvery«, erwiderte Blake ruhig. »Und wenn ich geantwortet habe, bin ich nicht gewöhnt, noch einmal gefragt zu werden.«
Boyce, der Blakes Einladung zu einem Whisky-Soda und zu einer Zigarre abgelehnt hatte, erhob sich wieder. »Das ist alles, was ich wissen wollte. Wie ich Sie verstehe, ist es Ihre Absicht, Nachforschungen nach meinem Vetter anzustellen?«
»Ja. Entweder finde ich Dick Malvery lebendig wieder, oder ich erfahre die Wahrheit über seinen Tod. Ich will meinen letzten Schilling ausgeben, wenn es notwendig ist. Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich den Täter am Galgen sehe, wenn Richard ermordet worden ist.«
»Das ist unmöglich«, entgegnete Boyce spöttisch, »denn unsere Hinrichtungen finden nicht öffentlich statt. Im übrigen möchte ich nur bemerken, daß Richard Malverys hiesige Freunde ebenso eifrig wie Sie bemüht sein werden, dieses Geheimnis aufzuklären. Gute Nacht, Mr. Blake.«
Er wandte sich um und verließ das Zimmer. Blake hatte nur kurz genickt und sah jetzt Atherton an, der noch zögerte zu gehen.
»Kam er nur deshalb her, um diese eine Frage an mich zu stellen?«
Atherton war die Sache unangenehm.
»Mr. Boyce Malvery ist manchmal ein wenig schwer zu verstehen. Sie sind hier fremd, Mr. Blake, und Sie wissen noch nicht –«
»Ach, ich habe ihn nur zu gut verstanden«, unterbrach ihn Blake. »Ich wußte sofort, worauf er hinauswollte. Er will nur erfahren, ob noch irgend jemand zwischen ihm und dem Titel steht. Das ist sein einziges Interesse, alles andere ist ihm höchst nebensächlich.«
Der Beamte bat ihn noch, am nächsten Morgen wieder in sein Büro zu kommen; dann verabschiedete er sich auch. In der Hotelhalle traf er Boyce Malvery, und die beiden gingen zusammen auf die Straße hinaus.
»Sie haben eben Ihre Frage recht ungeschickt gestellt!« sagte Captain Atherton. »Das war etwas auffällig.«
»Es ist nicht meine Art, wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen. Dieser verdammte Kerl weiß etwas! Sie haben doch gehört, wie er sich um die Beantwortung meiner Frage drückte. Wahrscheinlich hat Richard in Kanada Weib und Kind zurückgelassen, und dieser Mensch ist nur ein Spion, der sich hier in deren Interesse umsieht. Aber ich werde schon bald alles aus ihm herausbringen.«
»Meiner Meinung nach werden Sie nur herausbringen, daß die Angaben, die er über sich selbst gemacht hat, stimmen«, entgegnete Atherton trocken. »Und er meint es ernst mit dem, was er sagt. Der läßt sich durch nichts aufhalten, er geht der Sache auf den Grund.«
»Er mischt sich in Dinge, die ihn nichts angehen. Aber wir sind hierzulande auch nicht die Dümmsten. Und wenn Mr. Blake sein Geld ausgeben will und dabei, ohne es zu wissen, mir nützlich ist, so habe ich nichts dagegen.«
*
Blake war ein Frühaufsteher und sah als einer der ersten auf der Straße die noch druckfeuchten Bekanntmachungen, die am nächsten Morgen an Anschlagsäulen und Zäunen klebten. Unter der Säulenhalle des Rathauses blieb er stehen, um den Text zu lesen.
»Einhundert Pfund Belohnung!
Mr. Richard Malvery, der vor fünf Jahren von hier auswanderte, kam am Nachmittag des 27. Februar dieses Jahres nach Brychester zurück. Er war ungefähr um sechs Uhr nachmittags auf der Post. Seit dieser Zeit wird er vermißt.
Die oben genannte Belohnung von einhundert Pfund wird derjenigen Person ausgezahlt, die nachweisen kann, daß sie den erwähnten Richard Malvery an dem fraglichen Abend oder später gesehen hat. Ebenfalls können solche Personen Anspruch auf die Belohnung erheben, die zuverlässige und einwandfreie Angaben über seinen Verbleib machen können oder Hinweise geben, die zur Entdeckung seines jetzigen Aufenthaltes führen.
