Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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3

Bevor Blake das Ende der Zufahrtsstraße erreicht hatte, schlüpfte Jakob Elphick plötzlich hinter einem Holunderbusch hervor und streckte die Hand aus, um ihn anzuhalten. In Gesicht und Stimme des Alten drückte sich größte Erregung aus.

»Ich habe einiges von dem gehört, was Sie zu unserer jungen Lady sagten«, begann er und gab damit ohne weiteres zu, daß er hinter der Tür gelauscht hatte. »Sehen Sie, ich muß auf alles achten, denn außer mir ist niemand hier, der noch sorgt. Sie ist doch nur ein junges Mädchen, und es sind keine Männer mehr in der Familie. Sie sagten, daß Richard im vergangenen Februar in Brychester war. Stimmt das wirklich?«

Blake blickte den alten Diener prüfend an, bevor er antwortete, und er erkannte, daß Elphick nicht aus bloßer Neugierde fragte.

»Sie können es mir glauben, er war dort.«

»Dann hat man ihn umgebracht – ermordet! Ja, das ist der richtige Ausdruck. Man hat ihn ermordet! Schon seit den Tagen seiner Kindheit liegt ein Fluch auf ihm. Ermordet! Und man könnte sagen, vor der Tür seines Vaterhauses.«

Beinahe packte Blake ein unerklärliches Furchtgefühl, als er sich von dem erregten Gesicht des alten Mannes abwandte und über die einsame Bucht schaute, die sich vor ihm ausdehnte. Ein dunkles Schicksal schien über dieser Gegend zu lasten. Während seiner kurzen Unterredung mit Rachel hatte sich dieser Eindruck seiner bemächtigt, und Jakob Elphicks düstere Worte vertieften ihn noch mehr.

»Wer hätte ihn denn ermorden sollen?« fragte er nach einem kurzen Schweigen. »Ich weiß wohl, daß ihm hier der Boden unter den Füßen brannte, bevor er fortging, aber ich hatte nie den Eindruck, daß jemand ihn so haßte, daß er einer solchen Tat fähig gewesen wäre.«

»Sie haben ihn umgebracht«, sagte Elphick halblaut zu sich selbst.

»Ich werde die Sache der Polizei anzeigen, und außerdem suche ich Boyce Malvery auf.«

Ein sonderbarer Ausdruck trat in das Gesicht des Alten, und ehe Blake sich versah, war Elphick wieder im Gebüsch verschwunden und antwortete auf seinen Ruf nicht mehr.

»Sonderbar!« dachte Blake. »Haben ihn meine Worte so erschreckt? Hier ist alles so seltsam und unwirklich, und je eher ich die Polizei benachrichtige, desto besser wird es sein. Hier müssen energische Maßnahmen getroffen werden.«

*

Als er nach Brychester zurückkam, hatte er noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen. Er fragte deshalb sofort nach der Polizeihauptwache. Sie war nicht weit entfernt, und bald darauf saß er dem Polizeikommissar Atherton in dessen Büro gegenüber. Er legte ihm den ganzen Sachverhalt dar und erzählte auch von seinem Besuch in Malvery Hold.

»Das ist ein sonderbarer Fall«, erwiderte Atherton, als er alles gehört hatte. »Und Sie sagen, daß er Geld besaß?«

»Er hatte ungefähr zweitausend Pfund, als er aus Kanada abreiste. Aber natürlich hat er die nicht in der Tasche mit sich herumgetragen; sie lagen auf der Canadian Bank of Commerce.«

»Die hat in London eine Zweigniederlassung. Da kann man leicht feststellen, ob er eine größere Summe bei sich hatte, als er nach Brychester kam, wenn er wirklich hier gewesen ist.«

»Wie hätte er sonst das Telegramm und die Postkarten schicken können?«

»Könnte das nicht ein anderer getan haben, der bestimmte Gründe dafür hatte?«

»Aber auf den Karten sehen Sie doch seine eigene Handschrift! Er war unbedingt hier!«

»Es sieht allerdings so aus. Aber nun komme ich auf etwas anderes. Mr. Richard Malvery war doch so gut bekannt in Brychester, daß er nicht hierhergekommen sein kann, ohne gesehen zu werden. Er mußte doch zum Beispiel zur Post gehen, um das Telegramm abzuschicken. Die Postkarten mußte er in einem Laden kaufen, und bei seiner Ankunft mußte er sich auf dem Bahnhof zeigen. Alle Post- und Eisenbahnbeamten und alle Geschäftsleute hätten Richard Malvery selbst nach einer langjährigen Abwesenheit sofort wiedererkannt. Und wenn ihn einer gesehen hätte, wäre die Nachricht von seiner Rückkehr in einer Viertelstunde im ganzen Ort verbreitet gewesen!«

»Er hatte sich aber einen Vollbart stehen lassen und sah nicht mehr jung, sondern gereift und männlich aus. Wenn man fünf Jahre in den wilden Gegenden Kanadas zubringt, verändert man sich schon ein wenig. Und er führte ein rauhes Leben, bevor er Teilhaber auf meiner Farm wurde.«

»Nun, das mag zutreffen. Morgen früh telegrafiere ich sofort an die Niederlassung der Canadian Bank of Commerce in London, und hier forsche ich nach, ob einer der Beamten oder sonst jemand Dick Malvery gesehen hat. Aber –«

Er zuckte die Schultern und machte eine vage Handbewegung.

