Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Blake war ruhelos und empört im Zimmer auf und ab gegangen, seitdem er von Mr. Cuffe gehört hatte, daß man Dick Malvery eine Fälschung vorwarf. Aber schließlich setzte er sich wieder und sah den Buchmacher scharf an.
»Ach«, sagte Atherton, »die Sache wird ja höchst interessant. Es eröffnen sich ganz neue Perspektiven, und wir müssen die Angelegenheit von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten. Die Sache mit dem Scheck, ob er nun gefälscht war oder nicht, wurde damals also totgeschwiegen? Und es wußten nur die Bank, Mr. Boyce Malvery und Sie davon?
»Soviel ich weiß, Captain, wurde später nicht mehr darüber gesprochen.«
»Wo ist denn der Scheck jetzt?« fragte Atherton weiter.
»Wahrscheinlich auf der Bank«, entgegnete Mr. Cuffe. »Wenigstens vermute ich das. Soweit ich unterrichtet bin, hat die Bank das Geld zugesetzt. Boyce Malvery sprach damals sehr viel von der Familienehre. Es wäre ja nun auch möglich, daß er selbst der Bank das Geld vergütete und den Scheck an sich nahm. Aber ich habe den Eindruck, daß der Scheck noch auf der Bank liegt.«
»Warum nehmen Sie das an?«
Mr. Cuffe sah den Beamten verschmitzt an und lächelte sonderbar.
»Weil dieser Stephen Pyke Richard Malvery im Hotel aufgesucht hat.«
»Sie haben sich eine Theorie gebildet?«
»Nachdem ich heute morgen den Artikel im ›Argus‹ gelesen hatte, habe ich mir die Sache von allen Seiten überlegt. Auch unterwegs habe ich noch darüber nachgedacht. Die Zusammenkunft von Stephen Pyke und Dick Malvery kann man sich auf zweifache Weise erklären: Es ist möglich, daß der junge Malvery Stephen Pyke zufällig in London traf und ihn in sein Hotel mitnahm, um bei einem Whisky-Soda über die alten Zeiten zu plaudern.«
»Kannten sich die beiden denn schon von früher?«
»Natürlich kannten sie sich. Stephen Pyke war doch damals bei mir angestellt! Ich glaube aber nicht, daß sie sich zufällig in London getroffen haben. Meiner Meinung nach hat Richard Malvery an Stephen Pyke geschrieben, als er nach London kam.«
»Warum wohl?« fragte Atherton.
Mr. Cuffe sah ihn wieder lächelnd an.
»Er wollte doch sicher wissen, wie die Dinge hier in Brychester standen, bevor er hier persönlich wieder erschien.«
Mr. Cuffe machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte auf die beiden anderen zu beobachten. Sowohl Atherton als auch Blake nickten beifällig.
»Der junge Richard Malvery«, fuhr er dann befriedigt fort, »hatte hier allerhand Schulden zurückgelassen. Er schuldete den Kaufleuten, der Bank, den Hotels. Sie hatten ihm alle Kredit gewährt, weil er den Titel erben würde. Und dann muß ich schon sagen, daß er allerhand Weibergeschichten hatte. Man hat ja nach seinem Fortgang genug darüber gehört. Und am schlimmsten war dann diese Sache mit dem Scheck. Er mußte sich natürlich sagen, daß Brychester und Umgebung ihn nicht gerade mit offenen Armen empfangen würden, und daß man ihn nicht mit Musik von der Bahn abholen würde. Ihm muß Brychester eher wie ein Hornissennest vorgekommen sein. Verstehen Sie mich?«
»Ja, Sie haben ganz recht«, erwiderte Atherton. »Sprechen Sie nur weiter.«
»Und so wird er sich wahrscheinlich gedacht haben, daß er am besten erst einmal auskundschaftet, wie alles steht, und sich zu diesem Zweck mit jemand in Verbindung setzt, der ihm darüber genau Bescheid sagen könnte. Was war da natürlicher, als daß er sich an Stephen Pyke wandte?«
»Warum denn gerade an den?« fragte Atherton neugierig.
