Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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4

Polizeikommissar Atherton ging auf eines der alten Häuser zu, die in der Nähe der Kathedrale lagen. Es war von einer hohen Mauer umfriedet und von einem Garten umgeben. Der ganze Platz hatte etwas feierlich Ernstes, und der Lärm des Alltags schien nicht bis hierher zu dringen. Unter dem Schutz dieser altersgrauen Mauern fühlte man sich sicher und geborgen. Unbewußt nahmen auch die Bewohner dieser Häuser etwas von dem Charakter ihrer Umgebung an und zeichneten sich durch Ernst und Würde in Sprache und Haltung aus. Bei den anderen Bürgern der Stadt galten die Leute, die hier wohnten, als eine Art Aristokraten. Ruhig und still war es auch in dem altmodischen Wohnzimmer, in dem Mr. Boyce Malvery mit seiner Mutter und deren Gesellschafterin, Miß Hester Prynne, saß. Mrs. Malvery strickte, Miß Prynne hatte eine Handarbeit im Schoß, und Mr. Boyce Malvery las die Times. Gelegentlich sah er zu den beiden Damen hinüber und las ihnen Abschnitte aus der Zeitung vor, die sie interessierten.

Atherton verkehrte häufig in dieser Familie. Als er eintrat, hatte er, wie schon so oft, den Eindruck, daß die Leute in diesem Raum ausgezeichnet zu der alten Einrichtung paßten. Mrs. Malvery war eine große, aufrechte Frau, die sich trotz ihrer Jahre sehr gut gehalten hatte. Sie hatte einen energischen Blick, und ihr schwarzes Haar zeigte nur wenige graue Fäden. Miß Prynne war ein hübsches junges Mädchen, sah aber etwas scheu und furchtsam aus. Sie hatte ein stilles und zurückhaltendes Wesen. Und Boyce Malvery trug einen schwarzen Gehrock, der eher der Mode der neunziger Jahre als der heutigen entsprach. Er war etwa vierzig Jahre alt, hatte schon seit langem einen kahlen Kopf und hielt sich nicht ganz gerade. Eine ungesunde, graue Gesichtsfarbe ließ seine vertrockneten Züge noch älter erscheinen. Er war ein ruhiger, reservierter und kluger Mann. Niemand wußte das besser als Atherton.

Der Beamte fühlte sich hier zu Hause und begrüßte die Anwesenden in familiärer Weise. Dann nahm er auf dem Stuhl Platz, den ihm Mrs. Malvery anbot.

»Sie kommen gerade recht zu einer Partie Whist, Captain Atherton«, sagte sie. »Ich war schon in Sorge, ob Sie überhaupt erscheinen würden.«

Der Kommissar lächelte und sah Boyce Malvery an.

»Ich weiß nicht, ob das heute abend gehen wird, denn ich komme eigentlich in amtlicher Eigenschaft. Die Sache ist nicht besonders eilig und auch nicht geheim, denn morgen früh werden es alle Leute in der Stadt wissen. Aber da es auch Sie angeht, wollte ich es Ihnen doch erzählen. Ich habe Nachrichten über Ihren Vetter erhalten, Boyce.«

Mrs. Malvery ließ ihr Strickzeug in den Schoß sinken. Miß Prynne, die den Kartentisch zurechtsetzen wollte, blieb stehen und warf über die Schultern der alten Dame einen Blick auf Mr. Atherton. Hätten die anderen drei sie in diesem Augenblick angesehen, so wäre es ihnen nicht entgangen, daß sie plötzlich blaß wurde. Aber Mrs. Malvery bemerkte gerade zu ihrem Entsetzen, daß sie eine Masche hatte fallen lassen. Atherton sah den Notar an, aber der las noch schnell seinen Artikel in der Times zu Ende. Dann schaute er mit gleichgültigem Gesicht auf.

»Sie haben etwas von ihm gehört?« fragte er in seiner langsamen und etwas näselnden Art. »Das ist ja interessant. Von welchem meiner Vettern sprechen Sie denn eigentlich?«

»Das wissen Sie doch genau! Natürlich von Richard!« Boyce nahm seine Brille ab und legte sie auf die Zeitung.

»Neuigkeiten von Richard? Nun, ich bin sehr begierig.«

»Es ist eine sonderbare Geschichte, aber wir müssen uns damit beschäftigen, denn sie kann sehr ernst werden. Heute abend kam ein gewisser Mr. Blake in mein Büro, der Richard Malvery hier besuchen wollte. Der junge Blake scheint sehr reich zu sein.«

»Natürlich wollte er dumme Streiche mit ihm anstellen, darauf möchte ich wetten«, sagte Boyce.

»Da irren Sie sich. Richard war in Kanada zwei Jahre lang der Partner Blakes, und er kam im vergangenen Februar mit zweitausend Pfund hierher zurück, um seine Schulden zu bezahlen.«

»Dann ist es nicht so verwunderlich, daß er das Ziel seiner Reise nicht erreicht hat«, erwiderte Boyce. »Er wird in London oder Paris steckengeblieben sein und dort das Geld verjubelt haben.«

»Nein, das ist nicht richtig. Richard Malvery war am Abend des 27. Februar hier in Brychester.«

Boyce Malvery erhob sich plötzlich und ließ seine Zeitung auf den Teppich fallen. Der zynische, spöttische Ausdruck war aus seinen Zügen gewichen, und er sah jetzt den Beamten scharf und forschend an.

