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Am Abend schloß sich Atherton ein und ließ sich von niemand sprechen. Er mußte einmal ungestört nachdenken. Am meisten hatte ihn Boyce Malverys Haltung in Erstaunen gesetzt. Dieser sonderbare Furchtanfall war doch zu merkwürdig, und die lahme Erklärung, die ihm Boyce gegeben hatte, befriedigte ihn nicht. Boyce hatte in jenem Augenblick sicher zu hören erwartet, daß man die Leiche Richards gefunden hatte. Aber warum sollte er sich darüber aufregen oder gar fürchten? Das mußte doch einen guten Grund haben. Wenn Richard tot war, gewann Boyce Malvery doch höchstens dadurch. Der alte Sir Brian würde wohl nicht mehr lange leben, und Boyce erbte dann den Titel. Warum wollte er es nicht bekannt werden lassen, wenn er wußte oder glaubte, daß sein Vetter nicht mehr lebte? Hier lag noch ein tieferes Geheimnis. Aber wie sollte man zu einer Lösung kommen?
Atherton faßte schließlich den Entschluß, erstens in aller Ruhe festzustellen, welche Verbindung zwischen Boyce Malvery und Gillian Clent bestand. Die Auffindung der Pfeife hatte ihn davon überzeugt, daß Boyce sich an jenem Abend im Hause der Clents aufgehalten hatte und natürlich heimlich dorthin gekommen war. Und zweitens mußte er in Erfahrung bringen, was aus Hester Prynne geworden war, die man bisher nicht wiedergesehen hatte. Ihre plötzliche Flucht von Brychester mochte viel mehr bedeuten, als man zunächst hatte annehmen können. Boyce Malvery und seine Mutter versuchten allerdings, die Sache als vollkommen bedeutungslos hinzustellen. Mrs. Malvery hatte Atherton auf der Straße angehalten und ihr Bedauern darüber ausgesprochen, daß sie ihn überhaupt mit der Sache belästigt hatte. Sie hatte ihm erzählt, daß Hester ein schwieriges, launenhaftes Mädchen sei und das Leben in Brychester wahrscheinlich zu langweilig gefunden habe. Es schien besonders ihre Absicht zu, sein, Atherton davon zu überzeugen, daß weder sie noch ihr Sohn diese persönliche Angelegenheit in der Öffentlichkeit behandelt wissen wollten. Atherton hatte sich zuerst über Hester Prynnes Verschwinden den Kopf nicht weiter zerbrochen. Aber nun erschien es ihm notwendig, ihren Aufenthaltsort zu entdecken, um Auskunft über verschiedene Dinge von ihr zu erhalten. Auch die plötzliche Ohnmacht betrachtete er jetzt von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus.
Inzwischen gab es aber auch noch verschiedene andere Angelegenheiten aufzuklären, vor allem die Ermordung des Matrosen. Am Tag nach der Entdeckung der Leiche fuhren Atherton und Blake zusammen zu der Totenschau. Keiner von beiden hatte eine Ahnung, daß diese an sich notwendige, nur formelle Verhandlung, neues Licht auf das Verschwinden Richard Malverys werfen könnte. Der Polizeikommissar wußte in solchen Dingen sehr genau Bescheid und glaubte, daß alles programmäßig verlaufen und damit erledigt sein würde. Die Tatsachen waren ja einfach und klar. Der Tote gehörte offenbar der Besatzung eines Schiffes an, das Shilhampton angelaufen hatte. Entweder war er dort abgemustert worden, oder er hatte einen Abendurlaub an Land erhalten, wozu er sich landfein gemacht hatte. Auf jeden Fall hatte er die Bekanntschaft Richard Malverys gemacht und war in dem Gasthaus »Zum Mond und Stern« gewesen. Alles Weitere hatte sich dann so abgespielt, wie Blake und er es vermuteten. Jakob Elphick hatte nach der Ermordung die Leiche in den Graben versenkt und in dem unklaren Bewußtsein, daß es sich hier um ein Grab handelte, ein Kreuz in den Baumstamm geschlagen. Nichts konnte klarer sein als diese Geschichte.
Die Verhandlung fand in dem großen Versammlungsraum des Dorfes statt, wohin man den Toten gebracht hatte, und es dauerte nicht lange, bis die Zeugen ihre Aussagen gemacht hatten. Schließlich empfahl der Vorsitzende den zwölf Geschworenen, ihren Spruch dahin zu fassen, daß der Matrose irrtümlicherweise von Jakob Elphick erschlagen wurde, der inzwischen auch gestorben war und nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden konnte.
