Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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20

Blake dachte sofort an die Höhlen in den Felsen, die Atherton erwähnt hatte, und er sah Rachel verständnisvoll an.

»Das ist eine wichtige Entdeckung, die Sie da gemacht haben. Der Platz dort ist allerdings auch wie geschaffen für solche Zwecke. Aber«, fügte er hastig hinzu, »heutzutage wird doch nicht mehr geschmuggelt! Die Schmuggler, von denen wir in den Abenteurergeschichten lesen, sind doch längst ausgestorben.«

Rachel lachte.

»Es wird so lange Schmuggler geben, wie es ein Meer und Küsten gibt. Alle Leute hier würden schmuggeln, wenn sie nur die Gelegenheit dazu hätten. Sie sind noch genau so abenteuerlustig wie ihre Vorväter.«

»Aber die Küste wird doch stark bewacht?«

Rachel lachte wieder und zeigte durch das Fenster.

»Sehen Sie, draußen hinter Shilhampton ist eine Wachtstation. Die nächste liegt etwa drei Meilen entfernt auf der anderen Seite von Marshwyke. Auf jeder Station finden Sie höchstens drei Beamte. Die können doch unmöglich die ganze Küste genau beobachten. Und es ist auch nicht schwierig, in diese Bucht einzufahren, ganz gleich, ob es Flut oder Ebbe ist. Dort läuft ein Kanal – sehen Sie die dunkle Linie? Er führt von der Barre direkt zur Bucht und dicht in die Nähe der Felsen, wo Clents Haus steht. Nehmen Sie einmal an, daß draußen vor der Barre ein Schiff ankert. Niemand kann doch dann ein Boot hindern, von dem Schiff abzustoßen und in die Bucht zu fahren? Oder wer sollte umgekehrt jemand daran hindern, in einem Boot zu dem Schiff hinauszufahren?«

»Wie kamen Sie denn auf den Gedanken, daß die Clents sich mit Schmuggel befassen?«

»Verschiedene Beobachtungen haben mich darauf gebracht. In Clents Haus gibt es ein kleines Fenster, das direkt auf die Bucht hinausschaut, und zwar in Richtung des Kanals. Von der See aus kann man dieses Fenster sehen, wenn es erleuchtet ist. Ich habe nun bemerkt, daß in diesem Fenster manchmal ein rotes, manchmal ein grünes Licht hängt. Für gewöhnlich ist es dunkel. Mehr als einmal habe ich auch entdeckt, daß ein Boot über die Barre hinüber und den Kanal entlang bis zu Clents Haus fuhr, ebenso in umgekehrter Richtung.«

»Aber hier leben doch auch viele Fischer. Könnte es sich nicht um Fischerboote gehandelt haben?«

»An die Fischerei der Clents glaube ich nicht. Das ist mehr oder weniger ein Vorwand. Ich weiß, daß Gillian Clent Kisten mit Fischen von Brychester nach London schickt, und ich habe mir schon oft gedacht, daß man überraschende Entdeckungen machen könnte, wenn man sie einmal auf dem Bahnhof öffnen würde. Es ist von hier aus nicht sehr weit bis zur französischen Küste.«

Die Abenteuerlust erwachte in Blake. Seine Augen leuchteten, und er sah mit fast knabenhaftem Eifer auf die Bucht hinaus.

»Das ist ja aufregend«, sagte er lachend. »Am liebsten möchte ich selbst mithelfen!«

»Was, Sie wollen auch schmuggeln?«

»Ach, ich begreife schon, daß ein Mann sein Gewissen so weit beruhigen kann, um auch daran Gefallen zu finden. Aber ich meinte eben, daß ich gern mithelfen möchte, die andern bei der Tat zu fassen!«

Rachel sah nachdenklich über die Bucht hinüber.

»Natürlich sind nicht nur die Clents an dem Schmuggel beteiligt. Ich habe schon öfter daran gedacht, seit ich von Dicks Rückkehr und seinem Verschwinden hörte, daß er vielleicht mit diesen Leuten bei Nachtzeit zusammengestoßen sein könnte. Und wenn das der Fall wäre –«

Sie machte eine Pause und sah Blake an. Er verstand sofort, was sie sagen wollte und nicht aussprach.