»Wissen Sie das wirklich bestimmt?«

»Er war an diesem Tage um sechs Uhr abends auf der Post, aber seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört oder gesehen.«

Ein merkwürdiges Schweigen herrschte in dem Raum, so daß plötzlich das Flackern des Kaminfeuers zu hören war. Dann bückte sich Boyce Malvery, hob die Zeitung auf und faltete sie peinlich genau zusammen. Mrs. Malvery wendete sich wieder ihrer Strickerei zu.

Boyce legte die Fingerspitzen zusammen und schaute Atherton prüfend von der Seite an, wie er vor Gericht die Zeugen zu betrachten pflegte.

»Wer ist denn eigentlich dieser Blake?« fragte er dann etwas verbissen.

»Ein eleganter, kluger junger Mensch. Er hat ein großes Vermögen geerbt und ist deshalb nach England gekommen. Jetzt wollte er Richard besuchen; und er ist fest entschlossen, ihn zu finden oder doch wenigstens herauszubringen, was aus ihm geworden ist. Er will jede Summe dafür opfern und hat mir bereits hundert Pfund ausgehändigt. Wer genaue Angaben über Richards Verbleib machen kann, soll sie als Belohnung erhalten. Morgen früh ist die Bekanntmachung in der ganzen Stadt angeschlagen.«

Atherton berichtete, was er sonst noch wußte.

»Richard verstand es nie, mit Geld umzugehen«, sagte Boyce schließlich. »Wahrscheinlich haben andere Leute sein Geld gesehen, sind ihm nachgegangen, als er die Stadt verließ, und haben ihn dann ermordet.«

»Ja, das ist eine ganz einleuchtende Erklärung«, meinte der Polizeikommissar. »Es ist auch meine Ansicht, daß er wahrscheinlich ermordet worden ist.«

Plötzlich hörte man hinter dem Sessel von Mrs. Malvery einen lauten, polternden Fall. Hester Prynne war bewußtlos über den kleinen Tisch gesunken und hatte ihn mit umgerissen. Atherton sprang erschrocken auf, und auch Mrs. Malvery erhob sich.

»Sie ist ohnmächtig geworden!« sagte sie. »Es ist ihr schon in der letzten Zeit nicht gut gegangen. Das arme Kind! Boyce, geh mit Captain Atherton fort und schicke das Mädchen her.«

Boyce Malvery, den der Vorfall offenbar wenig kümmerte, winkte dem Beamten, ihm zu folgen, führte ihn in das Speisezimmer und beauftragte dann das Mädchen, zu seiner Mutter zu gehen.

»Wenn Richard an jenem Abend in Brychester war und niemand ihn gesehen hat«, meinte er dann, »so ist es ziemlich wahrscheinlich, daß er tot ist. Aber wenn das der Fall ist, bin ich der nächste Erbe des Titels.

Ich muß also vor allem Klarheit schaffen. Solange Richard lebte, bestand doch immerhin die Möglichkeit, daß er heiratete und Kinder hatte, die nach seinem Tod natürlich den Titel erbten. Ich muß mich also darüber vergewissern, ob er wirklich tot ist, und ob er nicht eine Witwe und Kinder hinterlassen hat.«

Atherton wandte sich ab, ging zum Büfett und goß sich einen steifen Whisky-Soda ein.

»Ich muß sagen, daß Sie die Sache sehr kalt läßt.«

»Schon möglich. Als Jurist muß man immer kühlen, klaren Kopf bewahren. Ich bin in keiner Weise sentimental veranlagt, das wissen Sie doch. Und ich sage Ihnen ganz offen, daß ich Richard keine Träne nachweine, denn meiner Meinung nach war er ein fauler, unentschlossener, durchtriebener Bösewicht. Wissen Sie, warum Hester Prynne gerade jetzt ohnmächtig wurde?«

»Um Himmels willen, Sie glauben doch nicht etwa –«

»Ich glaube, daß sie sich wie viele andere junge Mädchen in der Gegend in diesen Burschen verliebt hatte. Es ist doch immer so auf der Welt, daß die Frauen sich in die größten Lumpen vergaffen.«

»Nach Blakes Bericht muß sich Ihr Vetter aber gründlich geändert haben. Jedenfalls war es doch ein gutes Zeichen, daß er hierherkam und seine Schulden bezahlen wollte. Miß Prynne tut mir leid, ich hätte nicht in ihrer Gegenwart sprechen sollen. Ich ahnte allerdings nicht das geringste.«

»Machen Sie sich nur keine Sorgen! Die kleine Ohnmacht wird ihr nicht schaden. Haben Sie eigentlich schon an diesen Clent gedacht? Wenn ein Mord vorliegen sollte –«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen.«

»Wenn Judah Clent nicht gerade auf See gewesen wäre, als Richard durchbrannte, hätte er ihn schon damals kaltgemacht. Er hat das nicht nur einmal gesagt, und Judah Clent hält sein Wort. Ein gewisser Verdacht fällt natürlich auf ihn.«

»Das habe ich Blake auch schon gesagt. Morgen früh werde ich mich gleich an die Arbeit machen.«

Boyce nickte und warf den Rest seiner Zigarette fort. »Kommen Sie jetzt mit mir zum ›Kardinalshut‹. Ich möchte diesen Blake sofort kennenlernen. Sie müssen mich ihm vorstellen.«

 


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