Alle Angaben und Mitteilungen in dieser Angelegenheit sind persönlich zu machen, und zwar an Hugh Charlwood Atherton, Polizeikommissar.«
Nach dem Frühstück ging Blake zur Polizeiwache, und Atherton begrüßte ihn lächelnd.
»Wir haben schon verschiedenes feststellen können«, sagte er. »Auf dem Bahnhof haben wir allerdings vergeblich Umfrage gehalten, aber auf dem Postamt haben wir Glück gehabt. Die Beamtin, die das Telegramm annahm, war damals noch ganz neu in der Stadt und legte deshalb dem Namen Malvery keine Bedeutung bei. Aber zufällig war es das erste Telegramm, das sie abfertigte, und daher kann sie sich noch genau auf die Umstände und auch auf die Person des Absenders besinnen. Sie beschreibt ihn als einen großen, schlanken Mann mit dunklem Bart und einem weichen, breitrandigen Filzhut, wie man ihn in England selten sieht.«
»Das war zweifellos Dick«, erwiderte Blake halblaut. »Das ist auch meine Überzeugung. Er muß tatsächlich hier gewesen sein. Aber nun hören Sie weiter. Ich habe heute morgen an die Canadian Bank of Commerce in London ein Diensttelegramm gesandt, und vor ein paar Minuten erhielt ich Antwort.«
Blake nahm das Formular, das ihm Atherton reichte, und las den Inhalt sorgfältig durch.
»Richard Malvery hob am 27. Februar dieses Jahres ungefähr gegen zwölf Uhr mittags fünfzehnhundert Pfund von seinem hiesigen Konto ab. Der Betrag wurde hauptsächlich in kleinen Noten ausgezahlt. Seit dieser Zeit haben wir nichts von ihm gesehen oder gehört.«
»Diese Nachricht ist sehr wichtig«, meinte Atherton, als Blake das Blatt zurücklegte. »Wir wissen jetzt, daß er Geld bei sich hatte. Vielleicht sind die Nummern der Scheine notiert worden und lassen sich auf diese Weise zurückverfolgen. Da es aber hauptsächlich kleine Noten waren, wird das eine lange, schwierige Aufgabe sein, denn in zwei Monaten können sie schon durch viele Hände gegangen sein.«
»Die Sache sieht mehr und mehr nach Mord aus. Jemand muß ihm gefolgt sein und ihn beraubt haben. Aber wer konnte wissen, daß er das Geld bei sich trug?«
»Es ist ja möglich, daß der Täter schon vom Bankschalter ab hinter ihm her war.«
In diesem Augenblick trat ein Beamter ein.
»Der Fuhrmann Abinett von Malvery möchte Sie wegen der ausgesetzten Belohnung sprechen«, meldete er. »Bringen Sie ihn nur herein!« erwiderte Atherton und wandte sich dann wieder an Blake. »Viel wird der wohl nicht sagen können. Dieser Greggy Abinett ist ein merkwürdiger Kerl. Er unterhält schon seit langen Jahren ein Fuhrunternehmen zwischen hier und Malvery und hat eine gewaltige Zunge.«
Blake sah den Mann, der jetzt eintrat, neugierig an. Abinett war alt, von Wind und Wetter zerzaust und von Kopf bis Fuß in einen dicken blauen Mantel gehüllt. Um den Hals trug er einen Wollschal, und sein weicher Filzhut war mit einem dunkelroten Taschentuch um den Kopf gebunden. Von seinem Gesicht konnte man nicht viel mehr sehen als ein paar bewegliche blaue Augen, rote Backen und einen vergnügten Mund. Er schwang eine Haselnußgerte in der Hand und berührte damit seine Hutkrempe, als er näher trat.
»Nun, Abinett?« fragte der Beamte freundlich, »was wissen Sie denn von dieser Sache?«
»Morgen, Sir«, erwiderte der Fuhrmann und setzte sich auf die Ecke eines Stuhls, den Atherton ihm anbot. Dann starrte er unverwandt auf Blake. »Wer ist denn dieser junge Mann? Ich sage kein Wort, bevor ich nicht weiß, mit wem ich spreche. Das ist einmal sicher!«
»Schon gut«, beruhigte ihn Atherton. »Mr. Blake ist ein Freund von Richard Malvery, und er ist es auch, der die Belohnung von hundert Pfund ausgesetzt hat.«
Der alte Fuhrmann erhob sich und grüßte Blake nun ebenfalls mit der Haselnußgerte.
