Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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30

Atherton fuhr mit seinem Wagen nach Brychester zurück. Seine Gedanken waren ebenso in Aufruhr wie das Meer draußen. Als er in der Stadt ankam, ging er gleich in sein Büro. Der Beamte, der die Dienste eines Schreibers bei ihm versah, kam ihm auf der Treppe entgegen.

»In Ihrer Abwesenheit kam ein gewisser Jeffery dreimal hierher und fragte nach Ihnen«, meldete er. »Er war früher Gärtner bei Mr. Boyce Malvery, ist aber seit kurzer Zeit von ihm weggegangen. Er möchte Sie in einer besonderen Angelegenheit sprechen.«

»Wo ist er denn jetzt?« fragte Atherton.

»Seit zehn Uhr vormittags hat er sich hier in der Nähe herumgetrieben. Als er das letztemal hier war, sagte er, daß er in ein Gasthaus in der Nähe gehen wolle, um etwas zu essen. Später wollte er dann wiederkommen. Er deutete mir an, daß er Ihnen etwas zu sagen hätte, was Sie sofort wissen müßten. Soll ich mich einmal nach ihm umsehen?«

»Ja, tun Sie das und bringen Sie ihn gleich her.«

Der Beamte hatte den kleinen Mann mit dem faltigen Gesicht und den klugen Augen bald gefunden und brachte ihn zu Atherton mit.

Der Polizeikommissar gab seinem Schreiber einen Wink, die Tür zu schließen.

»Sie sind also wieder zurück, Jeffery? Ich dachte, Sie hätten Brychester verlassen?«

»Ja, ganz recht. Seit ein paar Wochen bin ich von Mr. Boyce fort. Ich arbeite jetzt bei Colonel Chaloner in Shilhampton. Seine Villa liegt gerade vor der Stadt.«

»Ja, das weiß ich. Was haben Sie mir denn nun zu erzählen? Ist es privat?«

Jeffery zog seinen Stuhl näher an Athertons Schreibtisch und holte aus seiner Brusttasche ein zusammengefaltetes, zerknittertes Exemplar des Aufrufes hervor, in dem die tausend Pfund versprochen wurden. »Deswegen bin ich hergekommen«, sagte er dann. »Ist es richtig, daß das Geld für Mitteilungen ausgezahlt wird, die zur Auffindung von Mr. Richard Malvery führen, ganz gleich, ob er tot oder lebendig ist?«

»Ja, das stimmt.«

Jeffery faltete den Aufruf wieder zusammen und steckte ihn ein.

»Und es ist auch klar, daß unsere Unterhaltung als streng vertraulich gilt?«

»Selbstverständlich, wenn Sie es wünschen. Und wenn Sie uns wirklich etwas mitteilen können, wodurch es uns gelingt, Mr. Richard Malvery aufzufinden, dann bekommen Sie auch die Belohnung. Aber nun erzählen Sie endlich!«

Jeffery lehnte sich vor, legte beide Hände auf die Knie und sah Atherton fest an.

»Unsere Miß Hilda hat drüben in Frankreich Bekannte besucht.«

»Was hat denn das mit der Sache zu tun?«

»Gestern ist sie wieder zurückgekommen, und zwar mit dem Dampfer, der um halb sechs abends in Shilhampton ankommt, direkt von Le Havre. Und wenn der Dampfer in den Hafen einläuft, wartet ein direkter Zug, um die Passagiere nach London zu bringen, das heißt, wenn sie dorthin fahren wollen. Einige tun es, andere lassen es, wie unsere Miß Hilda.«

»Bitte, kommen Sie doch zur Sache!«

»Das gehört alles dazu«, entgegnete Jeffery unbeirrt. »Der eine erzählt seine Geschichte eben so und der andere so. Ich muß das alles berichten, damit es Ihnen auch klar wird. Also, unsere Miß Hilda war mehrere Monate in Frankreich, und sie hatte viel Gepäck bei sich. Deshalb hat ihr Vater, der Oberst, das Auto für sie zum Hafen geschickt, und ich bin mit dem leichten Wagen hingefahren, um das Gepäck abzuholen. Sehen Sie, so kam ich zum Hafen von Shilhampton. Verstehen Sie auch, was ich sage?«

»Ja, ich höre jedes Wort. Aber vielleicht geht es etwas schneller?«

»Hören Sie nur zu! Wenn so ein Dampfer ankommt, gibt es immer viel Spektakel und Durcheinander, und man kann viel beobachten. Ich mußte warten, bis die Koffer von unserer Miß Hilda von Bord gebracht wurden. So sah ich mich ein wenig auf dem Bahnsteig um und beobachtete die Leute, die nach London weiterfuhren. Nun ist dort so ein kleines Häuschen auf der Station, wo man Geld wechseln kann – kennen Sie das?«

»Natürlich, das ist die Wechselstube.«

»Ganz recht. Also bevor der Zug nach London abfuhr, stand ich daneben. Und während ich einen Franzosen betrachtete, flitzt auf einmal etwas an mir vorbei. Und wer war das wohl?«

»Eine Dame?«

»Ja, eine Dame, die man hier vermißt. Sie kennen sie!«

»Um Himmels willen, Sie meinen doch nicht etwa Miß Prynne?«

Jeffery lachte vor Vergnügen.