»Da mögen Sie recht haben. Ich glaube, wenn man diese Leute stört –«

»Sie wissen, was ich meine?«

»Ja, ich verstehe. In dieser Richtung könnte man Nachforschungen anstellen. Aber ich werde Ihnen etwas sagen«, fuhr er plötzlich mit Begeisterung fort. »Wie wäre es, wenn ich in diesem alten Turm mein Lager aufschlüge und die Bucht einmal beobachtete? Vielleicht könnte ich doch manches entdecken.«

»Sie wollen doch nicht hier die Nächte zubringen?! Sie würden sich ja auf den Tod erkälten!«

»Ich glaube nicht. Ich habe früher oft im Freien genächtigt, und zwar in viel kälteren Gegenden. Ich will es unter allen Umständen versuchen. Können Sie es einrichten, ohne daß Ihr Personal etwas davon erfährt?«

»Unser Personal ist augenblicklich nicht sehr zahlreich. Außer dem alten Jakob und ein paar Mädchen haben wir niemand, und die kommen voraussichtlich während der Nacht nicht hierher.«

»Aber diesem Elphick traue ich nicht recht. Er sieht mich immer so argwöhnisch von der Seite an, und alte Leute haben manchmal die Angewohnheit, nach Einbruch der Dunkelheit überall herumzuschleichen.«

»Aber Sie können doch nicht die Nächte hier zubringen!« rief Rachel. »Wenn Sie Feuer oder Licht haben, sieht man es von außen, und ohne das ist es hier nicht auszuhalten.«

»Ich komme auch ohne Feuer aus. Und mit dem Licht kann ich vorsichtig sein, so daß es niemand von außen sieht. Auf jeden Fall will ich es einmal versuchen. Vielleicht erfahre ich etwas, wenn ich das Clentsche Haus beobachte.«

Rachel sah den zuversichtlichen jungen Mann etwas verwundert an.

»Aber die Sache hier oben ist vielleicht auch gefährlich!« sagte sie plötzlich.

Blake lachte herzlich.

»Glauben Sie, mir könnte von den Schmugglern Gefahr drohen?«

»Ich dachte weniger an Schmuggler als an andere Leute. Ich mag unrecht haben, aber es kommt mir immer ein unangenehmes Gefühl, wenn ich an die da drüben denke.«

»Sie meinen die Clents? Ich glaube, ich kann das jetzt verstehen, da ich sie selbst gesehen habe. Nun, wenn Not am Mann ist, werde ich mir schon zu helfen wissen. Wir wollen uns jetzt einmal überlegen, wie ich dieses alte Zimmer hier einrichte, damit ich eine Zeitlang hier wohnen kann.«

Mit der Bestimmtheit und Entschlossenheit eines Mannes, der Jahre seines Lebens in wilden Gegenden, Wäldern und Gebirgen zugebracht hat, sah Blake instinktiv, wie er den alten Wachtturm für seine Zwecke benützen konnte. Er konnte ihn leicht durch die kleine Pflanzung erreichen, die sich an dieser Seite der Bucht hinzog. Die Bäume standen so dicht, und es gab so viel Unterholz, daß er auf diesem Weg kaum gesehen werden konnte. Die Verdunklung eines Lichtes in dem Zimmer selbst konnte auch einfach bewerkstelligt werden. Alles was er brauchte, um dort die Nacht zu verbringen, waren einige Decken und Bettücher, ein warmer Mantel, genügend Proviant, ein paar Flaschen Whisky und Rauchmaterial. Tagsüber konnte er sich ja in angenehmerer Umgebung aufhalten.

»Eins hätte ich noch gern«, sagte er, als er mit Rachel nach dem Haus zurückging. »Ein Boot. Dann könnte ich während der Nacht auch einmal in die Bucht hinausfahren.«

»Wir haben selbst ein Boot, es ist zwar alt, aber man kann es noch gebrauchen. Es liegt hier im alten Graben. Wenn Sie wollen, können Sie das nehmen.«

Sie führte ihn um eine Ecke des alten Hauses zu einer Stelle, wo das Wasser der Bucht durch eine alte Steinschleuse in einen tiefen Graben lief, der früher einmal das ganze Haus eingeschlossen hatte, jetzt aber nur noch auf der Parkseite vorhanden war. Rachel zeigte auf einen der kleinen Stege, die sich hier und da über den Graben spannten.