Aber zum größten Erstaunen aller erhob sich einer der Geschworenen und protestierte lebhaft dagegen.
»Wir müssen erst noch mehr Aussagen hören, bevor wir unseren Spruch fällen können«, sagte er. »Und bei allem Respekt vor der Ansicht des Vorsitzenden möchte ich noch etwas mehr wissen, bevor ich Jakob Elphick oder einen anderen dieser Tat beschuldige!« Die Leute im Saal reckten die Hälse, um den Mann zu betrachten, der sich so abweisend äußerte. Auch Blake, der zum erstenmal eine solche Verhandlung mitmachte, musterte den Geschworenen neugierig. Es war ein älterer Mann mit scharfen Gesichtszügen und rötlichem Haar. »Das ist Mr. Stubbs, der Kolonialwarenhändler«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Der wird schon seine Meinung sagen und seinen Kopf durchsetzen – der läßt sich nichts gefallen!«
Aus diesen Worten schloß Blake, daß Mr. Stubbs eine bekannte Persönlichkeit hier war.
Der Vorsitzende war über diesen plötzlichen Angriff überrascht und sah verwirrt zu den Geschworenen.
»Natürlich«, erwiderte er. »Wenn einer von Ihnen mit dem Gang der Verhandlung und allem, was wir gehört haben, noch nicht zufrieden ist und sich noch kein klares Bild machen kann, dann muß er das frei und offen sagen. Ich wüßte allerdings nicht, welche Zeugen wir noch vernehmen könnten. Für mich ist der Fall vollkommen eindeutig.«
»Für mich aber durchaus nicht«, erklärte Mr. Stubbs hartnäckig. »Ich muß noch mehr über die Sache wissen. Ich bin nicht davon überzeugt, daß der junge Mann von Jakob Elphick umgebracht wurde. Wir haben bisher nur Indizien gehört. Das genügt mir nicht!«
Der Vorsitzende lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte über seine Brille hinweg der Reihe nach die einzelnen Beamten, Schreiber, Polizisten und Rechtsanwälte an. Er hatte die ganze Verhandlung als vollständig klar angesehen und geglaubt, daß sie in einer guten halben Stunde zu Ende wäre. Er sah sich um, ob von irgendeiner Seite ein Vorschlag oder eine Anregung kommen könnte, aber er fand nicht die geringste Unterstützung und Hilfe.
»Was wollen Sie denn noch wissen, Mr. Stubbs?« fragte er ein wenig betreten. »Ich weiß nicht, welche weiteren Zeugen wir noch vorladen könnten. Sie äußerten, daß Ihnen die bisherigen Aussagen nicht genügen – wie soll ich das verstehen?«
»Ich will nicht leugnen, daß viel gegen den alten Mann spricht, aber der junge Matrose kann doch auch von einem andern erschlagen worden sein!«
»Wollen Sie den Verdacht auf eine besondere Person lenken?« fragte der Vorsitzende ein wenig unsicher. Er wußte aus seiner früheren Praxis, daß Mr. Stubbs gewöhnlich recht unangenehme Fragen stellte, nicht nur als Geschworener, sondern auch bei Komiteesitzungen und sonstigen Angelegenheiten. »Stellen Sie weitere Fragen, oder geben Sie eine Anregung. Wir sind hier versammelt, um die Wahrheit herauszubringen. Was verstehen Sie unter ›einem andern‹?«
Mr. Stubbs lehnte sich über den Tisch vor.