»Weil Stephen Pyke dafür bekannt ist, daß er alles weiß, was in seiner Umgebung vorgeht. Und zweitens, weil Stephen Pykes Bruder bei der Bank in Brychester viel zu sagen hat. Und wenn Richard Malvery eine Sache fürchten mußte, so war es doch die Geschichte mit dem Scheck!«
»Ja, das leuchtet mir ein«, pflichtete Atherton bei. »Richard Malvery mußte doch wohl annehmen, daß ihm die Bank wegen dieser Angelegenheit Schwierigkeiten machen würde. Daniel Pyke wußte natürlich alles und konnte seinem Bruder auf Verlangen alles mitteilen. Und es ist doch ein schweres Vergehen, den Namen eines anderen auf einem Scheck zu fälschen!« Blake wurde wieder unruhig.
»Sind Sie denn noch immer davon überzeugt, daß Dick den Namen seines Vetters gefälscht hat?« rief er ärgerlich. »Ich behaupte, daß er das nicht getan hat.«
Mr. Cuffe winkte beschwichtigend mit der Hand.
»Seien Sie nicht böse. Niemand wäre froher als ich, wenn es so wäre, wie Sie sagen. Aber die Tatsachen sprechen doch gegen ihn, und wir müssen doch den Fall von allen möglichen Seiten betrachten. Ich nehme an, daß Stephen Pyke nach London fuhr, um ihm mitzuteilen, was er wußte. Wahrscheinlich hat er ihm wegen des Schecks aber nicht alles erzählen können und deshalb ein Zusammentreffen zwischen seinem Bruder Daniel und Richard in Shilhampton vereinbart. Deswegen wird er wohl auch das Telegramm am nächsten Morgen an Richard geschickt haben.«
»Das wäre also das Telegramm, das Mr. Blake in dem alten Sekretär gefunden hat«, warf Atherton ein.
»Ja, das Telegramm ohne Unterschrift, das am Morgen des 27. Februar in Shilhampton aufgegeben wurde. Der Absender muß Stephen Pyke gewesen sein. Meiner Meinung nach hat sich die Sache so abgespielt. Richard Malvery bekam das Telegramm, ging daraufhin zu seiner Bank und hob fünfzehnhundert Pfund ab. Am Nachmittag reiste er nach Brychester und sandte Mr. Blake ein Telegramm und zwei Ansichtspostkarten. Zweifellos ließ er sich dann von Greggy Abinett eine Strecke mitnehmen und ging auch in das Gasthaus ›Zum Gelichteten Anker‹. Von da aus muß er nach Hause gegangen sein, um seine Brieftasche in dem alten Sekretär zu verstecken. Nun kommt die große Frage, wohin ging er dann?« Cuffe erhob sich, richtete sich zu voller Größe auf und klopfte Atherton auf die Schulter. »Von da aus ging er nach Shilhampton! Und zwar um die Brüder Pyke zu sprechen. Captain, ich werde Ihnen sagen, was Sie tun müssen. Diese beiden Leute müssen Sie ausfragen. Die müssen doch schließlich auf Ehre und Gewissen sagen können, ob sie Mr. Malvery in jener Nacht getroffen haben, wo sie sich von ihm trennten und welchen Weg er einschlug, als er sie verließ. Und dann können Sie sicherlich verschiedene neue Tatsachen feststellen.«
Mr. Cuffe, der nun all seine Theorien entwickelt hatte, wischte sich wieder die Stirn mit seinem Taschentuch, nahm seinen großen Hut und machte Anstalten, sich zu verabschieden.