»Gehen Sie dort hinüber, da liegt das Boot. Es ist an einen Pfosten angebunden. Ich muß jetzt ins Haus; ich habe meinen Vater schon zu lange allein gelassen. Kommen Sie bitte noch einmal zu mir, bevor Sie nach Brychester zurückgehen.«

Sie eilte durch eine Seitentür in das Herrenhaus, und Blake ging zu der bezeichneten Stelle. Er kam durch ein zerfallenes Tor in der Umfassungsmauer und befand sich dann am Rande eines kleinen Teichs, der sich bis in die Wiesen hineinzog. Jetzt wuchsen Binsen und Schilf an den Ufern, und zwei Schwäne segelten auf dem Wasser. Blake sah auch das Boot, das an einem Pfosten festgebunden war. Er untersuchte es sogleich und fand, daß er es für seine Zwecke noch gebrauchen konnte, obwohl es alt und etwas schwerfällig gebaut war.

Praktisch wie immer, wollte Blake gleich einen Versuch mit dem alten Fahrzeug machen, besonders da die Ruder darin lagen. Aber als er es loszubinden begann, hörte er plötzlich eine unangenehme, hohe Stimme, die aus einem der Nebengebäude in der Nähe zu kommen schien.

»Was machen Sie denn mit dem Boot?« rief Jakob Elphick ärgerlich. »Lassen Sie das in Ruhe! Man muß doch tatsächlich seine Augen überall haben. Es ist ganz schlimm heutzutage. Machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen!«

Blake, der langsam die Knoten löste, drehte sich um und sah, daß der Alte mit langen Schritten auf ihn zukam. Elphick schien sich während der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft verändert zu haben. Er ging gebückter, und sein Gang war unsicher. Er stützte sich jetzt auf einen starken Stock, und es war offenbar, daß er auch nicht mehr gut sehen konnte. Er schien Blake überhaupt nicht wiederzuerkennen.

»Es ist schon gut, Jakob«, sagte der junge Mann beruhigend. »Sie kennen mich doch, ich bin Mr. Blake. Miß Malvery hat mir gesagt, daß ich mit dem Boot einmal in die Bucht hinausfahren könnte. Ich stehle Ihnen doch das Fahrzeug nicht!«

Jakob legte die Hand über die Augen, als ob er sich noch nicht an den Fremden erinnern könnte.

»Besinnen Sie sich denn nicht auf mich, Jakob?« fragte Blake freundlich. »Ich suche doch nach Mr. Richard. Und Miß Rachel hat mir erlaubt, mit dem Boot in die Bucht zu fahren.«

»Mr. Richard ist die ganze lange Zeit nicht zu Hause gewesen, und ich weiß nichts davon, daß er wiedergekommen ist«, erwiderte der Alte ärgerlich. »Ich habe auch gar nichts mit ihm zu tun. Miß Rachel ist noch ein junges Mädchen, und sie hat kein Recht, fremde Leute an unser Boot zu lassen. Ich kann nicht erlauben, daß die Leute hier zum Vergnügen auf dem Teich herumfahren. Sie müssen jetzt hier weggehen; wir können keine fremden Leute brauchen, die sich hier herumdrücken und alles auskundschaften wollen. Gehen Sie jetzt fort!«

Blake sah, daß der alte Mann wirklich böse war. Außerdem hatte sich Jakob nun zwischen ihn und das Boot gestellt. Blake wandte sich deshalb zum Haus und traf dort Rachel in der Halle.

»Ihr Jakob ist wirklich sehr alt«, sagte er. »Der wird es nicht mehr lange machen. Er war ganz außer sich und schimpfte, daß ich das Boot nehmen wollte. Er scheint jeden zu fürchten, der sich hier in der Nähe umsieht.«

»Ich weiß es«, erwiderte sie. »Er ist sehr nervös und unruhig und glaubt, er muß an allen Ecken und Enden aufpassen. Und wie alles hier, geht auch er dem sicheren Verfall entgegen.«

»Nun, dann bringe ich wenigstens etwas neues Leben hierher«, entgegnete Blake kühn. »Wenn Sie nachts Hilfe brauchen, so finden Sie mich in dem alten Turm, und zwar von heute abend an.«

Er brachte den Rest des Tages damit zu, sich zu verproviantieren, und als die Dunkelheit hereingebrochen war, schaffte er seine Decken und Vorräte nach Malvery Hold, ohne daß ihn jemand sah. Am nächsten Morgen richtete er das Zimmer so gut wie möglich her, dichtete das Fenster ab, und am folgenden Abend begann er dann mit seinen Nachtwachen. Keiner der Küstenwächter, die auf ihren einsamen Gängen die Ufer abpatroullierten, beobachtete die Bucht und das Clentsche Haus sorgsamer als Blake.

 


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