»Es leben sonderbare Leute an der Bucht von Marshwyke, und es kommen auch allerhand Leute von außerhalb dorthin«, erwiderte er bedeutungsvoll. »Hier ist weder die Zeit noch der Ort, auf Einzelheiten einzugehen, aber es ist gut genug bekannt, daß sich häufig unerwünschte Elemente in der Bucht von Marshwyke herumtreiben.«
»Ich fürchte, mit derartig ungenauen Angaben können wir nichts anfangen«, entgegnete der Vorsitzende. »Sie wissen, daß wir hier sind, um den Tod dieses jungen Mannes aufzuklären.«
»Gut, dann will ich etwas sagen, was nicht ungenau ist«, unterbrach ihn Mr. Stubbs. »Ich behaupte, daß dieser junge Mann von solchen Leuten ermordet wurde, wie ich sie eben erwähnte, und nicht von Elphick!«
»Meinen Sie, er könnte einen Zusammenstoß mit solchen Leuten gehabt haben? Das ist aber immer noch unsicher. Denken Sie denn an eine bestimmte Person?« Mr. Stubbs sah sich im Saal um, zog die Weste herunter und runzelte die Stirn.«
»Ich meine Schmuggler!«
Der Vorsitzende seufzte. Diese Verhandlung verlief so ganz anders, als er erwartet hatte. Er wollte gerade dem Gedanken Ausdruck geben, daß das nicht zur Sache gehörte, als Mr. Stubbs in seiner Rede fortfuhr. »Es ist uns allen wohlbekannt, daß hier in der Bucht viel geschmuggelt wird. Schmuggler kommen von der See herein, und es wohnen Leute an der Küste, die mit ihnen zusammenarbeiten. Ich behaupte, es ist leicht möglich, daß dieser junge Matrose mit Schmugglern zusammengestoßen ist und von ihnen getötet wurde. Und bevor diese Verhandlung geschlossen wird, beantrage ich, daß Sie als Vorsitzender auch Zeugen über diese letzte von mir angedeutete Möglichkeit vorladen und vernehmen. Es sind mehrere Leute hier, die darüber Auskunft geben können.«
Hinten an der Tür standen zwei Zollbeamte, die wie andere als Zuhörer hereingekommen waren, und Mr. Stubbs zeigte auf die beiden.
»Ich beantrage, daß sich diese beiden Beamten darüber äußern. Die Bucht gehört zu dem Gebiet, über das sie die Aufsicht führen; und sie wissen wahrscheinlich besser als jeder andere, was dort vorgeht.«
Der ältere der beiden Beamten wurde vereidigt und sagte aus, daß er sich auf keine besonderen Ereignisse in der Nacht des 27. Februar besinnen könne. Er glaube auch nicht, daß an diesem Abend etwas Außergewöhnliches passiert sei. Auch von Fremden habe er an diesem Tag nichts gesehen oder gehört.
»Ich sehe nicht ein, wie uns das weiterbringen könnte«, bemerkte der Vorsitzende. »Möchten Sie selbst noch etwas fragen, Mr. Stubbs?«
Der Geschworene erhob sich und sah den Zeugen mit dem Blick eines Mannes an, der den Dingen auf den Grund kommen will.
»Ist Ihnen die Tatsache bekannt, daß häufiger Schmuggler in die Bucht kommen?«
Der Beamte zögerte und sah den Vorsitzenden an.
»Ich glaube, daß ich diese Frage nicht beantworten kann, ohne von meiner vorgesetzten Behörde dazu bevollmächtigt zu sein.«
»Ganz recht«, stimmte der Vorsitzende zu. »Ich glaube, wir können nicht auf eine Antwort dringen, Mr. Stubbs. Die Zollbehörde mag ihre eigenen Ansichten und Pläne über diese Angelegenheit haben, die hier nicht weiter besprochen werden können.«
»Sehr schön! Sehr gut!« rief Stubbs. »Natürlich wieder einmal Geheimmethoden! Aber die öffentliche Meinung darf nicht unterdrückt werden, und das Publikum will sich nicht immer bevormunden lassen. Ich stelle fest, daß von Zeit zu Zeit Schmuggler in die Bucht kommen, und ich behaupte, daß wahrscheinlich Schmuggler diesen armen Menschen getötet haben. Diese Annahme ist ebenso glaubwürdig wie die andere. Ich gebe unter keinen Umständen einen bestimmten Spruch ab. Meiner Meinung nach muß die Verhandlung vertagt werden, damit weitere Zeugen verhört werden können.«
Mr. Stubbs hatte anscheinend großen Einfluß bei den anderen Geschworenen. Man hörte beifällige Äußerungen, und schließlich sah sich der Vorsitzende gezwungen, die Verhandlung auf zwei Wochen zu vertagen.
Atherton verließ den Sitzungssaal mit Blake, aber plötzlich berührte Mr. Stubbs seinen Arm.
»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Captain? Kommen Sie doch mit Ihrem Freund auf ein paar Minuten in meine Wohnung.«