»Ihr Diener, Sir. Ich weiß zwar nicht, ob das, was ich Ihnen sagen kann, zum Ziel führt oder nicht. Aber wie ich den Anschlag durchlese, fällt mir etwas ein. Hundert Pfund sind nicht von Pappe, denke ich mir, und ich will ein verdammter Kerl sein, wenn ich nicht zum Polizeikommissar gehe.«
»Na also, dann erzählen Sie mal, was Sie wissen.«
»Wie ich von dem Februarabend gelesen habe, ist es mir eingefallen. Denn an einem Februarabend hab' ich so einen fremden Kerl getroffen. Aber das kann doch nicht dieser Mr. Dick gewesen sein, sage ich zu mir, den ich schon als kleinen Knirps gekannt habe. Aber vielleicht hat er sich verkleidet, denke ich wieder, also gehst du zur Polizei. Und da bin ich nun.«
»Erzählen Sie nur weiter«, ermunterte ihn Atherton.
»Ja, es war also gegen Ende des Monats, zehn Minuten nach sechs Uhr, ungefähr hundert Meter südlich von der Eisenbahnkreuzung. Ich fuhr gerade mit meinem Wagen nach Malvery.«
»Ist denn jemand mit Ihnen gefahren?«
»Es ist ein Wunder, aber außer mir war niemand auf dem Wagen. Das passiert doch wirklich selten genug, aber damals war es tatsächlich so. Und an der Stelle, wo ich Ihnen eben gesagt habe, dicht an dem Gasthaus ›Zu den drei Glocken‹, stand dieser Kerl. Wissen Sie, so ein großer, strammer Mensch mit einem schwarzen Bart und einem weichen Filzhut. Der hebt also den Arm hoch, und ich halte an. ›Fahren Sie diesen Weg?‹ fragt er und zeigt nach Süden. Als er den Mund auf tut, merke ich gleich, daß er nicht von hier ist. ›Ja‹, sage ich. ›Dann will ich ein Stück mit Ihnen fahren‹, meint er. ›Steigen Sie nicht ab, ich will hinten auf den Tritt steigen, da kann ich abspringen, wann ich will.‹ Und dann kletterte er hinten auf, und ich fahr' los. Ich sitz' also vorn, er hinten. Aber gesprochen hab' ich nicht mit ihm. Und so geht es immer weiter im Dunkeln, bis wir an den Marshwyke-Kreuzweg kommen. Da schreit er ›Hallo‹, springt ab, kommt zu mir rum, gibt mir einen Schilling und geht dann geradeswegs auf die Straße nach Marshwyke Mill. Und wenn das nicht Mr. Dick war –«
»Haben Sie genau gesehen, wohin der Mann ging?« fragte Atherton.
»Nur, daß er sich auf den Weg nach Marshwyke machte. Es war so dunkel, daß man den Schwanz von einem Hund nicht sehen konnte. Ich hab' mir damals gedacht, daß er vielleicht ein Seemann ist, der auf seinem Weg nach Shillhampton im ›Gelichteten Anker‹ noch einen heben will. Aber später habe ich nicht mehr an die Geschichte gedacht, bis ich den Anschlag sah. Wie ist denn das nun mit den hundert Pfund?«
»Na, zum mindesten haben Sie eine Anwartschaft auf die Belohnung. Soweit ich die Sache beurteilen kann, war der Mann, der mit Ihnen fuhr, tatsächlich Richard Malvery. Wenn Sie aber die hundert Pfund bekommen wollen, so müssen Sie vorläufig Ihren Mund halten. Sagen Sie zu keinem Menschen etwas, nicht einmal zu Ihrer Frau. Und trinken Sie auch keinen über den Durst, damit Sie nicht alles ausplappern.« Der Fuhrmann ging fort, und Atherton wandte sich an Blake.
»Wir können mit Bestimmtheit annehmen, daß das Richard Malvery war. Nun müssen wir vor allem herausbekommen, wohin er von da aus ging. Kommen Sie nach dem Mittagessen wieder, dann wollen wir in meinem Wagen nach Marshwyke hinausfahren.«