»Aber wenn das alles geschehen ist«, nahm Blake den unausgesprochenen Gedanken auf, »dann sind wir wahrscheinlich nicht viel klüger. Wir wissen dann immer noch nicht, wo er ist. Aus dieser einen Postkarte ist jedenfalls deutlich zu ersehen, daß er die Absicht hatte, nach Hause zu gehen. Aber dort ist er nicht angekommen. Vielleicht ist es das beste, wenn ich eine Belohnung aussetze. Dann bekommen wir sicher irgendwelche Nachrichten über ihn. Selbst wenn man nicht wußte, wer er war, muß man doch den vermeintlichen Fremden gesehen haben. Was meinen Sie dazu? Wäre es nicht gut, morgen früh eine Bekanntmachung in der Stadt anschlagen zu lassen und darin die Belohnung zu versprechen?«

»Das kostet aber Geld«, meinte Atherton zögernd.

»Und wenn tatsächlich ein Verbrechen vorliegen sollte, erreicht man nur etwas, wenn man eine größere Summe aussetzt. Sonst kommt nichts heraus.«

»Ich werde nichts unversucht lassen, um Dick Malvery zu finden«, erwiderte Blake fest entschlossen. »Ich bin reich; ich habe vor kurzer Zeit ein großes Vermögen geerbt. Es kommt mir auf Geld nicht an.« Er nahm seine Brieftasche heraus. »Hier sind hundert Pfund, das wird fürs erste genug sein. Lassen Sie den Anschlag drucken.«

»Das ist ein praktischer Vorschlag.« Atherton verschloß die Banknoten in einer Schublade. »Zunächst schreibe ich Ihnen eine Quittung aus, und morgen früh können Sie den Anschlag schon überall lesen. Aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn wir damit keinen Erfolg haben. Wenn Jakob Elphick mit seiner Vermutung recht haben sollte, dann ist das Verbrechen sicher in größter Heimlichkeit ausgeführt worden.«

»Wer könnte denn als Täter in Frage kommen? Hatte er überhaupt solche Todfeinde?«

Der Polizeikommissar lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

»Ich kann gerade nicht sagen, daß er Feinde hatte«, entgegnete er nachdenklich. »Aber er hat hier ein ziemlich wildes Leben geführt und viele böse Streiche begangen. Er war auch in Liebeshändel verwickelt, und als er damals verschwand, ging allgemein das Gerücht, daß es ihm schlecht gegangen wäre, wenn ein gewisser Judah Clent ihn gefaßt hätte. Dieser Judah Clent ist ein Seemann, und seine Schwester Gillian ist von Richard Malvery schlecht behandelt worden. Judah war unterwegs, als Richard fortging, sonst hätte es damals schon einen Zusammenstoß gegeben. Vielleicht –«

Atherton beendete den Satz nicht und sah seinen Besucher vielsagend an.

»Sie denken daran, daß die beiden in der Nacht nach Richards Rückkehr aneinandergeraten sein könnten?«

»Ganz recht. Ich muß feststellen, wo Judah Clent damals war. Diese Clents sind ganz merkwürdige Leute. Niemand weiß, was man von der Mutter, dem Sohn oder der Tochter halten soll.«

»Wohnen sie in Brychester?«

»Nein, sie hausen an der großen Bucht, an der man kurz vor Malvery Hold vorbeikommt. Ich werde mich unter der Hand erkundigen. Aber es könnte ja auch eine andere Lösung geben. Vielleicht war Richard Malvery so unvorsichtig, eine große Summe mitzunehmen und sie achtlos zu zeigen. Es könnte ihm jemand nachgeschlichen sein, um sich das Geld anzueignen. Die Gegend zwischen Brychester und Malvery Hold ist einsam, und die Februarnächte sind dunkel. Auf jeden Fall müssen wir auch diese Möglichkeit im Auge behalten.«

»Gewiß. Wir werden noch an vieles denken müssen. Wenn Sie sich mit mir in Verbindung setzen wollen oder mich brauchen – ich bin im ›Kardinalshut‹ abgestiegen, und ich will so lange dort bleiben, bis wir die Sache aufgeklärt haben.«

Blake verabschiedete sich. Atherton blieb noch eine Weile nachdenklich sitzen, dann erhob er sich und verließ sein Büro, um Mr. Boyce Malvery aufzusuchen.

 


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