»Doch, die meine ich. Wir haben sie immer Miß Essie genannt.«

Atherton richtete sich auf und sah seinen Besucher nachdenklich an.

»Haben Sie sich auch nicht geirrt?«

»Nein, Sie können sich auf mich verlassen! Ich kenne Miß Essie viel zu genau, um mich zu täuschen! Ich folgte ihr also, weil ich wußte, daß sie vermißt wurde. Aber Sie wissen ja, welches Gedränge manchmal auf einem Bahnsteig herrscht. Bevor ich sie erreichen konnte, sprang sie in den Zug, und der Zug fuhr ab!«

»Ist das alles?« fragte Atherton enttäuscht. »Ich dachte, Sie wollten mir etwas anderes erzählen.«

»Warten Sie noch einen Augenblick. Ich schaute doch auch in den Wagen, in den sie hineinsprang. Ein Herr hielt die Tür für sie auf.« Jeffery schlug sich knallend mit der flachen Hand aufs Knie. »Und wissen Sie, den kannte ich auch!«

»Wen meinen Sie denn?«

»Es war Mr. Richard, so wahr ich lebe! Ich kann einen Eid darauf leisten, daß er es war!«

Atherton atmete schwer. Plötzlich brachen all seine Theorien in sich zusammen. Er hatte Richard Malvery immer für tot gehalten. Unwillkürlich stand er auf, trat ans Fenster und starrte auf die regennasse Straße hinaus.

»Die Sache ist sehr ernst«, sagte er dann. »Haben Sie wirklich Mr. Malvery erkannt?«

»Na, ich kenne doch Mr. Richard, als er noch so klein war!« Jeffery zeigte die Größe mit der Hand und lachte. »Den kenne ich ganz bestimmt. Er hat sich in den fünf Jahren auch kein bißchen verändert.«

»Was – trug er denn keinen Bart?«

»Nein, ebensowenig wie Sie und ich. Nur einen kleinen schwarzen Schnurrbart hat er. Er sah allerdings ein wenig dünn und abgemagert aus.«

»Miß Prynne fuhr also mit ihm?«

»Das ist todsicher. Ich sah noch, wie sie beide lachten und miteinander sprachen. Und dann war noch ein anderer Herr bei ihnen.«

»Wie sah der denn aus?«

»Der war mir ganz fremd. Sah aus wie ein Franzose. Ich hatte ja nicht viel Zeit, etwas zu beobachten.«

»Haben Sie schon zu jemand über Ihre Entdeckung gesprochen?« fragte Atherton, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte.

»Nein, das tue ich doch nicht. Ich habe mir einen halben Tag Urlaub geben lassen, um Ihnen alles mitzuteilen. Ich kann schweigen wie kein anderer.«

»Das ist recht. Schweigen Sie auch jetzt noch darüber, wenn Sie gehen.«

»Schön. Und wie steht es mit der Belohnung? Bekomme ich die jetzt ausbezahlt?«

»Überlassen Sie das nur mir; so schnell geht das nicht. Aber ich werde schon dafür sorgen, daß Sie nicht zu kurz kommen.«

Atherton versank in tiefes Nachdenken, als der Gärtner gegangen war. Aber plötzlich schrak er auf, als es zwei Uhr schlug, und erhob sich, um noch verspätet zu Mittag zu essen.

Als er nach dem Essen wieder in sein Büro zurückkam, wartete Zollinspektor Dorker auf ihn, der am Morgen in Malvery mit ihm gesprochen hatte.

»Ich bin direkt hergekommen, um Sie zu benachrichtigen. Wir halten die Razzia in Clents Haus in dieser Nacht ab, denn wir haben bestimmte Nachrichten erhalten, daß sich der Mann, den wir suchen, heute abend dort aufhält. Wir möchten Sie bitten, auch hinzukommen und zwei Beamte mitzubringen, auf die Sie sich verlassen können. Wir treffen uns an der Straßengabelung, wo der Weg nach der Landzunge abbiegt, Punkt elf Uhr. Wer zuerst kommt, wartet dort im Schatten der Felsen.«

»Wenn aber der Sturm noch schlimmer wird, ist es vielleicht unmöglich, dorthin zu kommen.«

»Wir müssen unter allen Umständen dort sein, ganz gleich, wie das Wetter ist. Es ist unsere einzige Chance.«

*

Am selben Abend fuhr Atherton mit seinen beiden besten Leuten bis zum Kreuzweg bei Marshwyke. Er hatte ursprünglich die Absicht gehabt, Blake aus Malvery Hold abzuholen, aber in dem schwachen Mondlicht, das ab und zu durch die schwarzen Wolken sichtbar wurde, erkannte er, daß die Uferstraße von den Wellen unterspült und zum Teil zusammengebrochen war. Zwischen ihm und dem alten Haus lag eine große Wasserwüste.

 


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