»Einen Augenblick noch, Mr. Cuffe«, bat Atherton. »Sie haben uns einen guten Wink gegeben, und ich werde dementsprechend handeln. Ich kenne die Pykes dem Namen nach. Die beiden wohnen doch in Shilhampton?«
»Ja, am Rande der Stadt. Der kleine Vorort heißt Norman's Point und liegt zwischen Shilhampton und Marshwyke.«
»Richard Malvery befand sich also ganz in ihrer Nähe, als er am 27. Februar im ›Gelichteten Anker‹ saß?«
»Etwas über drei Kilometer auf der Chaussee. Wenn er schnell ausschritt, konnte er den Weg in einer halben Stunde zurücklegen.«
»Noch heute abend gehe ich nach Norman's Point. Aber bitte schweigen Sie einstweilen über die ganze Angelegenheit.«
Mr. Cuffe verabschiedete sich höflich, und Atherton wandte sich an Blake, der düster auf den Fußboden starrte.
»Nun? Was halten Sie von Cuffe und seinem Bericht?« Blake schrak aus seinen Gedanken auf.
»Ich glaube, daß dieser Boyce Malvery ein ganz infamer Kerl ist!«
»Wie kommen Sie denn zu diesem vernichtenden Urteil?«
»Ich kann nun einmal diese Geschichte von dem gefälschten Scheck nicht glauben. Ich war lange genug mit Dick zusammen, noch dazu in dem einsamen Kanada, wo man einander genau kennenlernt. Er mag ja allerhand ausgefressen haben, aber niemals hat er eine Unterschrift auf einem Scheck gefälscht!«
»Warum sollte ihn aber Boyce der Sache bezichtigen?«
»Denken Sie doch daran, daß Dick Malvery verschwunden war, als er ihn anklagte. Boyce konnte also ruhig abstreiten, daß er den Scheck ausgestellt hatte. Es war ja niemand da, der ihm entgegentreten konnte.«
»Aber solche Beschuldigungen äußert man doch nicht leichtfertig«, bemerkte Atherton trocken. »Und Boyce Malvery ist Rechtsanwalt und Notar und müßte sich noch mehr hüten als ein anderer.«
»Aber gerade weil er selbst Rechtsanwalt ist, hat er sich die Sache sehr genau überlegt. Ich bin davon überzeugt, daß er selbst diesen Scheck unterschrieben und Dick gegeben hat. Wenn ich Gelegenheit habe, werde ich ihm das auch auf den Kopf zusagen.«
»Aber beruhigen Sie sich doch«, erwiderte der Beamte. »Sie erschweren damit nur unsere Nachforschungen. Sie müssen schweigen und beobachten. Ich gehe heute abend nach Shilhampton. Kommen Sie mit?«
»Ja, natürlich! Ich würde eine Regenröhre herunterklettern oder durch Ihren Triebsand waten, um etwas Neues zu erfahren!«
Es war schon dunkel, als Atherton und Blake im Auto des Polizeikommissars nach Shilhampton fuhren. Sie ließen den Wagen in dem ersten Hotel zurück und gingen zu Fuß nach Norman's Point, einer kleinen Villenkolonie. Blake betrachtete mit Interesse den kleinen Ort, der eine so große Bedeutung in dem Fall Richard Malvery gewonnen hatte.
»Sehen Sie das Licht dort an der Küste?« fragte Atherton. »Das ist das Feuerschiff auf der Höhe von Marshwyke Creek. Das kleine, rötlichschimmernde Licht ist das Gasthaus ›Zum Gelichteten Anker‹, und das weißliche ist das Clentsche Haus.«
»Haben Sie in den letzten Tagen irgend etwas von den Clents gehört?«
»Nein, aber es ist möglich, daß wir sehr bald recht viel von ihnen hören werden. Hier ist die Villa von Stephen Pyke«, fuhr er fort, nachdem er den Namen an einem Pfeiler der Gartenmauer gelesen hatte. »Also sagen Sie möglichst wenig, lassen Sie aber die anderen recht viel reden, und beobachten Sie auch die kleinsten Nebenumstände.«
Blake nickte nur. Zum Sprechen war er sowieso nicht aufgelegt. Er sah sofort, daß der Mann, der ihnen die Tür öffnete, auf dem rechten Auge schielte.